Dienstag, 19. März 2024

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Judaist Peter Schäfer
"Wir werden Antisemitismus nie endgültig loswerden"

Die Rolle der Religion bei der Entstehung des Antisemitismus wird aus Sicht des Judaisten Peter Schäfer unterschätzt. Der „Antagonismus von Christen und Juden“ sei 2.000 Jahre alt und wirke bis heute, sagte Schäfer im Dlf. Es ist das erste Interview des ehemaligen Direktors des Jüdischen Museums Berlin seit seinem Rücktritt.

Peter Schäfer im Gespräch mit Andreas Main | 28.09.2020
Peter Schäfer, ehemaliger Direktor des Jüdischen Museum Berlin, legt eine "Kurze Geschichte des Antisemitismus" vor
Peter Schäfer, ehemaliger Direktor des Jüdischen Museum Berlin, legt eine "Kurze Geschichte des Antisemitismus" vor (dpa / Wolfgang Kumm)
Peter Schäfer ist einer der renommiertesten Judaisten weltweit. Er ist Jahrgang 1943 und hat lange gelehrt und geforscht, unter anderem in den USA an der Princeton University. Er war von 2014 bis 2019 Direktor des Jüdischen Museums Berlin. Nach heftigen Konflikten – die Ausrichtung des Hauses betreffend – ist Peter Schäfer im Juni 2019 zurückgetreten. Seitdem hat er keine Interviews gegeben.
Drei Tage nach dem Rücktritt hat er begonnen, ein seit längerem geplantes Buch zu schreiben. Diesen Schreibakt bezeichnet Schäfer als "kathartischen Akt". Es hat den Titel: "Kurze Geschichte des Antisemitismus".
Aus Sicht von Andreas Main, Redakteur der Dlf-Redaktion "Religion und Gesellschaft", ist es "ein extrem sachliches Buch, unaufgeregt durch und durch. Ein Buch, das spannender ist als manch ein Krimi". Es ist ein Buch, das mehr als 2.000 Jahre umspannt und bis in die Gegenwart reicht. Das Gespräch mit Peter Schäfer konzentriert sich auf Religionsfragen und auf die Wurzeln des Antisemitismus.

Andreas Main: Herr Schäfer, ich lasse Sie jetzt mal am Anfang raten oder einen Tipp abgeben. Was vermuten Sie: Was fand ich besonders spannend?
Peter Schäfer: Die Gegenwart.
Main: Warum glauben Sie das?
Schäfer: Weil das ja nun ein Thema ist, das die Gegenwart sehr betrifft. Und ich hätte mir gedacht, dass ein Journalist zunächst mal den Teil liest, also die Gegenwart.
Main: Also, hinten?
Schäfer: Hinten anfängt, ja.
Ab wann kann man von Antisemitismus reden?
Main: Ich habe vorne angefangen. Das hat mich besonders in den Bann gezogen und erschreckt: diese Kontinuität des Antisemitismus über Jahrtausende hinweg. Also, dass es begonnen hat in vorchristlicher Antike, das war für mich besonders spannend. Was fanden Sie besonders spannend beim Schreiben?
Schäfer: Also, ich fand das auch spannend. Das war nicht ganz neu für mich. Aber es gibt ja auch eine wissenschaftliche Diskussion, die damit zusammenhängt. Es wird ja gefragt: ‚Ab wann kann man von Antisemitismus reden?‘ Da wird oft gesagt: ‚Das, was wir heute Antisemitismus nennen, beginnt eigentlich mit dem Christentum, dem Neuen Testament.‘ Und dann wird weiterhin gesagt: ‚Wir müssen mit dem Begriff aufpassen. Antisemitismus ist ein absurder Begriff, der ja überhaupt keinen Sinn macht. Den sollten wir sowieso vermeiden und sollten den schon gar nicht übertragen auf die Antike und auch nicht aufs Neue Testament.‘
"Antisemitismus beginnt in vorchristlicher Antike"
Main: Da wird dann eben von Antijudaismus gesprochen.
Schäfer: Und deswegen redet man dann von Antijudaismus. Ich habe mich ja dafür entschieden, einen Begriff zu nennen. Wir können das auch gerne noch genau diskutieren. Und mir war es besonders wichtig zu zeigen, dass das, was wir heute Antisemitismus nennen, nicht erst mit dem Christentum begann, sondern eben früher in der griechisch-römischen Antike.
Main: Und es eben auch nicht begonnen hat mit dem Nationalsozialismus oder einem rassistischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts.
Schäfer: Absolut. Das ist der Punkt. Ich versuche, Antisemitismus als ein Phänomen zu beschreiben, das schon in der Antike beginnt und das sich dann über viele Jahrhunderte hinweg entwickelt und das sich immer mehr – das klingt fast zu positiv – ‚anreichert‘. Sozusagen immer mehr Elemente aufsaugt, in sich aufsaugt, aufnimmt und auf diese Weise weiterentwickelt, aber eben niemals die alten Elemente abstößt, sondern sie beibehält und damit sozusagen zu einer immer tödlicheren Bombe wird, die dann ihren Höhepunkt – ja, in der Tat – mit dem rassistischen Antisemitismus in der Neuzeit gefunden hat.
"Wir können das Kind auch von Anfang an Antijudaismus nennen"
Main: Warum lehnen Sie den Begriff Antijudaismus ab?
Schäfer: Ich lehne es ab, eine Unterscheidung zu machen zwischen Antijudaismus im Neuen Testament, im Christentum - und dann erst später in der Neuzeit mit dem rassistischen Antisemitismus den Begriff Antisemitismus zu erlauben sozusagen. Das lehne ich ab. Ehrlich gesagt ist es mir egal. Wir können auch das Kind von Anfang an Antijudaismus nennen. Aber was ich möchte, ist, dass wir für das Kind einen einheitlichen Namen haben, um nicht zu suggerieren, dass es etwas ganz Anderes geworden ist.
Main: Und etwas Schlimmeres geworden ist.
Schäfer: Und etwas Schlimmeres geworden ist. Es war immer von Anfang an etwas ganz Schlimmes.
"Historische Forschung ist auf dem Auge der Religion blind"
Main: Es gibt noch einen weiteren elektrisierenden Punkt in Ihrem Buch aus meiner Sicht. Sie sagen, dass die klassische moderne Antisemitismusforschung immer die Rolle der Religion beim Entstehen und bei der Dynamisierung des Antisemitismus zu niedrig eingeschätzt hat. Wie erklären Sie sich das, dass dieser Aspekt, die Rolle der Religion, seit einigen Jahrzehnten weniger wahrgenommen wird bei diesem Thema?
Religionswissenschaftler Michael Blume: "Antisemitismus steckt ganz tief in unserem Denken"
Wer Antisemitismus nur bei anderen sucht, habe das Problem nicht verstanden, sagte Michael Blume im Dlf. Der Religionswissenschaftler versteht den Antisemitismus als eine Ersatzreligion.
Schäfer: Also, zugespitzt würde ich sagen: Die moderne historische Forschung, nicht nur die moderne Antisemitismusforschung, ist aus meiner bescheidenen Sicht schon lange auf dem Auge der Religion blind. Zu blind!
Sie möchte sich darauf zurückziehen, dass mit Aufklärung, Revolution, Französischer Revolution und allem, was dazugehört, die Religion ja doch sowieso soweit zurückgedrängt wurde, dass man von einem Faktor Religion als Faktor im Antisemitismus eigentlich gar nicht mehr sprechen könne.
Das ist eine ganz, ganz große Fehleinschätzung. Der Faktor Religion ist sogar, mit dem Christentum beginnend, der ganz entscheidende Faktor, der sich immer durchgehalten hat und der sich auch durchgehalten hat, gerade in Zeiten, wo die Religion keine besondere Rolle gespielt hat.
Main: Bis heute?
Schäfer: Bis heute.
"Die Juden als die Gottesmörder"
Main: Welche Erkenntnisse gehen verloren, wenn religiös-ideologische Aspekte im Kontext Antisemitismus nicht gesehen werden?
Schäfer: Ja, da geht zunächst mal das verloren, was in der Antike beginnt. Da beginnt ja der Antisemitismus als ein Phänomen, das die Juden abstempelt als anders, als ‚wir‘ - also nicht zivilisierbar, nicht einbeziehbar in ‚unsere‘ Ökumene und ‚unsere‘ griechisch-römische Kultur und vor allen Dingen letztlich die ‚Menschenfeinde und Menschenhasser‘ schlechthin.
Das beginnt in der Antike – vor dem Christentum. Im Christentum kommt dann dazu das religiöse Element, nämlich die ‚Juden als die Jesusmörder, als die Gottesmörder, als diejenigen, die eigentlich immer der Stachel im Fleisch unseres Christentums gewesen sind, die wir nie losgeworden sind und die wir auch nie loswerden können sozusagen. Und deswegen begleiten sie uns bis heute.‘
Von daher rührt ein Antagonismus, der sozusagen in der Sache angelegt ist. Und das ist etwas, das mit dem Christentum beginnt und sich bis heute durchzieht.
"Hass auf Juden kombiniert mit stillschweigender Bewunderung"
Main: Die meisten Forscher und Forscherinnen würden wahrscheinlich im Gegensatz zu Ihnen auch schon in der Antike die sozialen Faktoren stärker betonen.
Schäfer: Die sozialen Faktoren spielen in der vorchristlichen Antike eine ganz geringe Rolle. Zum Beispiel das wichtige Thema der Neuzeit, Wirtschaft, spielt überhaupt keine Rolle, überhaupt nicht.
Nein, auch in der vorchristlichen Antike ist es auch die Religion - aber in einem ganz anderen Sinne. Da ist es die Religion der Juden als die Religion, die eigentlich nicht uninteressant ist, die mit ihrem Monotheismus und mit ihren ethischen Maßstäben etwas ist, das uns sogar letztlich überlegen sein könnte.
In der vorchristlichen Antike kombiniert sich der Hass auf die Juden als diejenigen, die die ewigen Menschenfeinde sind, mit einer stillschweigenden Bewunderung für die Juden, die irgendwie uns Nicht-Juden ethisch überlegen sind. Und das ist ein Gebräu, das schon sehr wirksam, bis heute wirksam geblieben ist.
"Paulus macht den entscheidenden Schritt"
Main: Dann, ein paar Jahrhunderte später, wird in Nazareth ein Jude geboren, der als Wanderprediger Geschichte schreibt. Oder anders: Seinen Anhängern gelingt es, die Welt zu verändern. Auch die waren allesamt anfangs Jüdinnen und Juden. Es bilden sich zwei Strömungen heraus. Die einen betonen eher die jüdischen Wurzeln. Das ist eher eine Minderheit. Die anderen drängt es in die weite Welt - mit anderen religiös-kulturellen Wurzeln. Das verändert diese Bewegung. An welchem Punkt dieses frühen Christentums, wenn wir es so nennen wollen, schlägt diese Veränderung um in Abgrenzung, Polemik, Aggression?
Schäfer: Der entscheidende Schritt, der hier getan wurde, ist der des Paulus. Paulus war sicherlich nicht der Einzige, aber er war der, der den entscheidenden Schritt getan hat. Das wichtigste Dokument der Paulusbriefe, wo sich das ganz klar nachvollziehen lässt, ist der Galaterbrief.
Religionsgeschichte – kontrovers: "Zwei Götter im jüdischen Himmel"
Das Judentum gilt als monotheistische Religion. Dem hält der Judaist Peter Schäfer entgegen, dass sich die "Idee von einem zweiten Gott im Kern des Judentums festgesetzt" habe. Er sagte im Dlf, das habe "enorme Auswirkungen" darauf, wie Juden und Christen sich heute wechselseitig betrachten.
Da ist ganz klar entschieden von Paulus: Heiden, die sich der Jesusbewegung anschließen wollen, die zu uns kommen wollen und Jesus anerkennen wollen, als den Messias - diese Heiden müssen nicht mehr beschnitten werden. Und diese Heiden müssen nicht mehr die Speisegesetze beachten. Da gibt es den berühmten Satz, den ich nicht wörtlich parat habe – aber sinngemäß: ‚Egal, ob beschnitten oder nicht beschnitten, es spielt keine Rolle, sondern entscheidend ist die neue Schöpfung durch Jesus Christus.‘
In dem Moment, in dem Paulus die Heiden einbezieht in diese Jesus-Bewegung und von ihnen nicht mehr verlangt, beschnitten zu werden, öffnet er natürlich in einer immensen Weite. Gleichzeitig aber setzt er sich ab von den Juden, ich sage mal, die ethnischen Juden, die sich dieser Bewegung nicht anschließen möchten und die Juden bleiben wollen, so, wie sie es vorher gewesen sind.
In dem Moment entsteht dieser Antagonismus, den das Christentum nie losgeworden ist und von dem ich behaupte, den auch nie loswerden wird. Bei Paulus ist es ja so gewesen, dass er erwartet hat, dass die Zeit bald vorbei ist, dass das Ende bald kommt, und dass dann auch die Juden, die jetzt sich uns nicht unmittelbar anschließen wollen, dass dann auch die bekehrt werden. Aber diese Erwartung ist ja bekanntlich nicht eingetroffen. Und dieser Gap, diese Kluft, die besteht bis heute. Und da ist der Keim gelegt, der Kern gelegt dieses Antagonismus zwischen Judentum und Christentum.
"Göttlichkeit Jesu verschärft jüdisch-christlichen Antagonismus"
Main: Sie liefern auf zirka 60 Seiten eine Abrechnung mit dem, was als ‚Alte Kirche‘ bezeichnet wird, also von Jesus und dem vermeintlichen Urchristentum bis zur Reichskirche des 4. Jahrhunderts. Damals gab es kluge theologische Debatten, aber auch krassen Judenhass, etwa bei Ambrosius, einem großen Kirchenlehrer. Also, ich beschäftige mich seit 40 Jahren mit diesen Fragen und trotzdem habe ich den Eindruck, dass es bei Ihnen richtig ans Eingemachte geht. Denn es sind ja nicht irgendwelche durchgeknallten Autoren, Antisemiten unserer Tage, sondern es sind kluge Köpfe, von denen Sie da schreiben …
Schäfer: … und die stehen in einer bestimmten Konsequenz. Im Johannesevangelium, das ist ja der erste Schritt zur Göttlichkeit Jesu, dass sich da Jesus als der Sohn des göttlichen Vaters offenbart. Da beginnt das, was wir dann später Christologie nennen. Alles danach, bis zum Konzil von Nicäa, 324 / 325 nach Christus, geht ja genau darum: Wie verhält sich Jesus zu Gott, zum Vater? Der Sohn zum Vater?
Dieses Thema der Göttlichkeit ist genau das Thema, dem jene Juden, die Juden bleiben wollten und sich dieser neuen Bewegung dieses Jesus nicht anschließen wollten, nicht zustimmen konnten. Die sagen im Johannesevangelium: ‚Was soll denn dieser Quatsch? Wir wissen doch alle, dass du der Sohn von Josef und Maria bist. Und jetzt schwafelst du da von deinem Vater im Himmel und dem göttlichen Vater.‘ Da wird der Konflikt verschärft. Der wird dadurch natürlich immer schärfer, je mehr die Göttlichkeit Jesu in den Vordergrund tritt.
Dreifaltigkeit Gottes: Trinität als Politikum
Die christliche Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes sei "hochpolitisch und brisant", sagte der Historiker Michael Wolffsohn im Deutschlandfunk. Im Islam werde die Trinität als "Vielgötterei" angesehen. Der jüdischen "Polemik" gegen die Lehre von der Dreifaltigkeit hält Wolffsohn entgegen, es gebe einen "breiten gemeinsamen ethischen und theologischen Grundstock".
Main: Auch, wenn es in dieser Sendung niemals um Bekenntnisse geht. Ich muss Sie das jetzt fragen. Sie sind selbst Christ. Sie sind Katholik. Vor diesem Hintergrund, können Sie da Kirchenmitglied bleiben?
Schäfer: Ich kann Kirchenmitglied bleiben und ich bin auch Kirchenmitglied geblieben. Aber wir haben hier ein Problem in der Kirche. Das geht jetzt aber natürlich auch in die Frage über, Herr Main, wie das sich weiterentwickelt hat in die Gegenwart hinein. Da wird das sozusagen noch viel breiter und aufregender.
Main: Ja, aber wenn es im Kern beim Christentum um die Abgrenzung von Judentum geht und das Christentum im Kern antijüdisch ist, dann ist das schon eine Entscheidung, Christ zu bleiben.
Schäfer: Ja, da haben wir ein gewaltiges Problem, ja.
"Man kriegt schnell Etiketten aufgeklebt"
Main: Peter Schäfer, Sie haben dieses Buch geschrieben, nachdem Sie nicht mehr Direktor des Jüdischen Museum sein konnten. Viele haben Sie fallengelassen. Wir wollen hier keine alten Wunden aufreißen, aber das Sitzen zwischen Stühlen sind Sie gewohnt. Sie hatten es mit Kreisen zu tun, denen Sie nicht pro-israelisch genug sind. Es wird Leser geben, denen Sie zu pro-jüdisch und zu anti-christlich sind. Wie fühlt sich das an in diesem Terrain der Widersprüche?
Schäfer: Also, da fühle ich mich ganz wohl, ehrlich gesagt. Ja, das ist genau richtig formuliert. Es geht ja nicht um pro-jüdisch und pro-israelisch und pro-christlich und anti-christlich. Es geht ja hier letztlich um historische Fragen, historische Entwicklungen, die ich nach bestem Wissen und Gewissen versuche, historisch zu beantworten. Damit kriegt man dann schnell Etiketten aufgeklebt. Aber ich glaube, dass diese Etiketten letztlich nicht sehr hilfreich sind.
Jüdisches Museum Berlin: Direktor Peter Schäfer nach Kritik zurückgetreten
Nach massiver Kritik ist Peter Schäfer als Direktor des Jüdischen Museums zurückgetreten. Der ausgewiesene Judaist sei keinesfalls jemand, der eine antiisraelische Kampagne betrieben habe, sagte Kulturexperte Carsten Dippel im Dlf. Doch man müsse fragen, warum das Museum einige Dinge zugelassen habe.
Main: Aus der Jesusbewegung wird durch den Christusglauben eine neue Religion, dann die Kirche. Welche Entwicklung in den ersten Jahrhunderten sollte Juden sozial und rechtlich besonders zum Nachteil gereichen?
Schäfer: Je stärker das klar war: die Göttlichkeit Jesu. Das war dann sozusagen gebongt mit dem Konzil von Nicäa und den weiteren Konzilien.
Aber auch die Entwicklung des Christentums zur anerkannten, allgemein anerkannten Religion und schließlich zur Staatsreligion. In dem Moment, in dem das Christentum Staatsreligion war, wird das Problem, das wir eben diskutiert haben, ja in den Staat hineinverlegt. Ein Staat, der sich christlich versteht, muss ja auch dann seine Machtmittel entsprechend einsetzen. Die staatliche Politik wird dann auch letztlich antijüdisch. Also, da schlagen sich dann solche Dinge in konkrete Gesetzgebung um. Dürfen Juden in staatliche Ämter? Dürfen Juden Christinnen heiraten? Und so weiter. Da wird das vorher überwiegend Religiöse in die Politik ausgeweitet. Und damit ist die Sache dann natürlich dramatisch zugespitzt.
"Im Islam waren Juden und Christen Schutzbefohlene"
Main: Dann, ein paar Jahrhunderte später, kommt eine weitere Religion auf, die auch im Judentum verwurzelt ist - ebenso im Christentum. Sie sprechen von der "neu-alten Religion". Gemeint ist der Islam. Was ist das Jüdische am Islam?
Schäfer: Also, zunächst mal: ‚neu-alt‘ deswegen, weil sich ja der Islam auf Abraham beruft. Auch die Juden berufen sich auf Abraham - auch die Christen. Abraham steht ja noch vor der eigentlichen Volkswerdung des Judentums. Und deswegen alt-neu.
Der Islam sagt: ‚Wir greifen zurück auf Abraham und tun das, was ihr Juden und ihr Christen letztlich falsch gemacht habt. Ihr habt euch weiterentwickelt und in falsche Richtungen weiterentwickelt. Wir beziehen uns wieder auf den ursprünglichen Abraham zurück.‘ Das ist der entscheidende Punkt. Von daher stehen - für den Islam - sowohl die Juden als auch die Christen dem Islam als Buchreligion nahe, aber sie sind eben überholt, weil sie in die falsche Richtung gegangen sind. Das führt dann zu Auseinandersetzungen im Islam, im Koran vor allen Dingen schon mit Judentum und Christentum. Wobei man im Koran - ich habe ja, wie ich glaube, die wichtigsten Stellen analysiert - deutlich sehen kann, dass beide oft gemeinsam gemeint sind, Juden und Christen. In vielen Koranstellen werden beide gemeinsam angesprochen, Juden und Christen. Und dass aber, wenn der Koran stärker differenziert, die Juden schlechter wegkommen als die Christen. Das kann man deutlich sehen.
Main: Es entsteht aber dennoch bei Ihnen das Gesamtbild, dass es Juden in christlichen Einflussbereichen deutlich schlechter ging als in jenen Territorien, wo sich der Islam schnell ausbreitete. Wie begründen Sie diese These?
Schäfer: Das hängt damit zusammen, dass dann in der islamischen Gesetzgebung sehr früh, von Anfang an, der Grundsatz der Dhimma eingeführt wurde, nämlich des Schutzes. Die Anhänger der Buchreligion - Juden und Christen - waren Schutzbefohlene.
Main: Dhimmis.
Schäfer: Die beschützt werden mussten und beschützt werden sollten.
Main: Aber rechtlich nicht gleichgestellt waren.
Schäfer: Rechtlich nicht komplett gleichgestellt waren, aber innerhalb dieses sozusagen Vertragsgeflechtes der Schutzbefohlenen auch bestimmte Rechte hatten und die niemals – das ist der Unterschied –, niemals wie im christlichen Mittelalter willkürlich und beliebig behandelt werden konnten. Denn im Mittelalter gab es diese Rechtsgrundlage nicht. Die war nicht vergleichbar mit der des Islam. Das heißt, im Islam waren die Juden rechtlich sehr viel bessergestellt als die Juden später im christlichen Mittelalter.
"Der Islam ist nicht so antijüdisch wie das Christentum"
Main: Empfehlen Sie also Islamkritikern christlicher Provenienz, genauer hinzuschauen und nicht immer nur auf die Judenfeindlichkeit der Muslime in den Anfängen zu zeigen?
Schäfer: Absolut. Erstens genauer hinzuschauen, zweitens mit dem Koran anzufangen und sich nicht darauf zurückzuziehen, dass es ein, zwei Koranverse gibt, wo man vielleicht etwas Böses, Antijüdisches rauslesen könnte, die sehr umstritten sind. Und sich auch nicht darauf zurückzuziehen, dass natürlich im späteren Islam die Sache sich auch weiterentwickelt und dann auch sehr wohl antijüdische Elemente hineinkommen können mit starken politischen Folgen, schlimmen Folgen für die Juden. Aber das hat nichts damit zu tun, dass der Islam als Religion nicht in dem starken Sinne antijüdisch ist wie das Christentum.
Main: Peter Schäfer, lange haben Sie in Princeton geforscht und gelehrt. Dann waren Sie lange Direktor des Jüdischen Museums. Wir springen jetzt von der Antike und der Spätantike in die Gegenwart. Als Direktor des Jüdischen Museum mussten Sie sich auch mit Antisemitismus in unseren Tagen beschäftigen. Welche Spielart des Antisemitismus macht Ihnen heute am meisten Sorgen?
Schäfer: Es ist die Mischung. Es ist alles das, was zusammenkommt und in dieser Bündelung auch nicht verschwindet.
Main: Am Ende Ihres Buches sprechen Sie im Zusammenhang mit Antisemitismus von einer vielköpfigen Hydra, deren Köpfe bisher nicht abgeschlagen werden konnten. Sie nennen es selbst eine deprimierende Analyse, was Sie vorlegen. Wie kommen wir raus aus der Depression, damit es uns gemeinsam - auch bei Meinungsverschiedenheiten - gelingt, der Antisemitismus-Hydra doch den Kopf abzuschlagen? Oder: dass es ihr an den Kragen geht?
Konflikte um Jerusalem: "Religion ist potenziell gefährlich"
Juden, Christen und Muslime erheben Anspruch auf Jerusalem. Das führt oft zu Gewalt. Peter Schäfer, Direktor des Jüdischen Museums Berlin, plädiert für eine Unterordnung der Religion. Religionsführer müssten "das Primat der demokratischen Rechtsordnung anerkennen", sagte Schäfer im Dlf.
Schäfer: Ja, das ist eigentlich die Krux. Das ist das Problem. Wir wollen ja, dass es anders wird. Ein wichtiger Punkt ist, wie Sie gerade sagten, gemeinsam heißt: Juden und Christen, Christen und Juden – gemeinsam. Und wie man heute so schön sagt mit diesem Modewort: ‚auf Augenhöhe‘ versuchen dieses Problem zu benennen und einen Weg aus diesem Dilemma zu finden.
Das heißt aber auch, dass es nicht damit getan ist, dass die eine Seite, die Christen, ständig und immer mehr ritualisierte Schuldbekenntnisse von sich gibt und die andere Seite ständig und immer mehr fordert, es muss juristisch durch stärkere Strafen gegen diesen Antisemitismus vorgegangen werden.
Ich glaube, dass diese beiden Richtungen, auf denen wir uns befinden, uns nicht retten werden davor, uns nicht helfen werden. Ich glaube, dass wir einen Weg finden müssen, wo wir auf Augenhöhe das Problem betrachten und in gegenseitigem, gemeinsamem Verständnis dieses Problems versuchen, Antworten zu finden, Wege zu finden, wie wir diesen Teufelskreis durchbrechen können. Es wird nie die Patentlösung geben – niemals. Ich bin sogar am Ende dieses Buches, nachdem ich es geschrieben hatte, sehr pessimistisch geworden. Denn ich fürchte immer mehr, dass wir dieses Problem endgültig und ein für alle Mal niemals mehr loswerden können.
Main: Peter Schäfer, "Kurze Geschichte des Antisemitismus". 334 Seiten sind Ende August erschienen im Verlag C.H. Beck und kosten 26,95 Euro. Herr Schäfer, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, danke für den Besuch im Studio und für dieses Gespräch.
Schäfer: Danke Ihnen, Herr Main.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Schäfer: "Kurze Geschichte des Antisemitismus"
Verlag C.H. Beck, 334 Seiten, 26,95 Euro.