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Jugend, Aufbruch und russische Seele

Sechs junge Autorinnen und Autoren aus Russland stellt der Sammelband "Das schönste Proletariat der Welt" vor. Ihr Oberthema ist durchgängig Aufbruch und Unterwegssein, vorrangig mit der Eisenbahn.

Von Brigitte van Kann | 25.08.2011
    Unterwegssein ist bei dieser Interessenlage ein Leitmotiv aller sechs Texte. Das muss freilich nicht unbedingt bedeuten, dass die Helden, denen wir begegnen, große Strecken zurücklegen. Am weitesten schafft es noch jene Handwerkerbrigade aus dem Ural, die in Alexej Lukjanows satirischer Erzählung Hochdruck den krisenhaften Verhältnissen in ihrer Heimat Richtung Westeuropa zu entkommen sucht. Aber spätestens in Moskau merken die findigen Proleten, dass sich halb Russland auf dem Trip nach Westen befindet, und kehren um. Und siehe da: Kaum wieder auf heimatlichem Boden angekommen, spürt man, dass man hierher gehört und nirgendwo anders hin. Lukjanow hat seine Geschichte der nationalen Identitätsfindung des neuen Russlands zwischen Europa und Asien mit urkomischen Dialogen, irrwitzigen Einfällen und genau dem Quäntchen Realität angereichert, das dafür sorgt, dass der Witz nicht die Bodenhaftung verliert.

    Junge Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren gelten als besondere Risikogruppe, wenn es um die Infektion mit gefährlichen Lebensmittelkeimen geht - das konnte man jüngst in der Zeitung lesen: Es handele sich um die Bevölkerungsgruppe, die zu kochen anfängt, ohne über das nötige küchenhygienische Wissen zu verfügen.

    Was am Herd dramatisch schiefgehen kann, erweist sich in der Literatur als glückliche Konstellation: Das belegen die jungen russischen Erzähler, die dieses spinat grüne Bändchen der Edition Suhrkamp mit dem Titel "Das schönste Proletariat der Welt" in deutscher Übersetzung vorstellt. Zu dem Zeitpunkt, als die Autoren ihre Arbeiten für den russischen "Debüt"-Preis einreichten, war keiner von ihnen älter als 25 Jahre.

    Das ist die Bedingung für die Auszeichnung, die eine Stiftung seit dem Jahr 2000 in den Sparten Lyrik, Essay, Dramatik, lange und kurze Prosaform vergibt. Die Beteiligung ist enorm - jedes Jahr muss die Jury sich durch 30 000 bis 50 000 Texte hindurch lesen.

    Das junge Russland schreibt - und es schreibt frei von jeder verordneten Literaturhygiene der Sowjetzeit, die gerade zu Ende ging, als diese Schriftstellergeneration lesen und schreiben lernte. Die sowjetischen Gebote und Verbote, die Sprachregelungen und Tabus, von einer satten Literaturbürokratie gehegt und gepflegt, gibt es nicht mehr. Kein junger russischer Autor muss sich mehr an einem Kanon abarbeiten und zwischen Dissens und Affirmation entscheiden. Die jungen Russen in diesem Band - alle "Debüt"-Preisträger oder zumindest Finalisten - schreiben nach ihren eigenen Regeln. Ihre Prosa ist nicht aseptisch und clean, dafür aber mit allen Wassern gewaschen.

    Der junge Arbeiter. Ein bestialischer junger Arbeiter, heißblütig und riesengroß, zerschlägt alle Fenster in Papas Haus, kippt Mamas Kanapee um, haut Brüderchen eine runter, versetzt Schwesterchen, die ihn - ach ! - ihr Lebtag nicht vergessen wird, einen Schock, zerquetscht den Eunuchenkater, findet mich in meinem Zimmer, stößt mich in den Bauch, reißt mir die Spitzenborten ab, hebt mich hoch und setzt mich auf wie eine Schraubenmutter und trägt mich weg - lieber Gott, mach, dass es wahr wird! Er ist ein rasender roter Hammer. Ja, natürlich bin ich Sozialistin. Es lebe das Proletariat. Und Papa ist ein Mistkerl, ich hasse diesen Bourgeois. So dachte Walja, die Tochter des Chefingenieurs, auf ihrem Zimmer um elf Uhr vormittags.

    Eine der Miniaturen aus Denis Osokins Prosakomposition "Engel und Revolution. Wjatka 1923." Der Autor schickt seinem Werk eine launige Selbstauskunft voraus:

    Ein paar Worte von Gott dem Herrn. Zum Zeitpunkt der Herausgabe dieses Buchs war der Verfasser der Texte 22 Jahre alt. Er hält sich für einen nicht üblen primitivistischen Schriftsteller und ist gegenwärtig bei der Tscheka in der Stadt Wjatka tätig.

    Die sowjetische Vergangenheit bietet den Debütanten keinen Anlass zur Auseinandersetzung mehr. Sie ist zum Reservoir saftiger Bilder und kräftiger Mythen geworden, aus dem sich die literarische Fantasie spielerisch und nach Gusto bedient. Christiane Körner, die den Band herausgegeben, übersetzt und mit einem aufschlussreichen Nachwort versehen hat, entdeckte zu ihrer eigenen Überraschung, dass die Lebensläufe der hier versammelten jungen Autoren eines gemeinsam haben: Sie stammen allesamt aus der Provinz und sind nach Studium und Ausbildung in einer Metropole auch wieder dorthin zurückgekehrt. Moskau und Petersburg haben für diese Schriftstellergeneration offenbar ihre Anziehungskraft eingebüßt. Literarisch gesehen ist die einst so verachtete russische Provinz dabei, aufzuholen und sich von den Zentren zu emanzipieren.

    "Nach Moskau", wie Tschechows "Drei Schwestern", sehnen sich die Helden dieser selbstbewussten Provinzbewohner nicht. Aber sie sind auch keine Stubenhocker. Viele der Geschichten handeln, ganz altersgemäß, von Aufbruch und Unterwegssein, vornehmlich mit der Eisenbahn. So verquickt die Erzählung "Eisenbahn-Pastorale" die absurde Idee des billigen Reisens auf der Gepäckablage mit der Höhenangst und der ersten Liebe einer jugendlichen Ausreißerin. Nicht die Reise auf der Vertikalen der Zeit, sondern die horizontale Eroberung des Raums - auch darauf weist die Herausgeberin hin - ist ein Merkmal dieser russischen Debütliteratur, wobei sich einige Reisen nur in der Fantasie abspielen. Denis Osokin durchmisst ganz Russland - ohne die Straßen des provinziellen Wjatka zu verlassen.

    Norden - Süden. Laufe ich die Straße entlang, stelle ich mir vor, ich ginge nach Norden, durch die Wälder von Komi, via Streifenhörnchen und Vielfraß, Pinega, Mesen, zum arktischen Ozean, an dessen Ufer die Samojeden in der Dunkelheit frostige Hochzeit feiern. Doch nun habe ich Lust auf Süden - und ich kehre um, laufe in die andere Richtung: Ich gehe und sehe eine andere Sonne, die den halben Himmel einnimmt, weiße Steinhäuser, Mohn und Basilikum; ich gehe und höre, wie die Käfer summen statt der Mücken und wie Akkordeon und Geigen spielen, statt dass die Kiefer knarrt; ich gehe und spüre, wie die Luft um mich her nach Gewürzen duftet. Zieht es mich nach Moldawien, in die Bukowina, nach Kiew, der großen Liebe wegen, gehe ich auf Straßen in südwestlicher Richtung. Nach Osten gehe ich, wenn ich mich verstecken oder bestrafen will.

    Angesichts des weitgehend zusammengebrochenen Buchmarkts in Russland publizieren die meisten jungen Autoren im virtuellen Dorf des Internets. Keiner der in diesem Band versammelten Schriftsteller lebt von seiner literarischen Prosa. Denis Osokin zum Beispiel ist Drehbuchautor und Filmemacher, er arbeitet an einer Serie von Dokumentarfilmen über kleine Völker im Wolga-Gebiet - auch hier also eine Besinnung auf Randständiges, Regionales, abseits vom Mainstream.

    Sein Kollege Aleksej Lukjanow hingegen arbeitete zuletzt als Schmied in einem Industriebetrieb. "Hochdruck", seine fulminante anarchische Farce auf alte und neue Untergangs- , Krisen- und Ausreiseszenarien spielt unter den Arbeitern eines Werks, die gleichmütig alles hinnehmen - rebellisch und der Heimat untreu werden sie erst, als ihnen auf rätselhafte Weise ihre geliebten Flüche und unanständigen Wörter abhandenkommen.

    Wenn die jungen Schriftsteller auf dem Boden der Tatsachen bleiben, wie Polina Kljukina, die in ihren "Geschichten vom neuen Leben" auf Bewährung aus der Haft entlassene Frauen nach Hause begleitet, schauen sie ohne Illusionen, aber auch ohne Resignation auf die Gegenwart, in der sie leben. "Das schönste Proletariat der Welt" - der erste und lange überfällige Sammelband der jüngsten russischen Prosa macht neugierig und weckt den Wunsch nach mehr von dieser Frische, diesem Talent, gepaart mit Witz und erstaunlicher Reife. Und am liebsten in der gekonnten Übersetzung von Christiane Körner. Mögen sie kommen, die jungen Russen.

    Das schönste Proletariat der Welt: Junge Erzähler aus Russland, herausgegeben und übersetzt von Christiane Körner; Edition Suhrkamp