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Jüdisches Leben
Gegensätze unter einem Dach

Gerade zog der Evangelische Kirchentag Zehntausende nach Dortmund. Auch Jüdinnen und Juden haben Veranstaltungen, bei denen diskutiert, gebetet und Workshops besucht werden. Limmud heißen sie, also Lernen. Das Besondere: Liberale treffen auf Orthodoxe - wie vor einigen Tagen in Mannheim.

Von Gerald Beyrodt | 03.07.2019
Jüdische Gemeinde Mannheim. 04.10.17 Jüdische Gemeinde Innenstadt. Jüdische Gemeinde in F3 in Mitten von Ausländischen Geschäften mit deren Anwohner. Die Jüdische Gemeinde Mannheim hat den Austausch mit Ditib-Muslimen in der Stadt vorerst beendet. In einem fast einstimmigen Beschluss legte die Mitgliederversammlung fest, keine Einladungen von Ditib-Muslimen mehr anzunehmen und auch selbst keine mehr auszusprechen. , Mannheim Baden Württemberg Deutschland *** Jewish Community Mannheim 04 10 17 Jewish Community Center Jewish community in F3 in the middle of foreign business with their residents The Jewish Community Mannheim has ended the exchange with Ditib Muslims in the city for the time being In an almost unanimous decision the General Assembly did not issue any invitations from Ditib Muslims to accept more and even not to pronounce
Die Synagoge von Mannheim war einer der Limmud-Orte (imago stock&people)
"Wir brauchen noch einen zehnten Mann", sagt ein Limmud-Teilnehmer zum anderen und zieht ihn in den Synagogenraum. Dort betet man nach den Regeln der Mannheimer Gemeinde. Ein männlicher Kantor betet vor, und zehn männliche Beter müssen anwesend sein, um zentrale jüdische Texte zu sprechen zu können. Wie viele Frauen anwesend sind, ist gleichgültig. Frauen zählen nicht mit- ein Gebet nach den traditionellen Regeln.
Im Raum gegenüber betet eine Frau vor. Hier gibt es keine Probleme mit der Zehnzahl von Beterinnen und Betern. Denn hier zählen Frauen und Männer. Ein egalitäres Gebet – hier gilt: gleiche Rechte, gleiche Pflichten.
Am letzten Juniwochenende 2019 trafen sich Jüdinnen und Juden zum Limmud in Mannheim. Limmud bedeutet "Lernen".
Am letzten Juniwochenende 2019 trafen sich Jüdinnen und Juden zum Limmud in Mannheim. Limmud bedeutet "Lernen". (Pinchas Piechowski)
Das friedliche Nebeneinander unterschiedlicher Gottesdienst-Formen ist in der jüdischen Welt immer noch die Ausnahme: Meist beten Gemeinden entweder orthodox oder liberal. Aber die Limmud-Bewegung hat es sich zum Ziel gesetzt, jüdische Gegensätze unter einem Dach zu versammeln: die Orthodoxen, die Transgender, die Liberalen, die Feministinnen, die Traditionellen, die Frommen, die religiös Desinteressierten, die Säkularen. Limmud bedeutet Lernen: Jede Jüdin und jeder Jude, der möchte, kann einen Workshop anbieten. Lehrende sollen Lernende sein und Lernende Lehrende. Die Limmud-Tage in vielen Regionen bereiten ausschließlich Ehrenamtliche vor. Esther Graf vom Limmud-Team Mannheim.
"Es hat einen großen Vorteil, dass die Limmud-Tage in verschiedenen Städten in Deutschland stattfinden, weil es nicht jedem möglich ist, sich vier Tage am Stück frei zu nehmen und nach Berlin zu reisen. Dieses konzentrierte Miteinander-Lernen an einem Sonntag ermöglicht viel mehr Leuten daran teilzunehmen, weil man die verschiedensten Regionen in Deutschland bespielt."
Hauptberuf Dolmetscherin, Nebenberuf religiöse Bademeisterin
Fast immer zeigen die Regionen bei den Limmud-Tagen, was sie zu bieten haben. So kann die Mannheimer Gemeinde ein religiöses Tauchbad vorweise, eine Mikwe .
Esther Levitt zeigt Limmud-Teilnehmern einen gekachelten Raum mit zwei Wasserbecken, eines für Frauen, eines für Männer. Und in die Becken führt eine Treppe. Ester Levitt ist von Beruf Konferenzdolmetscherin und im Ehrenamt Balanit, religiöse Bademeisterin. Jetzt ist kein Wasser im Becken. Sie will kein Chlor verwenden, erzählt die Balanit, und deshalb lässt sie das Wasser frisch ein, wenn jemand ins Ritualbad steigt – in die Mikwe.
Generell steht die Mikwe für alle offen. Für Frauen und Männer, Junge und Alte. Wer zum Judentum konvertiert, muss in eine Mikwe steigen und untertauchen. Männer steigen manchmal vor dem Versöhnungstag ins Tauchbad. Doch vor allem kommen orthodoxe Frauen hierher, nach der Menstruation.
Esther Lewitt: "Auch in den orthodoxesten Kreisen ist das weniger oder nicht eine Unterdrückung der Frau und eine Diskriminierung. Unrein ist in der Bibel alles, was mit Tod zu tun hat. Leichen, tote Tiere, die nicht geschlachtet wurden, sondern, die einfach auf dem Feld gestorben sind. Alles, was irgendwie mit Tod zu tun hat, das bringt die spirituelle Unreinheit mit sich. Und die Periode ist eine Art Tod, wenn man sich vergegenwärtigt, dass mit dem Menstruationsblut die Schleimhaut ausgeschwemmt wird oder die fruchtbare Haut der Gebärmutter ausgeschwemmt wird und in diesem Moment keine Chance auf Empfängnis besteht. Es ist eine gewisse Art von Tod. Damit bringt diese die rituelle Unreinheit mit sich, für die man in die Mikwe geht."
Text und Kontext
Immer häufiger sähen Mikwen aus wie SPAs mit netter Beleuchtung, guten Düften und angenehmer Atmosphäre. Und immer häufiger nutzen Jüdinnen und Juden die Mikwe auch, um einschneidende Erlebnisse von sich abzuwaschen: eine Scheidung zum Beispiel oder eine Krankheit. Die Mikwe könne ein Ort für selbstbewusste Frauen sein.
Essther Lewitt sagt: "Es gibt aber auch Bestrebungen, diesen Ort der Mikwe, das umzukehren, zu sagen: Ja, das ist ein sehr femininer Ort, es ist ein Ort für die Frau. Es ist ein Ort der Bekräftigung, des Empowerments sozusagen. Zu sagen, ja, es ist ein Teil des Zyklus und ich mache das zu einem zutiefst spirituellen Moment für mich."
Jüdischer Teilnehmer auf dem CSD-Berlin mit regenbogenfarbener Kippa und Fahne
Im November letzten Jahres startete das Projekt Keshet, um queerem Judentum in Deutschland eine Plattform zu bieten (imago stock&people)
Aus Berlin ist Monty Ott von der Gruppe Keshet angereist. Die Gruppe versammelt lesbische, schwule, bisexuelle und Transgender-Juden sowie Intersexuelle. Keshet bedeutet: Regenbogen. Fast alle jüdischen Diskussionen um Homosexualität drehen sich um den biblischen Satz: "Du sollst nicht mit einem Mann schlafen wie man mit einer Frau schläft. Ein Gräuel ist es." Monty Ott meint: Man müsse solche Sätze in den richtigen Zusammenhang stellen.
Ott erklärt: "Wichtig ist, das Ganze einzuordnen. Und zwar, dass das Ganze in einem bestimmten Kontext stattfindet, beispielsweise von Götzendienst oder dass es hier um Machtverhältnisse geht, dass diese Beziehungen,wenn sie verboten werden, immer in der Situation des sexuellen Missbrauchs stattfinden und dass das nicht mit dem vergleichbar ist, wenn sich heute zwei Menschen lieben."
Das biblische Wort für Gräuel, toewá, diene fast immer der Abgrenzung von fremden Kulten. Gut möglich, dass die biblischen Autoren Homosexualität für eine kultische Praktik der Götzdendiener hielten. Zudem konnten sich die Bibel keine gleichberechtigte schwule Liebe denken und schon gar keine langjährigen Beziehungen, sondern meine vor allem die schnelle Nummer unter Männern – oft verbunden mit einem Hierarchieverhältnis: wenn etwa der Herr seinen Sklaven zum Sex zwingt. Lesbischen Sex verbietet die hebräische Bibel nicht explizit. Eine solche Praktik sieht die Bibel nicht als Sex an. Für Monti Ott steht fest: Man könne ohne Widersprüche Halacha und schwules, lesbisches oder bisexuelles Leben unter einen Hut bringen.
Das unscheinbare Wort "uns"
Ein Schwerpunkt bei dem Limmud-Tag liegt beim Umgang mit Antisemitismus und rechten Tendenzen. Debora Kämper ist Mitglied in der Mannheimer Gemeinde und Linguistik-Professorin am Mannheimer Institut für Deutsche Sprache. Sie nimmt in ihrem Vortrag das Grundsatzprogramm der AfD sprachlich auseinander. Und zeigt anhand einzelner Sätze, wie die Partei das unscheinbare Wort "uns" verwendet.
Deborah Kämper: "Wenn gesagt wird, dass viele integrierte Muslime akzeptierte Mitglieder unserer Gesellschaft sind, dann zeigt dieses Beispiel, dass hier zwar an der Oberfläche relativ tolerant und liberal über Muslime gesprochen wird, aber gleichzeitig wird gesagt: Wir reden hier von einer Gesellschaft, die ist nicht Eure Gesellschaft, ihr seid nur akzeptiert und toleriert."
Das Wort "uns" diene im Parteiprogramm der AfD häufig dem Ausschluss anderer: etwas wenn von "unserer Kultur" oder "unserem Rechtsstaat" die Rede ist. Und wie steht die Partei zu Jüdinnen und Juden, die von der "jüdisch-christlichen Kultur" spricht und neuerdings eine Antisemitismusbeauftragte hat?
Zum Beispiel sagt die AfD, die Art unserer Geschichtsschreibung ist zionistisch geprägt und die Zionisten dieser Welt schreiben uns vor, wie wir zu denken haben über diese zwölf Jahre. Das heißt, hier wird das zionistische Sterotyp verwendet, um es in den Zusammenhang mit unserer Geschichte zu stellen. Und damit werden gleich zwei Antisemitismen aktiviert, wenn man so will: nämlich einmal der Antizionismus und einmal das Argument des Weltjudentums, das ohnehin unser ganzes Dasein bestimmt. Diese beiden Ressentiments werden hier in eins zusammengepackt.
Was tun? Die Linguistin empfiehlt Sprachkritik. Sich die Sätze von Politikern genau anzusehen, sei ein wirksames Mittel.
Ein bisschen ist es doch wie beim Kirchentag: Die AfD ist nicht da – und doch anwesend. Die Diskussionen zum Thema AfD und Rechte verlaufen engagiert und leidenschaftlich. Zu spüren ist bei diesem jüdischen Treffen: Die Frage "Wie rechts und wie antisemitisch wird Deutschland?" sie beschäftigt viele persönlich und existenziell.