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Juan Gabriel Vasquez: "Die Gestalt der Ruinen"
Ein folgenreicher Mord

Juan Gabriel Vasquez ist einer der bedeutendsten Autoren Kolumbiens. In seinem neuen Roman erzählt er von der Ermordung des liberalen Politikers Jorge Eliécer Gaitàn 1948 in Bogota. Auf die Tat folgte ein zehnjähriger barbarischer Bürgerkrieg mit vielen Toten. Vasquez rollt diesen Fall neu auf.

Von Walter van Rossum | 23.04.2019
Buchcover: Juan Gabriel Vasquez „Die Gestalt der Ruinen“
Vasquez' neuer Roman - ein Meisterwerk der politischen Literatur (Buchcover: Schöffling & Co. Verlag, Foto: Tobias Wenzel)
Am 9. April 1948 wurde in Bogota der liberale Politiker Jorge Eliécer Gaitàn auf offener Straße von einem fanatischen Reaktionär ermordet. Am Tag seiner Ermordung wurde Bogota zur Ruine, 3000 Menschen starben. Daran schloss sich ein zehn Jahre dauernder grausamer Bürgerkrieg an – weshalb die Dekade in Kolumbien auch La Violencia – "Die Gewalt" – genannt wird.
Vasquez zieht den Leser Seite um Seite in die verstörende kolumbianische Geschichte der letzten hundert Jahre hinein. Ein politisch-historisches Epos über eine von barbarischer Gewalt zerrüttete Gesellschaft. Davon erzählt Vasquez, um sich dieser Geschichte zu stellen. Er erzählt von sich selbst und wie er dazu kam, diesen Roman – Die Gestalt der Ruinen – zu schreiben.
Wenn der Ich-Erzähler seine persönlichen Lebensumstände erwähnt, von den Lehr- und Wanderjahren in verschiedenen europäischen Städten berichtet, dann stimmt das mit der realen Biographie des kolumbianischen Schriftstellers überein. Was auch immer sonst in dem Roman fiktiv sein mag, es geht um ein reales Projekt, nämlich, dass er nach Jahrzehnten der Wanderschaft 2012 nach Bogota zurückgekehrt sei, um sich den Realitäten seiner Heimat zu stellen.
Der Roman beginnt damit, dass Vasquez einen gewissen Carlos Carballo kennenlernt. Von Anfang an bedrängt Carballo den Schriftsteller, ein Buch über die Ermordung Gaitáns im Jahre 1948 zu schreiben.
"Der 9. April ist ein schwarzes Loch in der kolumbianischen Geschichte, mag sein, aber er ist noch vieles mehr: eine einzelne Tat, die ein ganzes Land in einen blutigen Krieg gestürzt hat; eine kollektive Neurose, deretwegen wir einander über ein halbes Jahrhundert lang misstraut haben. All die Zeit, die seit dem Verbrechen vergangen ist, haben wir Kolumbianer erfolglos zu begreifen versucht, was an jenem Freitag 1948 geschehen war und viele haben daraus einen mehr oder weniger ernsten Zeitvertreib gemacht und all ihre Energien damit verbraucht."
So einer scheint auch Carballo zu sein, der behauptet, über Informationen zu verfügen, die den Mord in einem ganz anderen Licht zeigten als die offizielle Darstellung. Der zufolge handelte es sich um die Tat eines aufgehetzten Einzeltäters, der anschließend von der wütenden Menge gelyncht worden sei. In Carballos Sicht der Vorgänge steckten dunkle Mächte – höhere Kreise – hinter dem Verbrechen.
Vasquez muss sogleich an die diversen Verschwörungstheorien über die Ermordung John F. Kennedys denken. Mehr aus Höflichkeit und freundschaftlicher Verpflichtung hört er Carballo eine Weile zu, sichtet Dokumente und besichtigt Schauplätze. Doch nicht Wahrheit und Gegenwahrheit sind das Problem, sondern anfangs wehrt er sich gegen diese Sorte Spekulation, die nach Verschwörungstheorien klingt.
Verschwörungstheorien
Der Begriff "Verschwörungstheorie" funktioniert heute als Schimpfwort, dabei tun die sogenannten Realisten gerne so, als sei Verschwörungstheorie eine klar definierte Textsorte, die sich umgehend als Groteske entlarve. Doch eine solche Textsorte gibt es nicht. Es gibt gute und es gibt schlechte Verschwörungstheorien. Ferner behauptet man, Verschwörungstheorien dienten naiver Vereinfachung. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Wenn Lee Harvey Oswald nicht der Mörder Kennedys gewesen sein kann, dann wird es erst kompliziert. Denn die "wahren" Hintergründe der Tat bleiben im Dunkel. Verschwörungstheorien werden unvermeidlich, wenn die Realität der Realisten erodiert. Der Prozess ist im vollen Gang. Und Vasquez durchlebt den Verlust des Realismus in seinem Roman.
Sein Herausforderer Carballo verstrickt ihn immer tiefer in die Abgründe der kolumbianischen Geschichte. Er nötigt Vasquez, sich mit einem weiteren Mord an einem liberalen Politiker zu befassen. 1914 fiel General Rafael Uribe Uribe einem Anschlag zum Opfer, der in etlichen Details an die Ermordung Gaitáns 30 Jahre später erinnert. Was sich für uns wie ein Thriller liest, wird vermutlich bei einem kolumbianischen Leser ganz andere Erschütterungen auslösen.
"Ich weiß nicht, seit wann die Vergangenheit meines Landes für mich unverständlich und dunkel, ein Terrain der Finsternis zu werden begann, kann mich nicht an den genauen Moment erinnern, an dem all das, was ich für verlässlich und vorhersehbar gehalten hatte – der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, dessen Sprache ich spreche und dessen Bräuche ich kenne, der Ort, in dessen Vergangenheit man mich in der Schule und an der Universität unterrichtet hat, dessen Gegenwart ich mir zu interpretieren angewöhnt habe und zu verstehen vorgebe – sich in einen Ort der Schatten verwandelt hat, aus dem entsetzliche Kreaturen hervorspringen, sobald wir nicht aufpassen."
Die Kunst des Zwielichts
Der Roman, den Vasquez dann schließlich schreibt – das Buch mit dem Titel Die Gestalt der Ruinen – ist weit mehr und etwas anderes als eine neue Darstellung der Morde an Uribe und Gaitán. Es ist die Geschichte einer unvollendeten Konversion. Denn es ist keineswegs ausgemacht, dass Vasquez vollkommen überzeugt wäre von Carballo Sicht der Dinge. Er tauscht nicht die eine Wahrheit gegen eine andere aus. Dann hätte er ja eine historische Abhandlung verfassen können. Es geht um die Annäherung an das Zwielicht.
Jede Version des Mordes an Gaitán ist nur eine andere Geschichte mit anderen Leerstellen. Und jede Version der Geschichte ist nur ein neues Argument in einem alten Krieg. Das Massiv des Realen erodiert, die Evidenzen des Realismus greifen nicht mehr, die komfortable Benutzeroberfläche der Moderne funktioniert einfach nicht. Wir werden wohl alle Verschwörungstheoretiker werden müssen. Oder Romanciers. Beide verzichten auf Wahrheit, beide sind Experten in Sachen improvisierter Wahrheit.
Wenn Vasquez uns hätte sagen wollen, dass er der offiziellen Version der Geschichte misstraut, dann hätte er es sagen können, im Übrigen hat er in seinen Essays kein Geheimnis aus seinen politischen Standpunkten gemacht. Und die Plattitüden eines postmodern hochtoupierten Relativismus interessieren keinen Menschen mehr. 500 Seiten lang erzählt Vasquez davon, warum ihm das Zwielicht, gegen das er lange angekämpft hatte, wie eine Errungenschaft erscheint.
Es geht nicht um eine politische Stellungnahme, um eine nicht mal neue – und schon bald überholte – historische Wahrheit. Es geht darum, sich seine Geschichte anzueignen, das Erbe anzunehmen, um es ausschlagen zu können. Kein Mensch hat je den Nationalsozialismus verstanden. Es genügt nicht, Dutzende Bücher über jene Jahre zu lesen, man muss sich in ihnen wiederfinden.
Ein Meisterwerk der politischen Literatur
Um ehrlich zu sein, den Namen Vasquez hatte ich mal gehört, doch keines seiner Bücher gelesen. Von südamerikanischen Verhältnissen im Allgemeinen habe ich herzlich wenig Ahnung und von Kolumbien im Besonderen schon gar nicht. Und obwohl Vasquez uns lange im Unklaren lässt, worauf der Roman hinauslaufen könnte, habe ich von Anfang an das Vermögen aller großen Literatur wiedergefunden, eine Geschichte, die in uns entrückten Gegenden und in vergangenen Zeiten spielt, so zu erzählen, als offenbarte sich hier unsere eigene Realität. Ein Meisterwerk der politischen Literatur, die von politischen Realitäten erzählt, ohne sie politisch aufzulösen.
Jorge Gabriel Vasquez: "Die Gestalt der Ruinen"
aus dem Spanischen von Susanne Lange
Schöffling & Co., Frankfurt am Main. 525 Seiten, 26 Euro.