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Jüdische Kultur in Litauen
Kindheit im Schtetl

Der Prosaautor, Dramatiker, Übersetzer und Kinoregisseur Grigori Kanowitsch wurde 1929 im litauischen Jonava geboren. In seinem aktuellen Buch "Kaddisch für mein Schtetl" blickt er – ohne Kitsch, aber nicht ohne Wehmut - zurück auf die untergegangene Welt der jüdischen Schtetl-Ortschaften.

Von Klara Hielscher | 13.05.2016
    Grigori Kanowitsch, der russisch-jüdische Schriftsteller aus Litauen, hat sein großes Lebensthema darin gefunden, das Schicksal der litauischen Juden, der Litwaken, in seiner Prosa festzuhalten. In zehn Romanen, die zum Teil schon zu Sowjetzeiten in Litauen erschienen sind, beschreibt er das Leben und die traditionelle Welt des jüdischen Schtetls in unterschiedlichen historischen Epochen. Vor allem aber geht es ihm um die letzten Jahrzehnte bis zur Vernichtung dieser Lebenswelt durch den Holocaust. Dies ist die Zeit, die der 1929 im Schtetl Jonava bei Kaunas als Sohn eines Schneiders geborene Schriftsteller noch aus eigener Anschauung und den Erzählungen der Eltern kennt.
    Sein jüngstes Buch ist der autobiographische Roman "Kaddisch für mein Schtetl", in dem Kanowitsch das Schicksal seiner eigenen Familie von den 20er Jahren bis zur Flucht vor der deutschen Wehrmacht im Sommer 1941 literarisch gestaltet. Die Handlung erfasst also das selbständige Litauen der 30er Jahre, den Einmarsch der Roten Armee und die brutale Sowjetisierung des Landes infolge des Hitler-Stalin-Paktes und reicht bis zum Beginn des Vernichtungskriegs der Deutschen, der das jüdische Leben in Litauen für immer auslöschte.
    Humorvoller Ton in schweren Zeiten
    Trotz der dargestellten schweren Zeiten dominiert auf der ersten Erzählebene ein poetischer, humorvoller, heiter nostalgischer Ton, denn erzählt wird vor allem Kanowitschs behütete Kindheit im Schtetl, wo er – so sagt er in einem Interview – bis zum Alter von zwölf Jahren glücklich war und Litauen ihm als Paradies erschien. Das bedrohliche historische Geschehen spiegelt sich zunächst nur in der naiven Sicht des Kindes und seiner ganz in ihren privaten Alltagssorgen aufgehenden Eltern. Auf einer zweiten Ebene schwingt jedoch immer die unermessliche Trauer und der Schmerz des sich im hohen Alter erinnernden Schriftstellers mit.
    Kanowitsch ist sich bewusst, dass er eine verschwundene Welt schildert:
    "So bitter die Erkenntnis auch ist – fortan wird dieses zugrunde gerichtete Volk nur noch im wahrhaftigen, aus Leiden erwachsenen Wort wieder auferstehen und weiterleben in der unvoreingenommenen Erinnerung…"
    Es sind die Erinnerungen seiner überlebenden Familienmitglieder, die Kanowitsch seinen reichen Erzählstoff, die bunten Geschichten und Schicksale aus der Welt seiner Kindheit vermittelt haben. Im ersten Kapitel erzählt er, wie sie kurz nach dem Krieg – zurück aus der Emigration in Kasachstan und nun in der Hauptstadt Vilnius in einer schäbigen Gemeinschaftswohnung lebend - die Vorkriegszeit und ihre Toten wieder aufleben lassen:
    "Abends versammelten sich um den gemeinsamen Tisch am Stalin-Prospekt meine beiden aus diesen Erinnerungen auferstandenen Großväter und Großmütter, sämtliche Tanten und Onkel und die für immer verschwundenen Landsleute und Nachbarn. Wie ein entferntes Echo ertönten ihre Stimmen, ihre Sprache – mit großem Vergnügen kopiert und wiedergegeben von meiner Mutter, die stets zu Nachahmung und Spötteleien aufgelegt war."
    Übersetzung nah am russischen Original
    Und diese Stimmen sind das Faszinierende an Kanowitschs Erzählstil. Er komponiert seine Geschichten aus Monologen und Dialogen, in denen man das bilderreiche Jiddische, seine Muttersprache, noch heraushören kann. Allein schon durch die immer wieder auftauchenden jiddischen oder hebräischen Sachbezeichnungen und Wendungen wie "Masl tow"/Viel Glück" oder "Lechaim/ Auf das Leben" bekommt das Russisch Kanowitschs eine ganz eigene Färbung. Die Übertragung der erfahrenen Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt bleibt sehr nah am russischen Original und betont nur manchmal vorsichtig – etwa durch den Gebrauch eines Adjektivs wie "meschugge" – dass die Figuren jiddisch sprechen.
    Kanowitsch lässt die unvergessenen Schtetlbewohner "langsam und in Großaufnahme, wie in einem Stummfilm" an seinem inneren Auge vorbeiziehen: "… philosophierende Schnorrer und arbeitsame Schneider, reiche Wohltäter und hausgemachte Weltverbesserer". Da ist Onkel Schmulik-Bolschewik, der zum ersten politischen Häftling von Jonava, nach dem Einmarsch der Roten Armee aber sogleich zu einem "hohen Tier" beim NKWD wird. Da ist der aus Tilsit stammende "deutsche" Rabbi Elieser, der auf der Peßachfeier in der großen Synagoge die schreckliche Bedrohung durch die Deutschen verkündet. Da ist der gutmütige litauische Polizist Vincas Gedraitis der "kimat a jid, also "Fast ein Jude" genannt wird, weil er sich so gern mit Matzen und Honigwein bewirten lässt, und viele, viele andere.
    Farbiges Panorama des Schtetllebens
    Die amüsanten oder schmerzlichen Geschichten der unterschiedlichen Protagonisten verbinden sich zu einem farbigen Panorama des Schtetllebens. Gleichzeitig aber macht Kanowitsch deutlich, wie sich dessen traditionelle Strukturen mehr und mehr auflösen. Die aktivsten jungen Leute wandern in alle Teile der Welt aus, viele sind nicht mehr fromm oder glauben sogar wie Schmulik-Bolschewik "an einen Russen mit Glatze und Ziegenbart."
    Der erste Teil des Romans erzählt die Liebesgeschichte der Eltern des Schriftstellers: von Solomon, Schlojmke, Kanowitschs Vater, und seiner geliebten Frau Chanke, der Tochter des armen Schusters Schimon Dudak. Schlojme ist mit wahrer Inbrunst Schneider und baut sich mit seiner von einem reichen Holzhändler geschenkten Singer-Nähmaschine eine gut gehende Werkstatt auf. Die beiden müssen sich ihr Eheglück schwer erkämpfen – auch gegen den Widerstand von Schlojmkes Mutter Roche - ehe ihre Hochzeit, "getreu dem Brauch der Vorfahren", mit allen dazu gehörenden Riten gefeiert werden kann. Und bis schließlich im jüdischen Krankenhaus von Kaunas per Kaiserschnitt der Autor Hirsch-Jankel (russ. Grigori Jakov) Kanowitsch geboren wird.
    Die alles bestimmende Großmutter Roche mit ihrem herrischen Charakter und ihrem ununterbrochenen Redefluss versucht mit allen Mitteln, sich den Veränderungen der neuen Zeit entgegenzustellen. Sie hadert – trotz ihrer tiefen Frömmigkeit - mit Gott, weil ihre Kinder auswandern oder auf andere Weise leben wollen. Wenigstens ihren geliebten Enkel will sie zu einem gläubigen Juden erziehen:
    "Ich schaue dich an, Hirschele, und denke nach. Du errätst nie worüber (…) Nein! Du wirst nicht wie dein Großvater, nicht wie dein Vater und nicht wie deine Onkel. Sie sind Gottlose und Gotteslästerer. Sie gehen nicht in die Synagoge, sie lachen über alle, die an unseren Herrgott glauben…."
    Chanke, die Mutter des Autors, der er das Buch gewidmet hat, ist mit ihrer unendlichen uneigennützigen Liebe die vollkommene Personifikation der berühmten jidischen mame.
    Dieser Roman voller Güte, Altersweisheit und stiller Resignation ist zugleich "Schtetlromanze" – wie sein russischer Originaltitel lautet – und schwermütiges Totengedenken, Kaddisch für das Schtetl. Gerade das macht seinen unvergleichlichen Reiz aus.
    Das kenntnisreiche Nachwort von Brigitte van Kann bietet die notwendigen Informationen für das Verständnis des historischen Hintergrunds und die literarische Einordnung des Buchs.
    Grigori Kanowitsch
    Kaddisch für mein Schtetl. Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Mit einem Nachwort von Brigitte van Kann. Aufbau Verlag. 2015, 509 Seiten, 24,95 Euro.