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Jüdisches Leben in Polen

Der Aufstand im Warschauer Getto im Jahr 1943 war der größte organisierte Widerstand der Juden in Polen gegen die deutschen Besatzer. 70 Jahre danach wird in ganz Polen daran erinnert. Man besinnt sich zugleich mit Festivals und Konzerten der einst reichen jüdischen Kultur im Land.

Von Johanna Herzing | 12.04.2013
    Martyna Majewska nickt zufrieden. Das erste Märchen ist fertig. "Der glückliche Mensch" - heißt es und ist jetzt im Internet zu sehen: auf Jiddisch. Dank finanzieller Unterstützung aus den USA konnte die Projektleiterin vom Jiddischen Kulturzentrum in Warschau ihre Idee umsetzen: Internationale Märchen werden als Zeichentrickfilme für das Internet animiert und sind dann in der Originalsprache sowie auf Englisch und Polnisch zu sehen. Majewska selbst hat keine jüdischen Wurzeln.

    "Es gibt viele Polen, die keinerlei familiäre Verbindung zum Judentum haben, aber die trotzdem so eine Leidenschaft oder auch so eine Verpflichtung spüren und die sich dann hier bei uns engagieren. Man muss wirklich nicht jüdisch sein, um sich für die Kultur, Tradition oder für Jiddisch zu interessieren."

    Seit 2006 gibt es das Kulturzentrum jetzt schon, angeschlossen ist auch eine Seniorenuniversität, das Angebot reicht von Sprachkursen in Hebräisch und Jiddisch, über koschere Kochkurse, Tanz- und Theatergruppen bis hin zu Vorlesungen über jüdische Kultur, Religion und Geschichte. Der Großteil der Seminarteilnehmer ist polnisch, sagt Majewska. Die Kurse waren von Anfang an ausgebucht.

    "Ob das eine Mode ist? Das kann schon sein, aber es ist eine gesunde Mode. Wir beschäftigen uns hier mit einem Teil der Geschichte und der Traditionen unseres Landes, über die man lange nicht sprach. Von 1945 bis in die 1980er-Jahre, also im Sozialismus, wurde propagiert, dass Polen nur aus einer Ethnie besteht. Und plötzlich wurde klar, dass das nicht stimmt. Wir sind ein Land vieler Nationalitäten, vieler Glaubensrichtungen. Und ich glaube, wir müssen das lernen."

    Auch wenn die ethnische Vielfalt im heutigen Polen nicht mehr mit der vor dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar sei, es gäbe doch zumindest eine größere Bereitschaft, kulturelle Unterschiede wertzuschätzen, glaubt Majewska. Dass die Zeiten sich geändert haben, weiß auch Anna Przybyszewska. In einem kleinen Büro im sogenannten himmelblauen Hochhaus sitzt die studierte Archäologin vor ihrem Computer. Früher stand am selben Ort die große Synagoge von Warschau, von den Nazis gesprengt am 16. Mai 1943, gewissermaßen als Schlussakt der Auslöschung des Warschauer Gettos und des Warschauer Judentums.

    "Ich glaube, in Polen gibt es eine große Sehnsucht, auch Nostalgie in Bezug auf die Juden. Vor dem Krieg hatte jeder auf dem Dorf oder in den Kleinstädten vollkommen selbstverständlich Kontakt mit Juden. Ob man sich nun mochte oder nicht: Ich kann den Nachbarn vielleicht nicht besonders gut leiden, aber: Er ist nun mal da. Heute empfindet jeder in Polen diese unheimlich große Lücke und daraus resultiert auch diese Nostalgie und dieser Wunsch zum Judentum dazuzugehören."

    Ob jemand nun jüdische Wurzeln hat oder nicht, das kann Anna Przybyszewska mithilfe von verschiedenen Datenbanken herausfinden; nicht immer, aber häufig. Zusammen mit zwei Kollegen bildet sie die Mannschaft der Familienforschungsstelle im Jüdischen Historischen Institut von Warschau. Menschen aus aller Welt schreiben ihr oder kommen vorbei, weil die Spuren ihrer Familie sich verwischt haben. Doch die Erzählungen der Großeltern sind noch präsent, es gibt noch die alten Fotos auf dem Dachboden, die Postkarte aus einem polnischen Luftkurort. Häufiger als früher sind unter den Besuchern junge Polen, die sich jüdische Wurzeln geradezu wünschen und enttäuscht sind, wenn sich ihre Vermutung doch nicht bestätigt:

    "Die jüngere Generation geht da mit viel weniger Komplexen ran. Die sind auch nicht mehr so stark mit der katholischen Kirche verbunden. Ich habe den Eindruck, die Einstellung hat sich heute geändert. Jude zu sein, ist einfach nicht mehr so ein starkes Stigma."

    Programmtipp

    "Der fremde Nachbar - Juden in Polen" lautet das Thema in der DLF-Sendung "Gesichter Europas" am 13. April 2013 um 11:05 Uhr.