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Jüdischer Familienepos

Marokko ist heute das einzige arabische Land, wo Juden noch geduldet werden. Dennoch droht hier ihre Kultur zu verschwinden. Marcel Bénabou schreibt in seinem Familienepos die Geschichte seiner jüdischen Herkunft auf.

Von Christoph Vormweg | 24.03.2005
    Vor drei Jahren, auf einer Reise durch Marokko, fand ich mich in der Hafenstadt Essauira mit einem Mal vor dem Tor eines riesigen jüdischen Friedhofs wieder. Als Tourist ohne Reiseführer war ich mehr als überrascht. Und in der Tat: Marokko ist heute das einzige arabische Land, wo Juden noch geduldet werden. Allerdings ist ihre Zahl von zwei- bis dreihunderttausend zur Zeit des Zweiten Weltkriegs auf ganze 5.000 zurückgegangen.

    Der Grund dafür war nicht, dass die marokkanischen Juden von der damaligen französischen Kolonialmacht an die Nazis ausgeliefert wurden, sondern die Gründung Israels im Jahre 1948. Denn sie schuf eine neue jüdisch-arabische Konfrontation und provozierte so den großen Exodus. In jedem Fall: die jüdische Kultur in Marokko ist dabei zu verschwinden. Das hat den 1939 in Meknes geborenen Marcel Bénabou veranlasst, in seinem Familienepos "Jacob, Menachem und Mimoun" die Geschichte seiner Herkunft aufzuschreiben.

    " Mein Erzähler, das heißt ich - da gibt es keinen Unterschied, also ich habe die ersten 17 Jahre meines Lebens in Marokko verbracht, in einer jüdischen Familie, die sich an die religiösen Vorschriften hielt. Das Land stand damals unter französischer Kolonialherrschaft. Ich hatte also einerseits marokkanische Wurzeln, andererseits gehörte ich über meine Großeltern aber auch zur französischen Kultur. Die Frage der Zweiheit war für mich deshalb sehr wichtig, als ich nach Frankreich zog, dem Land meiner Träume. Nichts auf der Welt reichte für mich damals an Paris heran. Als ich jedoch dort ankam, war Paris völlig anders, als ich mir das vorstellte."

    Die Metropole war unwirtlicher, als es Marcel Bénabou aus den Büchern kannte, die von der französischen Kolonialmacht unters marokkanische Volk gebracht worden waren. Sprachbegabt und lesehungrig, konnte er es jedoch mit den Elite-Studenten Frankreichs aufnehmen. An der École Normale Supérieure, jener Intellektuellenschmiede, an der auch Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre studiert hatten, stieg er bis zum Professor für Römische Geschichte auf. Die Herkunft jedoch machte dem Aufsteiger zu schaffen.

    "In der ersten Zeit in Paris war das Heimweh natürlich übermäßig. Doch ich wollte mich nicht erinnern: Ich wollte vergessen! Um meine Erinnerungen los zu werden, beschloss ich, sie aufzuschreiben. Und obwohl es mir nicht gelang, sie in eine zusammenhängende Form zu bringen, haben sie sich nach einiger Zeit wirklich verflüchtigt [...] . Indem ich mich meiner Erinnerungen so entledigte, bin ich, wie ich Ihnen vorhin schon sagte, ein neuer Mensch geworden."

    Seinen marokkanischen Vorfahren hat Marcel Bénabou mit seinem Buch "Jacob, Menachem und Mimoun" ein Denkmal setzen wollen. Die Gattungsbezeichnung "Familienepos" ist jedoch ein bewusster, ironisch gemeinter Etikettenschwindel. Denn wir werden hier nicht mit spannend in Szene gesetzten Alltags- und Liebesdramen der Ahnen unterhalten. Das Lesevergnügen ist rein intellektuell. Dazu muss man wissen, dass Marcel Bénabou eng mit dem 1982 verstorbenen Georges Perec befreundet war. In der Schriftsteller-Gruppe OULIPO versuchten sie, die Potentialität von Sprache und Literatur auf spielerische Weise zu erkunden. Berühmtestes Beispiel: Georges Perecs 300-Seiten-Roman "Anton Voyls Fortgang", in dem der Vokal e nicht vorkommt. Marcel Bénabou:

    "Alle meine Bücher gründen auf einer bestimmten Zahl von Zwängen, die sich beim Lesen aber nur schwer erschließen lassen. Hauptregel ist, dass das Buch keine Geschichte erzählt, sondern die Geschichte eines Buches, das nicht zustande kommt. [...] Ich erzähle also nie unmittelbar, sondern gebe die Charakteristika einer Geschichte, die so hätte sein können, ohne sie jedoch zu schreiben. Das Wesentliche über die Geschichte wird auf diesem Wege aber natürlich gesagt. Ich verrate diese Grundregel hier nicht zum ersten Mal. Doch nur wenige werden ihrer gewahr. "

    Sie haben richtig gehört: Marcel Bénabou ist ein verschmitzter literarischer Masochist, einer, der seine Textverhinderungsreflexionen zu einer Art ironischem Metatext zusammenführt. Der Titel seines ersten ins Deutsche übersetzten Buches - "Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe" - hat das bereits mehr als deutlich gemacht. Bleibt die Frage: Wo bleibt da der Leser? Die durch den Untertitel "Familienepos" geweckten Erwartungen jedenfalls laufen allesamt ins Leere. Denn Marcel Bénaubou mag nichts aufbauschen, nichts zusammenreimen.

    Als Historiker unterläuft er systematisch jeden Ansatz zur Fiktion. Was wir letztlich über seine Familie erfahren, ist folglich so bescheiden und geregelt wie ihr Alltag. Bénabou beschreibt seine mutterbehütete Kindheit, ein paar Anekdoten über die Vorfahren, die Rituale und Speisen der jüdischen Festtage, die ersten Leseexzesse, das wachsende Fernweh, das Leiden schließlich unter der Tatsache, vom Holocaust verschont worden zu sein. Abgesehen davon rückt das Schreibprojekt "Familienepos" in den Mittelpunkt, die beharrliche Suche nach Modellen, die dem Thema gerecht werden könnten. Selbstironisch-resümierend, nie ausmalend widmet sich Marcel Bénabou seinem interdisziplinären Klassifizierungseifer, seiner ausufernden Karteikarten-Sammlung. Natürlich ist sein hoch gebildetes Buch ein Affront gegen jede Form autobiographischer Lügenprosa, eine Parodie auch auf die Ahnenforschung. Doch schafft es Marcel Bénabou - anders als sein OULIPO-Mitstreiter Jacques Roubaud - nicht, einen Spannungsbogen aufzubauen, der die familiären Puzzle-Steine und die immer wieder von neuem ansetzende Erinnerungsarbeit über fast 300 Seiten zusammenhalten könnte. Nur Theoretiker des akademischen Milieus dürften bei seinem verspielten "Hang zur Erörterung" auf Dauer Feuer fangen.

    Marcel Benabou: "Jacob, Menachem und Mimoun"
    Berlin Verlag