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Jugendkriminalität in den Niederlanden
Zweite Chance statt Strafregister

Beim Diebstahl erwischt und sofort vorbestraft? Jugendliche in den Niederlanden können bei kleinen Delikten juristisch ein unbeschriebenes Blatt bleiben. Das Programm HALT ermöglicht ihnen, ihre Schuld anders zu begleichen als vor Staatsanwalt und Jugendrichter.

Von Kerstin Schweighöfer | 08.10.2019
Jugendlicher Angeklagter im Gerichtssaal (Symbolbild)
Jugendlicher Angeklagter im Gerichtssaal (Symbolbild) (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
Eigentlich möchte sie gar nicht mehr an die Zeit erinnert werden. Sie weiß auch nicht mehr, wie alt sie damals war. Zwölf, vielleicht auch schon 13. Heute ist Amra 21 und studiert in der alten Rembrandtstadt Leiden.
"Mit 13 kommt man sich schon fast erwachsen vor, da lotet man seine Grenzen aus. Wie das in der Pubertät halt so ist. Ich fing an zu klauen. Alle taten das. Aber eines Tages nach der Schule im Drogeriemarkt bin ich mit meinen Freundinnen erwischt worden."
Was sie damals gestohlen hat? Auch das weiß Amra nicht mehr so genau. Einen Lippenstift. Eine Dose Energydrink.
Alternativen, damit das Führungszeugnis sauber bleibt
Ihre Eltern Moniek Hulst und Vincent van den Hoven hingegen, die wissen es noch sehr genau: Eine Tafel Schokolade sei es gewesen, ein Kamm und ein Lippenstift.
"Die Polizei rief an und sagte: 'Bitte erschrecken Sie jetzt nicht, aber wir haben ihre Tochter festgenommen.' Natürlich habe ich mich doch erschrocken – und zwar sehr! Auf der Fahrt zum Polizeibüro überlegte ich fieberhaft, wie ich am besten darauf reagieren sollte. Und ich beschloss, böse zu werden, sehr böse!"
"Mein Mann hat sich das noch mehr zu Herzen genommen als ich, der war fix und fertig. Seine Tochter – eine Diebin. Aber natürlich wollte auch ich, dass alles wieder gut werden und für Amra ohne Folgen bleiben würde. Und es ist gut geworden – wir haben dafür in den Niederlanden nämlich eine sehr gute Methode – und die heisst HALT!"
Rik Quint und Kadija Sanders vom niederländischen HALT-Programm
Rik Quint und Kadija Sanders vom niederländischen HALT-Programm (Deutschlandradio / Kerstin Schweighöfer)
HALT. Eine Abkürzung für Het Alternatief, die Alternative. Denn HALT sorgt dafür, dass jugendliche Straftäter zwischen zwölf und 18 Jahren, die nur leichte Delikte begangen haben wie etwa Ladendiebstahl oder Vandalismus, alternativ bestraft und korrigiert werden – und zwar ganz ohne Staatsanwalt und Jugendrichter, die normalerweise aktiv werden würden. Strafrechtlich gesehen bleiben diese Jugendlichen dadurch ein unbeschriebenes Blatt, betont HALT-Mitarbeiter und Jurist Rik Quint in der Hauptniederlassung der Organisation in Utrecht:
"Was wir machen, ist ziemlich einzigartig. Wir haben zwei Ziele: erstens verhindern, dass Jugendliche straffällig werden. Das machen wir mit Aufklärungskampagnen an Schulen und in Sportvereinen. Und wenn sie doch einen Fehler machen und eine Straftat begangen haben, dann wollen wir verhindern, dass sie ihn ein zweites Mal machen. Sie sollen den Fehler einsehen und akzeptieren, dass sie dafür bestraft werden. Und das alles, ohne dass sie ein einen Eintrag im Strafregister bekommen und deshalb später vielleicht Probleme im Job oder bei der Ausbildung."
"Bestrafen ja, aber es muss etwas nützen"
Voraussetzung: Die Jugendlichen müssen geständig sein. Dann bekommen sie bei HALT eine zweite Chance. Die verdiene jeder, erst recht junge Menschen:
"Vielen Leuten können die Strafen nicht hart genug sein, sie denken, nur damit könne etwas erreicht werden. Wir hingegen sagen: Bestrafen – ja. Aber es muss etwas nützen. Im niederländischen Jugendstrafrecht werden Haftstrafen erst ganz am Schluss eingesetzt, sie sind das allerletzte Mittel. Weil Wegschliessen in der Regel nichts nützt."
Rund 17.000 Jugendliche werden jedes Jahr zu HALT weitergeleitet, in der Regel von der Polizei. Daraufhin nehmen die HALT-Mitarbeiter mit den Eltern Kontakt auf, um einen Termin für das erste von insgesamt drei Gesprächen auszumachen.
Als Erstes wird versucht, Ursache und Umstände der Straftat zu klären, berichtet HALT-Pädagogin Kadija Sanders:
"Die Jugendlichen reagieren sehr unterschiedlich. Viele schämen sich furchtbar und brechen bei jedem Gespräch in Tränen aus. Andere versuchen, cool zu sein, wir müssen erst zu ihnen durchdringen. Denn um etwas zu lernen, müssen sie offen sein."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Leere Gefängnisse, mächtige Staatsanwälte – Justiz in den Niederlanden".
Nächster Schritt: Die Jugendlichen bekommen einen Auftrag, in dem sie sich mit ihrem Verhalten auseinandersetzen müssen, etwa in einem Aufsatz oder mit einer Powerpoint-Präsentation. Sehr oft geht es dabei um Gruppenzwang, erklärt Rik Quint:
"Weil viele Delikte unter dem Einfluss einer Gruppe begangen werden. Wir versuchen den Jugendlichen beizubringen, wie sie Nein sagen können. Wenn es nötig ist, üben wir das auch im Rollenspiel."
Entschuldigung und Schadenersatz gehören dazu
Was ebenfalls oft geübt werden muss: das Entschuldigen. Denn auch das gehört dazu. Die jugendlichen Täter werden immer mit ihren Opfern konfrontiert und müssen sich entschuldigen. Für viele der schwerste Teil des HALT-Programms. Außerdem müssen sie Schadenersatz zahlen: bei Ladendiebstahl maximal 150 Euro, bei Vandalismus bis zu 900 Euro.
Bei der Bestimmung des Strafmaßes gilt ein Maximum von 20 Arbeitsstunden, abhängig von Delikt und Alter. Das kann Abwaschen in der Küche eines Pflegeheims sein, Stall ausmisten auf dem Bauernhof oder Regale füllen im Supermarkt. Wenn möglich, wird die Strafe auf das Delikt abgestimmt.
Amra zum Beispiel musste im Drogeriemarkt einen halben Tag lang putzen und die Böden wischen, erzählt ihre Mutter. Sie ist froh, dass diese Jugendsünde keine Folgen für Amras weiteres Leben hatte – und dass es bei dieser einen geblieben ist.