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Jüdischer Antisemitismus oder wissenschaftliche Erkenntnis?

Der italienische Historiker Ariel Toaff hat eines der schlimmsten antisemitischen Vorurteile geschichtswissenschaftlich neu untersucht: die angebliche Tötung christlicher Kinder zu rituellen Zwecken anlässlich des Pessachfestes. Darüber ist nun ein Akademikerstreit entbrannt - immerhin ist das Buch "Pasqua di sangue", um das es geht, im angesehenen, von Romano Prodi mitgegründeten Verlag Il Mulino erschienen.

Von Thomas Migge | 10.02.2007
    "Es genügt, dass man weiß, dass ich dieses sensible Argument wissenschaftlich hinterfrage, auf eine ganz neue Art und Weise, und man reagiert voller Vorurteile. Man boykottiert mich. Es passt vielen Leuten nicht, dass ich Argumente präsentiere, die die Diskussion zu diesem Thema wieder aufnimmt."

    Ariel Toaff ist selbst Jude, doch nach Erscheinen seines jüngsten Buches am
    vergangenen Donnerstag ist er zum Paria seiner italienischen Glaubensbrüder geworden. Täglich wird er bedroht, und von einem Besuch im ehemaligen Ghetto Roms hat man ihm dringend abgeraten. Selbst sein eigener Vater, Elio Toaff, der ehemalige Oberrabbiner von Rom, geht auf Distanz. Sämtliche italienischen Rabbiner werfen ihm in einem offenen Brief Verdrehung historischer Tatsachen vor. Seine Thesen, so ihr Vorwurf, seien ein gefundenes Fressen für Antisemiten.

    Der italienische Historiker Ariel Toaff, der an der Bar-Ilan University in Tel Aviv Geschichte jüdischer Riten in Mittelalter und Renaissance lehrt, hat es sich erlaubt, eines der schlimmsten antisemitischen Vorurteile geschichts- und religionswissenschaftlich neu zu untersuchen: die angebliche Tötung christlicher Kinder zu rituellen Zwecken anlässlich des Pessachfestes.

    Ariel Toaff ist davon überzeugt, dass man angesichts seiner Neueinschätzung der Prozessakten gefolteter Juden, denen man Kindstötung zu rituellen Zwecken vorwarf, zu dem Urteil gelangen könnte, dass es tatsächlich solche schrecklichen Vorkommnisse gegeben habe.

    Ein ungeheuerlicher Verdacht. Der Geschichtsprofessor Toaff behauptet aufgrund seiner achtjährigen Forschungen in europäischen Archiven, dass aschkenasische Juden im deutschen und norditalienischen Sprachraum zwischen 1100 und 1500 rituelle Tötungen durchgeführt haben könnten:

    "Mein Buch enthält ein Kapitel, in dem ich erläutere, dass aschkenasische Juden das Pessachfest ganz anders als die anderen Juden zelebrierten. Für sie war das Pessachfest an eine bestimmte Vorstellung von Blut und Blutopfer geknüpft."

    Toaffs Hauptquellen sind Prozessunterlagen aus dem Jahr 1475. Damals kam es in Trento zu einem Prozess gegen aschkenasische Juden, die ein christliches Kind, den später selig gesprochenen Simonino, zu rituellen Zwecken ermordet haben sollen. Toaff ist davon überzeugt, dass diese Quellen von der Geschichtsforschung bisher falsch interpretiert worden sind:

    "Alles, was in den damaligen Prozessakten beschrieben wird, ist für die Richter etwas ganz Neues. Sie konnten das, was den angeklagten Juden unter Folter abgerungen wurde, nicht selbst gewusst oder ihnen in den Mund gelegt haben. Angesichts dieses Umstands müssen wir uns ernsthafte Fragen stellen."

    Toaff vermutet, dass die gefolterten Juden die Wahrheit zu rituellen Tötungen gesagt haben könnten. Eine Theorie, die in Italien nicht nur Aufsehen hervorruft, sondern blankes Entsetzen. Für die römische Historikerin Anna Foa sind Toaffs Thesen wissenschaftlich unhaltbar:

    "Er sagt, dass die aschkenasischen Juden Blutriten kannten. Meiner Meinung nach kann er keinerlei Dokumente vorweisen, die das belegen. In jenen Kapiteln des Buches, in denen er explizit auf Blutriten zu sprechen kommt, nutzt er Unterlagen der Inquisition und antisemitische Dokumente des 18. Jahrhunderts!."

    Der deutsche Historiker Julius H. Schoeps, Direktor des Moses Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, findet Toaffs Thesen unerhört:

    "Ich halte Äußerungen dieser Art für schwachsinnig. Wir haben es hier zu tun mit der so genannten Ritualmordlegende, die in Abständen immer wieder hoch gekocht wird. Wenn man Inquisitionsakten liest und als wahr nimmt, was dort geschrieben steht, dann kann man natürlich alles belegen."

    Für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Buch Toaffs spricht sich hingegen der über jeden Verdacht antisemitischer Sympathien erhabene italienische Historiker Sergio Luzzatto aus Turin aus. Am vergangenen Montag brachte Luzzatto mit einem ganzseitigen Artikel im "Corriere della sera" den Fall Toaff ins Rollen:

    "Dieses Buch ist ausgezeichnet dokumentiert. Es sollte diskutiert zu werden. In Sachen Quellen: Sicherlich fehlt etwas, was die Amerikaner "smoking gun" nennen, also die rauchende Pistole des auf frischer Tat ertappten Täters. Wir können aber Delikte, die sich vor Jahrhunderten ereignet haben, nicht mit den gleichen Kriterien untersuchen wie Delikte, die gestern passiert sind."

    Genau darin liegt aber das Problem der gesamten Argumentation. Ariel Toaff
    interpretiert die alten Quellen als wahre Aussagen und verbindet sie mit ominösen Blutriten, die er bei aschkenasischen Juden glaubt entdecken zu können. Eine gefährliche Theorie meint Anna Foa:

    "Ich glaube, dass dieses Buch nicht ein einziges wahres Wort enthält. Nicht etwa, weil Juden zu so schlimmen Dingen nicht fähig wären, sondern weil die Argumentation des Buchs aus Fantasien besteht. Das ist ein gefährliches Buch, auch wenn Bücher nie gefährlich sein sollten."