Samstag, 20. April 2024

Archiv

Judith Hermann: "Daheim"
Neubeginn am Schweinestall

In ihrem Roman "Daheim" erzählt die Schriftstellerin Judith Hermann von einer Frau, die an einem einsamen Ort am Meer ein neues Leben anfängt. Aber das alte Leben ist stets dabei. "Daheim" ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.

Von Christoph Schröder | 02.05.2021
Die Schriftstellerin Judith Hermann und ihr neuer Roman "Daheim"
Die Schriftstellerin Judith Hermann und ihr neuer Roman "Daheim" (Foto: picture alliance/dpa | Hans Punz, Buchcover: S. Fischer Verlag)
Ganz bewusst eröffnet Judith Hermann ihren neuen Roman mit einem Szenario, das sich als eine Reminiszenz an ihre frühen, in den 1990er-Jahren angesiedelten Geschichten lesen lässt. Die im gesamten Buch namenlos bleibende Ich-Erzählerin erinnert sich an eine 30 Jahre zurückliegende Phase ihres Lebens. In einer Zigarettenfabrik ist sie einer vergleichsweise einförmigen Arbeit nachgegangen.
Die bestand darin, darauf zu achten, dass der Tabakstrang schnurgerade in die Maschine einlief. Der biografische Hintergrund der Frau wird nur angedeutet. Aufgrund bestimmter Schlüsselworte wie "Einraumwohnung" lässt sich vermuten, dass die Protagonistin aus Ostdeutschland stammt. Nun lebt sie, wie sie vage angibt, im Westen. Zu Beginn schildert sie die Gleichförmigkeit ihrer Tage, in der sich die minimalen Ansprüche an das eigene Leben, das sich willenlose Treibenlassen in einem Meer des Unspektakulären spiegeln:
"Abends saß ich auf meinem Balkon im fünften Stock. Einer der Vormieter hatte seine Blumenkästen dagelassen. In den Kästen wuchsen Pflanzen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Zarte grüne Stengel mit weißen Blüten, groß wie Streichholzköpfchen. Auf dem Boden lag Kunstrasen, es gab einen Klapptisch und einen einzigen Stuhl, und der Blick ging auf die Ausfallstraße und die Tankstelle raus. Ich mochte diesen Blick sehr."
Ein Tisch, ein Stuhl, eine Schachtel Zigaretten. Mehr ist es nicht. Keine sozialen Kontakte. In der Fabrik wird die junge Frau vom Chef gemaßregelt, weil sie das obligatorische "Mahlzeit" zur Mittagspause verweigert. Die Stimmung, die Judith Hermann in "Daheim" von Beginn an aufbaut, ist von einer untergründigen Bedrohlichkeit geprägt. Denn natürlich fragt man sich, was eine junge Frau in diese Kleinstadt getrieben hat, in der sie ein Leben in stiller Tristesse führt und sich darin sogar ausgesprochen wohlfühlt – und auch, was sie veranlasst, passiv-aggressiv den Grund gegenüber ihren Mitmenschen zu verschweigen.

Assistentin für einen Zaubertrick

Die Ungewissheit darüber ist eine der ersten Lücken, die Judith Hermann in die Biografie ihrer Erzählerin hineinsetzt. Das, was sie nicht verrät, ist das eigentlich Bedeutsame.
Der Rhythmus einer Existenz zwischen Fabrik und Balkon gerät eines Tages ins Stolpern. An jener Tankstelle, die die Ich-Erzählerin von ihrem Balkon aus sieht, wird sie beim Eis holen von einem Mann mit kuriosem Äußeren angesprochen, der sich als Bühnenmagier vorstellt. Er suche, so erklärt er, eine neue Assistentin für einen Zaubertrick. Sie habe genau die richtige Größe und Statur dafür:
"Würden Sie sich das überlegen? Es ist sehr einfach. Sie müssen sich in eine Kiste legen, ich zersäge Sie – zum Schein –, und dann setze ich sie wieder zusammen. Wir können es ausprobieren. Sie kommen mich besuchen, wir probieren es aus."
Sie geht hin und lässt sich zersägen, mit Hilfe eines recht billigen Tricks, versteht sich. Wie in einer klassisch gebauten Novelle ist diese Szene der Wendepunkt. Überspitzt formuliert, ließe sich behaupten, dass jener etwas schäbige Artist in seinen Schlangenlederschuhen und seine abgehalfterte Nummer das Leben der Ich-Erzählerin tatsächlich fragmentarisiert haben. Nun muss sie es für sich neu zusammensetzen.
Der Magier macht ihr das Angebot, ihn und seine Frau auf eine Kreuzfahrtschiffreise nach Singapur zu begleiten. Zögernd sagt sie zu und packt die Koffer. Als sie eigentlich aufbrechen müsste, bleibt sie rauchend auf ihrem Balkon sitzen und lässt das Schiff abfahren. Damit endet die Exposition, die ein Initial für das weitere Geschehen ist. Danach setzt Judith Hermann einen harten erzählerischen und zeitlichen Schnitt, wie überhaupt das Spiel mit der gedehnten und gerafften Zeit zu den Merkmalen von "Daheim" gehört.

Rückzug ans Meer

Ein Sprung von 30 Jahren führt in die Gegenwart. Die Protagonistin hat sich in ein Dorf an der "östlichen Küste", wie sie sagt, zurückgezogen. Ihr Bruder führt dort eine Kneipe, in der sie als Aushilfe anheuert. Sie hat ein kleines Haus gemietet, beginnt, sich mit ihrer Nachbarin Mimi anzufreunden und wird von dem nächtlichen Gepolter eines Marders auf dem Dachboden in ihrem Schlaf gestört. Mimi bestellt daraufhin ihren Bruder Arild zum Haus der Ich-Erzählerin, um den Marder zu fangen:
"Er spannte die Falle vorsichtig, stand auf und rieb sich die Hände an den Hosen ab.
Ich sagte, was mache ich, wenn der Marder drin ist.
Du rufst mich an, ich komme vorbei und nehme ihn mit.
Was machst du dann mit ihm.
Er sah mich eine Weile an und sagte schließlich, ich massakriere ihn."

Keine Stilblüte

Immer wieder finden sich in "Daheim" karge Dialoge, in denen im Subtext etwas komplett Anderes als das Gesagte mitschwingt. Darüber hinaus lassen sich an der Motivkette, in der die Marderfalle steht, die Präzision und die Akribie zeigen, mit der Judith Hermann in ihrem Roman arbeitet. Alles ist miteinander verbunden. Landschaft, Figuren, Erinnerungen und die Dingwelt stehen in einem sich permanent verändernden Beziehungssystem zueinander. An jenem Tag, an dem die etwa 20-jährige Erzählerin damals an Bord des Schiffes nach Singapur gehen sollte, räumte sie zuvor noch ihre Wohnung auf:
"Ich wusch die Kaffeetasse ab, drehte den Boiler aus, machte mein Bett. Ich zog alle Stecker aus den Steckdosen, klappte den leeren Kühlschrank auf, drehte den Hauptwasserhahn zu."
Eine Stilblüte, könnte man zunächst annehmen, denn einen Kühlschrank klappt man eigentlich nicht auf. Erst im Verlauf der Lektüre lässt sich bemerken, wie Hermann durchgehend mit dem Motiv der zuschnappenden Falle arbeitet: Die Kiste, in der der Zauberer sie zersägte, klappte über der Erzählerin zu wie sich später in die Marderfalle in dem einsamen Küstenort immer wieder alle möglichen Tiere verirren sollten. Nicht zuletzt heißt die Kneipe des Bruders "Shell", also "Muschel". Überall stößt man in "Daheim" in das Grenzgebiet zwischen Abkapselungsversuchen und Gefangenschaftsängsten, von Schutzräumen und Freiheitsbedürfnis vor.

Rendezvous mit Tiefkühlware

Das gilt auch für die von außen betrachtet rätselhafte Liebesbeziehung, die sich zwischen der Erzählerin und eben jenem Fallenaufsteller Arild entwickelt. Arild ist eine von mehreren mit wenigen Strichen gezeichneten Figuren des Romans, die dennoch eine scharfe Kontur entwickeln. Er lebt alleine in einem mehr oder weniger auf das Notwendigste reduzierten, leer geräumten Haus. Nebenan befindet sich der riesige Schweinestall mit rund 1000 Tieren, mit denen Arild seinen Lebensunterhalt bestreitet. Das Leiden der eingepferchten Tiere betrachtet Arild mit der gleichen deprimierenden Indifferenz, mit der er die Ich-Erzählerin bei einem Rendezvous in seinem Haus ein Abendessen aus Gefrierware zubereiten lässt.
Doch es ist offensichtlich mehr an und in diesem Arild als sich auf den ersten Blick vermuten lässt. Er ist eben nicht nur ein wortkarger, abgestumpfter Schweinezüchter. Jedenfalls liest die Ich-Erzählerin aus Arilds Lebensumständen eine Verletzlichkeit heraus, die die beiden miteinander zu verbinden scheint:
"Später hält er mir ernst die mittlere Tür des großen Wandschranks auf. Hinter der Tür kommt eine Treppe zum Vorschein, die fünf Stufen hinunter in ein dunkles Zimmer führt. Arilds Schlafzimmer. Ein Zimmer, in dem einer wie Arild sich vor der Welt in Sicherheit bringt."
Raffiniert hat Judith Hermann den Roman durchsetzt mit Brüchen, Leerstellen, Unwägbarkeiten, Inkonsistenzen. So stringent der kurze Roman zunächst durcherzählt zu sein scheint, so wenig darf man sich darauf verlassen, zuverlässige Informationen zu erhalten. Nach ihrem Auszug aus der Einraumwohnung hat die Erzählerin einen Mann namens Otis geheiratet und eine Tochter geboren.

Hang zu Prepper-Allüren

Sobald die Tochter, Ann heißt sie, aus dem Haus war, hat die Erzählerin die gemeinsame Wohnung und den Mann verlassen und hat sich auf den Weg ans Meer gemacht. Was hat sie getan in all den Jahren? Womit hat sie ihre Zeit verbracht? Das bleibt im Dunkeln. Mit ihrem Ex-Mann Otis, der sich zu einem paranoiden Sammler mit dem Hang zu Prepper-Allüren und Verschwörungstheorien entwickelt hat, schreibt sie sich regelmäßig Briefe, in denen sie aus ihrem Alltag erzählt und über ihr Dasein nachdenkt. Sie scheint in der Welt zu schweben, wurzellos und mit fragmentierter Erinnerung. Dem stehen die Menschen, die im Dorf wohnen, in ihrer selbstverständlichen Verbundenheit mit ihrer Umgebung entgegen.
Von ihrem älteren Bruder wird die Protagonistin bei ihrem allmählichen Ankommen in den Strukturen des Dorfes, in dem er offenbar schon längere Zeit wohnt, argwöhnisch beobachtet:
"Nach Hause, sagt mein Bruder gedehnt. Nach Hause. Wie das klingt.
Ganz normal. Es klingt ganz normal.
Fühlst du dich hier zu Hause oder was. Draußen meine ich. In diesem Haus am Polder.
Ich sage, und was wäre wenn."
"Daheim" ist ein starker Roman, wahrscheinlich das beste Buch, das Judith Hermann geschrieben hat. Das hat mehrere Gründe. Die melancholisch-elegische Stimmung, die Hermann in ihren Büchern generell aufbaut, ist hier nicht reiner Selbstzweck, sondern eng verknüpft mit den Schauplätzen, der Psychologie und den Biografien der einzelnen Charaktere. Zudem hat Judith Hermann tatsächlich ein Ensemble aus Figuren geschaffen, die jede für sich hoch interessant ist. Jede Szene, in der sie in unterschiedlichen Konstellationen aufeinandertreffen, wird so aufs Neue überraschend.

Die Falle als Leitmotiv

Eine davon ist Nike, eine junge Frau, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Sie ist eine Ausreißerin, ein Heimkind möglicherweise, ebenfalls eine Unbehauste, die vom Bruder der Ich-Erzählerin in blinder Liebe aufgenommen wird. Der Bruder erzählt, sie sei als Kind in einer Kiste eingesperrt gewesen. Noch eine Eingesperrte also. Das mag stimmen oder nicht. Das Kartenspiel, das die Eltern ihr in die Kiste gelegt haben, Skip-Bo heißt es, hat Nike noch immer in ihrer Handtasche. Nike ist eines von mehreren unberechenbar durch den Roman irrlichternden Elementen; ein Wesen, das aus einer Parallelwelt in das Ostseedorf gekommen zu sein scheint. In den Nächten sitzt der Bruder an Nikes Bett und betrachtet sie:
"Er sagt, wenn Nike schlafe, sehe sie aus wie eine Muräne. Ihr fehlten etliche Zähne, der untere Teil ihres Kiefers sei eingefallen, der obere rage heraus, ihre Augen ständen viel zu eng beieinander, sie sähe aus wie eine Babymuräne, und ihre Haare, er versicherte mir das – glühten im Dunkeln."
Das atmosphärisch Bedrohliche, das über dem gesamten Roman liegt, hat unterschiedliche Manifestationen. Zu ihnen gehört auch die Dichotomie von Land und Wasser und die darin mitschwingenden Untergangsängste. Arilds Schwester Mimi, zu der die Erzählerin eine beständige Freundschaft aufbaut, ist nicht nur bei fast jeder Wetterlage eine begeisterte Schwimmerin, sondern auch Künstlerin, die ihre eigene Technik entwickelt hat: Sie spannt Leinwände auf Holzrahmen, versenkt diese im Schlick und holt sie erst wieder heraus, nachdem die Flut sie einige Male überspült hat. Das Ergebnis ist ein unmittelbarer, doch abstrakter Abdruck der Landschaft.

Ein Mädchen auf hoher See

Zugleich aber hat sich über das Land eine Regenarmut gelegt. Die Felder haben sich in Wüsten verwandelt. Staubwolken verdunkeln den Himmel, wenn der Pflug über die Felder fährt. Die Ich-Erzählerin wiederum hat aus unerfindlichen Gründen Angst vor tiefem Wasser. Ihre Tochter Ann schickt ihr hin und wieder Koordinaten, um ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. Gibt man die auf Google Maps ein, landet man an einem Punkt im Meer, irgendwo vor der schwedischen Küste. Was Ann dort macht, warum sie auf einem Schiff unterwegs ist, bleibt im Ungewissen und wird auch nicht aufgeklärt, wenn sie via Skype mit ihrer Mutter spricht. Auch fragt Ann nicht, warum die Mutter ausgezogen ist, den Vater verlassen hat.
Stattdessen spiegelt Judith Hermann in einem parallel zum Gespräch mit Ann ablaufenden inneren Monolog die resignative Einsicht der Erzählerin in die Vergeblichkeit aller Lebensplanung:
"Vielleicht könnt ihr es da, wo ihr gerade seid, nur auf diese Weise aushalten. Pläne machen, nicht daran denken, wie diese Pläne scheitern können, dass sie scheitern werden, fast alles im Leben scheitert, Ann, und ich weiß, wovon ich rede, aber natürlich sage ich das nicht."

Drei hartgekochte Eier

Welche Existenz führt man? Was daran ist frei gewählt? Wo ist man hineingeraten? Solche zunächst abstrakt klingenden Fragen kondensiert Judith Hermann ganz konkret in Alltagsszenen. Nach der gemeinsamen Nacht mit Arild sitzt die Protagonistin allein in dessen Küche. Er füttert draußen die Schweine; vorher hat er ihr noch drei hartgekochte Eier auf den Tisch gestellt und betrachtet das möglicherweise sogar noch als Zeichen der Zuneigung. In diesem Augenblick scheint in der Ich-Erzählerin die Perspektive auf ein alternatives Leben auf, die sie im selben Gedankengang allerdings auch umgehend wieder zur Seite wischt.
"Ich denke, ich könnte eine andere sein, als die, die ich bin. Ich könnte auch eine sein, die jeden Morgen drei harte Eier zum Frühstück isst und dabei in einer Zeitung liest, in der es keine schlechten Nachrichten gibt, und ich staune darüber, dass ich tatsächlich immer noch glaube, entscheiden zu können, wer ich sein will und sein könnte."

Nochmal nachgedacht

Nichts ist wie es scheint. Judith Hermanns Sprache, der oft ein Pathos der Kargheit und stilistischen Entsagung angelastet wird, schafft in "Daheim" einen erzählerischen Parcours aus Falltüren und doppelten Böden. Das wird besonders augenfällig, wenn als weitere, kursiv gesetzte Textebene plötzlich die Briefe des Ex-Ehemannes Otis eingeführt werden. Durften die Leserinnen und Leser bislang davon ausgehen, dass zumindest die Erinnerung der Erzählerin wenn auch lückenhaft, so doch zumindest in sich konsistent funktioniert, wird durch den Briefwechsel nun noch einmal alles in Frage gestellt:
"Meine Liebe, ich habe nochmal nachgedacht. Die Geschichte mit Singapur, damals, diese Sache mit dem Zauberer. Du hast damals gar nicht mehr in dieser Einraumwohnung an der Tankstelle gewohnt. Du hattest eine Zweiraumwohnung in einem Altbau. Keinen Balkon. Wenn du dich fragst, woher ich all das weiß – ich kann’s dir sagen. Ich weiß es, weil du’s mir erzählt hast."
Weiß er es wirklich besser? Oder will er über die Erinnerung einer anderen verfügen? Die Eindeutigkeit des Erzählten lässt sich vergleichen mit Mimis aus den Schlick gezogenen Bildern: Sie sind ein Abdruck, ein Restbestand von etwas Konkretem, der sich neu materialisiert und dadurch umgedeutet werden kann.

Keine Täter, keine Opfer

Bemerkenswert an "Daheim" ist der Umstand, dass die Welt nicht in Täter und Opfer unterteilt wird. Menschen werden nicht in Gut und Böse kategorisiert, sondern bleiben ambivalent. Obwohl der Roman durchaus auch eine feministische Lesart anbietet und sich als Emanzipationsgeschichte einer Frau begreifen ließe, stellt sich dann immer die Frage: Woraus und wovon soll sich hier eigentlich befreit werden? Es gibt einige Sexszenen, die sich als derb beschreiben lassen, doch ist die unterschwellige männliche Grobheit, die aus ihnen spricht, im Gesamtkontext nicht negativ konnotiert.
Ein Schlüsselwort fällt auf 190 Seiten viermal. Zu oft für einen Zufall, gerade in einem Buch, in dem erzählstrategisch nichts dem Zufall überlassen wird. Das Wort heißt "wehrhaft". Es ist Mimi, die starke, in der Landschaft verwurzelte und im Meer unerschrockene Freundin, die es benutzt:
"Sie sagt, warst du überhaupt schon mal wehrhaft.
Eher nicht. Kann sein. Ich hatte möglicherweise keinen Grund dazu.
Mimi sagt, na, wenn du hier schwimmen gehst, holst du dir das jedenfalls.
Ich sage, du meinst, ich bräuchte was davon.
Mimi lacht. Was ist das für eine Frage."

Stille und Eleganz

Diese Wehrhaftigkeit bezieht sich nicht oder zumindest nicht nur auf konkrete Situationen, sondern auf eine allgemeine Haltung. Judith Hermann, so hat sie es in einem Interview erzählt, hatte den Roman bereits Ende 2019 beendet. Auch wenn sich die freiwillige Vereinzelung ihrer Hauptfigur nicht als ein expliziter literarischer Kommentar zur Corona-Pandemie lesen lässt, gibt es frappierende Verweise in die Aktualität. Doch vor allem ist zu spüren, dass "Daheim" ein Buch des Transits von einer Daseinsform in eine andere ist. Und dass es dafür Selbstreflexion braucht, Mut und eben Wehrhaftigkeit.
Mit ihrem neuen, ausgereiften Roman ist Judith Hermann etwas gelungen, was früher oft nur als Zuschreibung von außen an ihre Werke herangetragen wurde: Sie ist nicht nur in Einklang mit ihren künstlerischen Mitteln. Sie ist im besten Sinne und in aller Stille und Eleganz auch auf der Höhe der Zeit.
Judith Hermann: "Daheim"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 190 Seiten, 21 Euro.