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Jüdisches Alltagsleben
Der christliche Rabbi

Oluf Gerhard Tychsen war Judenmissionar und Orientalist in Diensten des Herzogs von Mecklenburg. Sein Nachlass wurde aufgearbeitet, vor allem die Briefe geben einen tiefen Einblick ins jüdische Alltagsleben des 18. Jahrhunderts.

Von Carsten Dippel | 08.11.2017
    Porträt von Oluf Gerhard Tychsen am Hauptgebäude der Universität Rostock.
    Porträt von Oluf Gerhard Tychsen am Hauptgebäude der Universität Rostock. (Ulrike Wittig, Universitätsbibliothek Rostock)
    "Guten Tag an den Rabbi, Lehrer, geehrten Herren, die Würde seiner Gelehrsamkeit, verehrten Herrn Tychsen, es behüte ihn sein Fels."
    Es sind für heutige Ohren recht schwärmerische Worte, in denen sich der jüdische Student Israel 1768 in einem Brief an seinen christlichen Förderer ergeht. Am Hof des Herzogs von Mecklenburg genießt der Adressat Oluf Gerhard Tychsen eine außergewöhnliche Stellung als Orientalist. Ein Gelehrter und Geheimrat, zugleich aber auch einer der wichtigsten Förderer jüdischer Studenten und gewissermaßen ein Spezialist für jüdische Fragen. Ein Mittler zwischen christlicher und jüdischer Welt? Die Historikerin Malgorzata Maksymiak hat sich dessen Nachlass genauer angeschaut.
    "Das ist die grundsätzliche Frage: Wer war Tychsen? Weil, er zeigt so viele Ambivalenzen. Und natürlich, da er schon offiziell die Position des Judenmissionars hatte, könnte man sagen: Okay, er war nicht nur Orientalist, er war auch Judenmissionar. Aber so einfach ist das, glaube ich, nicht. Er hatte natürlich seine Position. Er war von Juden in Mecklenburg ganz oft als Gaon, also als Genie, als Rabbi angesprochen und da wollte er natürlich seinen Status nicht verlieren."
    Einzigartiger und vielfältiger Bestand / Blick in das jüdische Alltagsleben jener Zeit
    Wer sich mit der Biographie dieses illustren Mannes beschäftigt, taucht tief hinein in die Welt des 18. Jahrhunderts, die an der Schwelle zur jüdischen Emanzipation stand. Aber auch in ein Geflecht der Widersprüche und Abhängigkeiten zwischen dem Orientalisten Tychsen und Juden.
    "Das waren feudale Verhältnisse, in denen die Juden damals gelebt haben. Natürlich war ein Christ und dazu noch ein Gelehrter und dazu ein Hofrat, viel höher gestellt und natürlich musste man dann auch ihm würdig begegnen."
    Mit Gelehrten in halb Europa hat dieser "christliche Rabbi", wie er von manchen genannt wurde, korrespondiert. Tychsen war ein äußerst umtriebiger Mann. Er nutzte seine hervorragenden Beziehungen, um sich eine beachtliche Bibliothek mit unschätzbaren Hebraica sowie einigen Arabica aufzubauen.
    Mit gleicher Leidenschaft sammelte er alle möglichen Objekte. Estherrollen finden sich in seinem Nachlass. Selbst die Vorhaut eines beschnittenen Rabbinerjungens fand Eingang in seine Sammlung. Besonders stechen jedoch die gut 1000 Briefe in Hebräisch, Deutsch und Jiddisch hervor. Etwa die Hälfte davon ist an ihn adressiert, viele weitere hat Tychsen einfach gesammelt. Der einzigartige Bestand lagert seit gut 200 Jahren in der Rostocker Universitätsbibliothek und fristete dort lange Zeit einen Dornröschenschlaf.
    Doppelseite mit Siegelabdrücken aus dem Nachlass von Oluf Gerhard Tychsen.
    Doppelseite mit Siegelabdrücken aus dem Nachlass von Oluf Gerhard Tychsen. (Ulrike Wittig, Universitätsbibliothek Rostock)
    Die Briefe erlauben einen Blick in eine bislang recht verschlossene Welt des jüdischen Alltagslebens zu jener Zeit. Tychsen nimmt sich vieler Wünsche und Bittstellungen der jüdischen Absender an. Manchmal hilft er mit einem Kleindungsstück aus. Er leiht Geld, schreibt Empfehlungen für jüdische Studenten, die in Bützow Medizin studieren wollen. Und doch sind selbst seine warmherzig klingenden Worte oft schlicht ein Tauschgeschäft.
    Maksymiak: "Tychsen war immer überzeugt, dass die christliche Religion der jüdischen überlegen ist. Er übersetzt z.B. Briefe oder schreibt Empfehlungen und nimmt Geschenke entgegen. Er macht das nie umsonst. Tychsen ist kein Wohltäter der Juden, nicht immer zumindest. Er kriegt immer etwas dafür."
    "Die Person Tychsen ist extrem ambivalent"
    Angefangen hatte der 1734 im dänischen Tondern geborene Pietist Tychsen als Judenmissionar. Er erlernte Hebräisch, sprach sogenanntes "Judendeutsch", ein westjiddischer Dialekt. Er ging auf zwei Missionsreisen, die ihn in jüdische Gemeinden führten, um dort seine Bekehrungsversuche zu starten. Ohne Erfolg, wie er verbittert feststellen musste. Einmal sei er beinahe totgeschlagen worden. So verlegte sich Tychsen ganz auf die Gelehrsamkeit. 1763 ruft ihn der Mecklenburger Herzog Friedrich Franz I. an seinen Hof und verschafft ihm als Magister für orientalische Sprachen in der kleinen Stadt Bützow eine ansehnliche Stellung an der Universität. Nach und nach knüpft Tychsen hier sein erstaunliches Netzwerk.
    Als um 1800 die Debatten um die Emanzipation der Juden an Fahrt aufnehmen, schaltet sich Tychsen verstärkt ein.
    Maksymiak: "Da äußert er schon, dass man erstmal Juden umerziehen muss. Das heißt, er hat nie tatsächlich, so scheint es, sie hingenommen, wie sie waren, sondern hat immer diesen kolonial-überlegenen Blick auf die herab gehabt. Er hat sie kritisiert, um sie dann umerziehen und dann sie zu gleichwertigen Bürgern irgendwann mal machen zu lassen."
    Es ist immer wieder diese Widersprüchlichkeit, auf die Maksymiak bei Tychsen stößt.
    "Vielleicht hatte er auch einen gewissen Respekt für Juden als Gottes Volk, als Orientalist hatte er sowieso ein besonderes Verhältnis zur jüdischen Religion. Ich glaube, er hat ganz vieles angehimmelt gerade an der Sprache, vielleicht an der Kultur. Deswegen ist die Person extrem ambivalent."
    Systematische Aufarbeitung und Digitalisierung
    Oluf Gerhard Tychsen hat seine stolze Bibliothek der Universität überlassen. Im 19. Jahrhundert schrieb Rabbiner Leopold Donath auf dieser Basis eine Geschichte der Juden in Mecklenburg. Nach der Shoah geriet der Bestand in Vergessenheit. Ein paar Briefe fanden in den 1980/90er Jahren Beachtung. Aber erst vor wenigen Jahren hat sich eine kleine Arbeitsgruppe an der Rostocker Universitätsbibliothek im Rahmen eines DFG-Projekts daran gewagt, Tychsens Nachlass systematisch aufzuarbeiten, zu digitalisieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Malgorzata Maksymiak, die den jüdischen Briefwechsel erschließt, hat eine Weile gebraucht, um die Briefe zu entziffern.
    "Von Tychsen bleibt ganz viel, weil wir einen fantastischen Nachlass von ihm haben, der jetzt erschlossen und sofort auch den Nutzern online zur Verfügung gestellt wird."