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Judith Kerr: "Geschöpfe. Mein Leben und Werk"
Eine Liebeserklärung an das Leben

Die tierischen Geschöpfe der in London lebenden Kinderbuchautorin Judith Kerr haben ein Millionenpublikum begeistert. In ihrem neuen Buch erzählt die 95Jährige nun von deren Entstehung und ihrem eigenen bewegten Leben.

Von Angela Gutzeit | 07.09.2018
    Buchcover: Judith Kerr: "Geschöpfe. Mein Leben und Werk"
    Autobiografie der Kinderbuchautorin und Illustratorin (Buchcover: Verlag Edition Memoria, Foto: picture-alliance/ dpa/ Soeren Stache)
    Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an das Leben, geschrieben im Bewusstsein, sehr viel Glück gehabt zu haben. Vor allen Dingen das Glück, zu überleben, während eineinhalb Millionen jüdische Kinder dem Holocaust zum Opfer fielen. Judith Kerr hat ihre Autobiografie in Wort und Bild diesen Kindern und ihren "ungemalten Bildern", wie sie schreibt, gewidmet.
    Das Glück hatte im Leben der heute 95jährigen viele Facetten und Gesichter. Angefangen damit, dass ihr Vater, der berühmte Theaterkritiker und Hitler-Gegner Alfred Kerr im Februar 1933 nach einer Warnung vor der bevorstehenden Verhaftung sofort die Flucht ergriff. Hinzu kam die große Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Engländer gegenüber der jüdischen Familie. Das Exilland England wurde zur Heimat für Judith Kerr und ihren Bruder Michael, wenn auch nicht unbedingt für ihre Eltern, die sich wie viele ältere Emigranten mit einem Neubeginn schwer taten. Und schließlich lernte die junge Frau in London, in der Kantine der BBC, ihren geliebten Mann, den Drehbuchautor Tom Kneale, kennen. Und von da an eröffneten sich für die begabte Zeichnerin viele Möglichkeiten, ihr Talent unter Beweis zu stellen.
    Von Kaninchen, Katern und anderen Geschöpfen
    Judith Kerr ist in England eine Berühmtheit. Aber auch in Deutschland wird sie seit den frühen 70er Jahren als Jugend- und Kinderbuchautorin verehrt. 1971 erschien das Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" als erster Teil einer autobiografisch grundierten Romantrilogie über Flucht und Exil einer jüdischen Familie. Zwei Jahre später wurde es in der Übersetzung von Annemarie Böll auch in Deutschland veröffentlicht und erreicht bis heute eine Gesamtauflage von etwa 1,3 Millionen Exemplaren. 1974 erhielt sie dafür den deutschen Jugendliteraturpreis. Dieser Preis "änderte alles", schreibt Kerr in ihrer Autobiografie – vor allen Dingen das Verhältnis zu ihrem Geburtsland und zu einer Öffentlichkeit, die sie bislang gemieden hatte. Nun aber zeigte sie sich tief berührt über den begeisterten Zuspruch, der unter anderem ihren illustrierten Bilderbüchern, vor allem aber ihren insgesamt 17 Geschichten über den Kater Mog zuteilwurde.
    Judith Kerrs großformatige Autobiografie "Geschöpfe. Mein Leben und Werk" rekapituliert chronologisch das von Glück und Zufällen so reiche Leben dieser Schriftstellerin und Zeichnerin. Wobei man die Zeichnerin Judith Kerr doch an die erste Stelle setzen sollte. Sie selbst sieht das in ihrer Rückschau genauso.
    Auch wenn ihre Romantrilogie eine Art Meilenstein darstellt innerhalb der Kinder – und Jugendliteratur, da es zum ersten Mal die dramatischen Folgen der Nazizeit für eine jüdische Familie auf der Flucht thematisiert und das auch noch aus kindlicher Perspektive, so sind es, schaut man auf Kerrs Gesamtwerk, letztendlich doch immer die Bilder, die Zeichnungen, die ihre Geschichten in Gang setzten. Sie selbst schreibt, sie habe speziell in ihren Bilderbüchern eine bestimmte Anzahl von Worten nicht überschreiten wollen. Was auch nicht nötig war. Die ausdrucksstarke Wandlungsfähigkeit ihres Katers Mog beispielsweise, was Mimik und Körperhaltung angeht, erzählt mehr über diese Figur und ihr Innenleben, als es Worte tun könnten.
    Nicht nur als Zeichnerin begabt, sondern auch als Malerin
    In ihrem Lebensbuch berichtet Kerr ausführlich von den vielfältigen Inspirationen, die sie zu ihren Geschöpfen führte. Mal waren es die eigenen Kinder, mal Besuche im Zoo und natürlich immer wieder die zahlreichen Katzen, die in der Familie Kerr/Kneale eine zentrale Rolle spielten.
    Zu diesen Schilderungen gesellen sich - neben Fotos- zahlreiche Abbildungen, die den Arbeitsprozess von der Skizze zur fertigen Illustration verdeutlichen. Und nicht nur das. Zum ersten Mal tritt hier die Künstlerin Judith Kerr in ihrem jahrzehntelangen Werdegang und mit ihrem ganzen schöpferischen Vermögen hervor.
    Ihre frühen Arbeiten belegen, dass sie nicht nur in der Zeichnung, sondern auch in der Malerei eine ausgeprägte Begabung zeigt für abstrahierte Figurengestaltung, für satirische Zuspitzung und Farbgebung. Nicht ohne Grund wurden im letzten Jahr ihrer Ausbildung an der Central School of Arts and Crafts eines ihrer Bilder von der Royal Academy und ein anderes von der renommierten London Group für eine Ausstellung angenommen.
    Aber das Familienleben mit Kindern ließ sich für Judith Kerr besser mit der Arbeit an illustrierten Geschichten und Jugendbüchern verbinden. Wie man diesem schönen und sorgfältig gestalteten Band entnehmen kann, empfand sie diese Tätigkeit deshalb aber keineswegs als ein Sich-Fügen in die Notwendigkeit, sondern als ein großes Geschenk. Für die Kinder- und Jugendliteratur war diese Entscheidung ein großes Glück!
    Judith Kerr: "Geschöpfe. Mein Leben und Werk"
    aus dem Englischen von Ute Wegmann
    Edition Memoria, Köln. 176 Seiten, 36 Euro.