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Jugenarbeitslosigkeit
"Wir sprechen von einer verlorenen Generation"

Das EU-Parlament hat jetzt mit großer Mehrheit eine Resolution über die Jugendarbeitslosigkeit verabschiedet. Stefan Sell, Arbeitsmarktforscher und Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz sagte im Deutschlandfunk, es sei eines dieser typischen europäischen Verlautbarungsprotokolle. Die EU brauche unglaublich lange, um diese Programme ins Laufen zu bekommen.

Arbeitsmarktforscher Stefan Sell im Gespräch mit Regina Brinkmann | 18.07.2014
    Stefan Sell
    Stefan Sell, Arbeitsmarktforscher und Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz, spricht von einem Rieseneisberg, der angeschoben werden muss. (dpa / picture alliance / Horst Galuschka)
    Regina Brinkmann: Wenn es um Angebote und Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit geht, dann ist Deutschland vielleicht auch in diesem Bereich Weltmeister. Einen Ansatz haben wir eben im Interview mit Sönke Fock vorgestellt - die Jugendberufsagentur in Hamburg versucht jeden jungen Menschen auf der Suche nach Arbeit und Ausbildung zu erreichen und zu unterstützen. Frage an den Arbeitsmarktforscher und Sozialwissenschaftler Stefan Sell: Ist das auch aus Ihrer Sicht ein guter Ansatz, um Jugendliche, die arbeitslos sind und in keiner Statistik mehr auftauchen, zu erreichen?
    Stefan Sell: Ja, das ist ein guter Ansatz, der setzt im Prinzip die Dinge um, die wir in den letzten zehn bis zwanzig Jahren hier diskutiert haben, nämlich dass man - der Begriff wurde verwendet - Hand in Hand, dass man unter einem Dach die Leute vereinigt, die an und mit den Jugendlichen, mit den jungen Menschen arbeiten. Der entscheidende Punkt ist natürlich - wie immer im Leben: Es kommt darauf an, was steckt unter der Hülle, also mit welchen pädagogischen Konzepten, vor allem mit welchen Hilfsangeboten tritt man den Jugendlichen gegenüber. Wenn das auch noch stimmt, dann ist das mit Sicherheit ein erfolgversprechender Anfang.
    Brinkmann: Ich hab es ja eingangs erwähnt, es gibt zahlreiche Programme und auch Angebote - inwieweit sind manche Angebote verzichtbar, vielleicht auch nur reine Kosmetik und bringen gar nichts?
    Sell: Ja, wir sprechen ja hier von dem sogenannten, ganz wichtig, sogenannten "Übergangssystem", in Anführungsstrichen, manche sagen zu Recht auch, das ist ein Nichtübergangssystem. Da sind zurzeit noch 260.000 junge Menschen in diesem Niemandsland, teilweise zwischen dem Ende der Schule und dem Beruf, der Ausbildung. Das ist aber ein ganz, ganz heterogener Bereich, dort haben wir also Maßnahmen, wo die Leute wirklich im wahrsten Sinne des Wortes nur geparkt werden in irgendwelchen Kursen, berufsvorbereitende Maßnahmen, und auf der anderen Seite gehört aber auch dazu Maßnahmen, wo jemand seinen Schulabschluss nachholt oder einen höheren Schulabschluss erwirbt. Also es ist ein ganz breites Feld. Aber wir wissen, dass dieses Übergangssystem - und das ist nun wirklich schon seit 15 Jahren gesicherte Erkenntnis - bei vielen Jugendlichen dazu führt, dass sie teilweise zwei, drei Jahre da herumvagabundieren, bevor sie dann irgendwo mit einem oder anderthalb Beinen im Ausbildungssystem landen. Und eigentlich fordern alle Experten schon seit langer Zeit, dass dieses Dickicht endlich beseitigt werden muss.
    Ausbildungen sind in den letzten Jahren erheblich schwerer geworden
    Brinkmann: Wie könnte man das denn beseitigen? Vielleicht indem die Betriebe auch aktiver werden, die jungen Menschen dann frühzeitiger in die Praxis holen?
    Sell: Unbedingt! Also wenn wir sehen, in Deutschland ist das Durchschnittsalter am Beginn der Ausbildung liegt mittlerweile bei 19 Jahren. Wenn Sie das mal überlegen - früher haben die Leute mit 14, 15, dann mit 16, 17 angefangen, jetzt bei 19 Jahren, weil sie eben teilweise so lange geparkt in diesen sogenannten Maßnahmen. Ja, das kommt natürlich auch dann auf die Betriebe an, dass die genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Und hier haben wir natürlich ein Problem: Viele Betriebe bewegen sich tatsächlich jetzt auch, sie öffnen sich für diese Jugendlichen. Das tun sie auch deswegen, weil sie unter Druck kommen, denn oben gehen ihnen am oberen Ende immer mehr Jugendliche verloren, die früher eine Ausbildung gemacht haben und jetzt alle an die Hochschulen strömen. Aber wir müssen natürlich sehen, die Ausbildungen selber sind auch in den letzten Jahren erheblich schwerer geworden. Sie können eine Kraftfahrzeugtechnikausbildung heute nicht mehr mit dem Kfz-Mechaniker von vor 20 Jahren vergleichen. Und das heißt auch, wenn sie bereit sind, dann stoßen sozusagen viele Jugendliche hier kognitiv durchaus auf Probleme in der Ausbildung. Und man darf auch nicht vergessen und muss es ehrlich sagen, es sind natürlich zum Teil auch Jugendliche mit erheblichen Verhaltensproblemen oder auch Motivationsproblemen.
    Rieseneisberg, der angeschoben werden muss
    Brinkmann: Herr Sell, wir haben in dieser Woche in vielen Ländern nachgehört, wie es um die Perspektiven für den Nachwuchs steht, und auch darüber berichtet, welche Impulse von der EU ausgehen. Gestern stimmte zum Beispiel das EU-Parlament mit großer Mehrheit einer Resolution über die Jugendarbeitslosigkeit zu - ein großer Wurf oder lediglich wieder mal ein Papiertiger? Wie bewerten Sie das, was die EU in Sachen Jugendarbeitslosigkeit gerade unternimmt?
    Sell: Ach, ich wäre natürlich jetzt an dieser Stelle gerne Optimist, aber wenn Sie das Papier lesen, dann ist das also einer dieser typischen europäischen Verlautbarungsprotokolle: Man wolle etwas tun, man will etwas tun. Das läuft alles viel zu langsam. Wir müssen sehen, wir haben in den Krisenländern der Europäischen Union ja Arbeitslosenquoten bei den Jugendlichen teilweise über die Hälfte, über 50 Prozent. Wir sprechen mittlerweile von einer verlorenen Generation. Das Problem ist, die EU braucht unglaublich lange, um diese Programme ins Laufen zu bekommen. Das ist wie so ein Rieseneisberg, der angeschoben werden muss. Wir müssten aber viel schneller handeln, denn wir wissen aus der Arbeitsmarktforschung, die jungen Menschen, die einen sehr schlechten Einstieg ins Berufsleben bekommen haben, da können wir nachweisen in der Forschung, dass die ihr Leben lang darunter leiden – mit niedrigeren Einkommen, mit höheren Arbeitslosigkeitsrisiken. Das heißt also, wir versündigen uns hier in großem Stile, wir müssten viel, viel mehr tun, gerade in den Krisenländern vor Ort, aber man muss auch realistisch sehen, das wird jetzt sehr, sehr schwierig, weil gerade in den südeuropäischen Ländern so etwas wie das duale Berufsausbildungssystem wie bei uns in Deutschland, was hier viel aufgefangen hat in der Vergangenheit, schlichtweg nicht existiert. Und das können wir auch nicht jetzt per Knopfdruck produzieren. Man hat dort fast nur auf akademische Ausbildung gesetzt, das rächt sich jetzt bitter. Gleichzeitig sollten wir in Deutschland aber auch davon lernen, denn bei uns ist derzeit das duale Berufsausbildungssystem ganz schwer unter Druck und wird substanziell beschädigt, und auch das sollten wir mit berücksichtigen, dass wir das versuchen zu verhindern.
    Brinkmann: Stefan Sell, Arbeitsmarktforscher und Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz über erfolgreiche und weniger erfolgreiche Programme gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Europa.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.