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Jugendliche als Experten in Multikulti

Nirgendwo in der Gesellschaft ist das Zusammentreffen von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft so direkt und unumgänglich wie im Alltag der Schule. Deswegen startet das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen ein Forschungsprojekt, das sich Möglichkeiten des interkulturellen Zusammenlebens von Schülern abgucken und daraus lernen möchte.

Von Peter Leusch | 25.06.2009
    "Ane, Baba - ich muss Euch was sagen."

    "Was hast Du jetzt schon wieder angestellt, Kind?"

    "Ich bin verliebt."

    "Erzähl!"

    "Ich liebe ihn über alles, und er liebt mich auch. Und - ja - da gibt es ein Problem."

    ""Was?"

    ""Ja, der ist nicht so wie wir. Der ist ein Deutscher."

    "Oh, mein Gott!"

    Ein türkisches Mädchen gesteht zu Hause, dass sie sich in einen deutschen Jungen verliebt hat. Die Eltern sind entsetzt. Längst hatten sie doch schon einen muslimischen Ehemann für die Tochter ausgesucht. Was soll nun werden?

    Diesen multikulturellen Beziehungskonflikt haben Schülerinnen und Schüler in einem Theaterworkshop auf die Bühne gebracht. Die Jugendlichen gehören zu einem Kunstkurs der Jahrgangsstufe elf, in der zwei Gelsenkirchener Schulen - das Ricarda-Huch- und das Grillo-Gymnasium - eng zusammenarbeiten.

    Hier, im Herzen des Ruhrgebiets, leben viele Zuwanderer, und das spiegelt sich, so der Kunstlehrer Jürgen Otto, auch in der Zusammensetzung des Kurses.

    "Wir haben einen relativ hohen Migrationsanteil. Im Kurs liegt der - überschlagen - bei 30 Prozent, und das entspricht proportional dem, was an der Schule an Migrationshintergrund da ist. Vornehmlich ist es der türkische Hintergrund, dann - jetzt auch häufiger - sind viele Migranten aus Russland dabei - und einige aus Kroatien, Italien, Bosnien, Griechenland und so weiter."

    Der Kunstkurs von Jürgen Otto beteiligt sich an einem Forschungsprojekt, das vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen im vergangenen Jahr initiiert wurde. Das Projekt soll Formen interkulturellen Verstehens an Schulen des Ruhrgebiets untersuchen.

    Neuartig ist dabei der methodische Ansatz der Wissenschaftler. Denn es geht nicht darum, einmal mehr von oben herab, aus den Höhen der Theorie schöne Konzepte in die vermeintlichen Niederungen der schulischen Realität zu tragen, sondern vielmehr umgekehrt: unten, an der Basis Einsichten zu gewinnen, aus dem praktischen Verhalten der Schüler Erkenntnisse zu ziehen, die man dann theoretisch reflektieren und weiterentwickeln kann.

    Denn nirgendwo sonst in der Gesellschaft ist das Zusammentreffen von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, religiöser und kultureller Prägung so direkt und unumgänglich wie im Alltag der Schule. Wo, wenn nicht hier, könnten sich konstruktive Formen des Miteinanders entwickeln, erklärt der Soziologe Ronald Kurt, einer der beiden Leiter des kulturwissenschaftlichen Projekts.

    "Wir gehen davon aus, dass Schüler und Schülerinnen des Ruhrgebiets Lösungen für die Probleme des multikulturellen Zusammenlebens in dieser Gesellschaft bereithalten. Anders gesagt: Wir geben den Schülern die Rolle von Experten für interkulturelles Verstehen. Ob wir damit richtig liegen oder nicht, das wissen wir nicht, das muss das Projekt ja ergeben. Und zu diesem Zweck haben wir eine bestimmte Methode angewendet, um herauszukriegen, was die Schüler unter Umständen von sich selber auch nicht wissen."

    "Ich wusste am Anfang echt nicht, was ich erzählen sollte. Doch dann wurden Fragen gestellt, wurde nachgebohrt."

    "Man hat sich das erste Mal mit solchen Fragen überhaupt auseinandergesetzt: wie die Leute aufeinander zukommen, wenn man in einer neuen Umgebung ist, wie man sich in der Schule fühlt und so."

    "Ob hier Integrierung ist oder Grüppchen - und dann konnte man seine Erfahrungen aus der Schule erzählen."

    "In der Pause sehe ich schon Gruppen, wo nur Türken sind; und auf der anderen Seite nur Deutsche. Und es sind selten türkische Mitschüler in den deutschen Gruppen mit dabei."

    Die erste Phase des Projekts bildeten Einzelinterviews mit den Jugendlichen. 22 der 50 Kursteilnehmer haben an den Gesprächen teilgenommen. Sie wurden nach ihren Erfahrungen, Beziehungen und Konflikten mit Angehörigen anderer Kulturen befragt. Die Eröffnungsfrage lautete, was denn für sie fremd sei, berichtet Alexander Welp, einer der Schüler.

    "Also ich kann mich noch daran erinnern, dass ein Schüler gesagt hat, dass ihm ein Handy sehr fremd sei, weil er noch nie ein Handy selber hatte. Aber ich kann mich auch noch daran erinnern, dass niemand etwas Fremdes mit kulturellen Unterschied verbunden hat. Das hat mich schon überrascht."

    Es gab noch weitere bizarre Antworten auf die Frage, was fremd sei. Die Schüler dachten an seltene Autotypen und andere unbekannte Dinge, an alles Mögliche nur nicht an ihre Klassenkameraden mit Migrationshintergrund. Und die Forscher waren mit ihrer abstrakten Frage ins Leere gelaufen, aber in der Enttäuschung lag auch eine erste Erkenntnis. Die Gegenwart von Mitschülern, die eine andere ethnische und kulturelle Prägung mitbringen, ist schon viel zu selbstverständlich, als dass sie noch unmittelbares Befremden auslöst.

    Im Mittelpunkt der zweiten Phase des Forschungsprojekts standen Gruppengespräche über all jene Aspekte, die in den Interviews aufgetaucht waren. Und Diskussionen darüber, wie man bestimmte Konflikte lösen könnte. Dabei zeigte sich auch - das war ja die Ausgangsüberlegung der Wissenschaftler -, dass die Schüler in der Praxis bereits Formen einer interkulturellen Rücksichtnahme entwickelt hatten, ohne dies freilich zu reflektieren.
    Dazu der Philosoph Alfred Hirsch. Er ist der zweite Leiter des Forschungsprojektes.

    "Wir hatten eine Situation, wo es um die unterschiedlichen Ernährungs- und Essgewohnheiten unterschiedlicher Kulturen ging, wo den Schülern gar nicht bewusst war, dass sie eine Art stilles Abkommen miteinander getroffen hatten, beispielsweise in der Zeit des Ramadans nicht in der Nähe von islamischen Schülern das dicke Butterbrot auf den Tisch zu legen und auszupacken, sondern sich zur Seite zu begeben und die Religionspraktiken der anderen Seite zu respektieren und abseits zu essen."

    Für die Gruppengespräche haben die Forscher allerdings - entgegen ihrer ursprünglichen Intention - zusätzliches Material eingebracht, um die Schüler zu möglichst kontroversen Diskussionen anzuregen, zum Beispiel eine Nachricht aus dem Internet über ein deutsch-türkisches Liebesdrama.
    In der dritten Phase, die gerade abgeschlossen ist, nahmen neun Kursteilnehmer an einem Theaterworkshop teil. Hier haben sie, unterstützt von der Schauspielerin und Theaterpädagogin Günfer Cölgecen, verschiedene Sketche zu interkulturellen Konflikten erarbeitet und schließlich ihren Klassenkameraden vorgespielt.

    "Wichtig für das Projekt war, dass die Jugendlichen erst mal ihre eigenen Ideen entwickeln und sich selber zur Sprache bringen, ohne dass von außen ihnen etwas vorgegeben oder ein Lösungsvorschlag angegeben wird, das heißt in unserem Projekt hatten die Jugendlichen überhaupt die Möglichkeit, ihr Thema erst einmal anzunehmen und dann im Spiel miteinander verschiedene Wege auszuprobieren."

    Für die heftigsten Diskussionen sollte dabei das interkulturelle Romeo-und-Julia-Drama sorgen.

    Das türkische Mädchen hofft bis zuletzt ihren deutschen Freund heiraten zu dürfen, sieht noch eine Chance darin, dass er - natürlich gegen den Willen seiner Eltern - zum Islam übertritt. Ihre Eltern jedoch bestehen auf dem Ehemann, den sie selber vorbestimmt haben. Wird sich das Liebespaar den Eltern unterwerfen? Oder werden die beiden mit Familie und Tradition brechen und nur ihrem Gefühl und der Freiheit folgen? Oder gehen sie voller Verzweiflung gemeinsam in den Tod?

    Im Workshop hatten zwei Jugendliche als sogenannte Problemlöser verschiedene Ausgänge des Dramas erörtert und den Schauspielern vorgeschlagen.

    "Letztendlich haben die beiden Protagonisten sich in erster Linie dafür entschieden, ihrer Liebe treu zu bleiben; haben sich aber entschlossen, trotzdem der Gesellschaft und den Eltern gerecht zu werden, indem das türkische Mädchen den Mann geheiratet hat, den die Eltern eigentlich vorbestimmt hatten. Der deutsche Junge hat beschlossen, nicht eifersüchtig zu sein. Und die beiden haben dann gemeinsam beschlossen, weiterhin eine Affäre zusammen zu haben. Das heißt, sie haben letztendlich etwas sehr Eigenes aus der Situation gemacht."

    Alexander Welp hat den deutschen Jungen gespielt.

    "Die Reaktionen waren sehr gemischt, manche haben gesagt, das sei in Ordnung so, wie wir das gemacht hätten, und andere waren damit überhaupt nicht einverstanden. Die konnten das nicht nachvollziehen, dass man die Eltern so hintergeht, obwohl man ihnen vorspielt, was sie sehen wollten."

    Unter den Schülern, die die Aufführung gesehen haben, gab es lange und heftige Diskussionen. Die Jugendlichen haben noch einmal alle denkbaren Lösungsmöglichkeiten vorgebracht. Der gewählte Ausgang - Zwangsehe plus Affäre - scheint auch nicht besonders realistisch. Er will allen gerecht werden und wird es am Ende wohl keinem. Aber in der gestalterischen Auseinandersetzung mit interkulturellen Problemen und in der Provokation der Zuschauer erfüllte der Workshop seine eigentliche Funktion.

    "Es geht ja darum, in einer ästhetischen Distanz Möglichkeiten durchzuspielen und auszuloten. Man ist der Realität nicht verpflichtet, aber man kann Möglichkeitsentwürfe anbieten. Das ist der Sinn des Improvisationstheaters, weil er eben nicht dazu verpflichtet, persönlich für etwas einzustehen. Und wenn das auch noch Spaß macht, da haben wir nichts dagegen. Gerade die Verknüpfung von Wissenschaft, Kunst und Bildung in der Schule, das ist ja das Ziel, dass in diesem Zirkel Synergien entstehen, von denen alle profitieren können."

    Parallel zum Theaterworkshop hat der Kunstkurs das Thema Interkulturalität im Unterricht mit anderen Medien erforscht und gestaltet, insbesondere über Video und Fotografie.

    "Eine Schülerin zum Beispiel hat ein Video gedreht, wo sie durch die Gelsenkirchener Innenstadt gelaufen ist: einmal komplett verschleiert und einmal ohne. Und gefilmt wurden die Reaktionen der Passanten, die vorbeigehen, wie sie auf die identische Person reagieren, wenn sie anders gekleidet ist. Auch da gab es keine Lösungen, sondern es wurde ein Bewusstsein entwickelt, eine Wahrnehmung geschärft für Dinge, die täglich passieren."

    Jürgen Otto will im nächsten Schuljahr das Thema Interkulturalität in einem Literaturkurs fortsetzen. Auch das Forschungsprojekt des Kulturwissenschaftlichen Instituts läuft weiter bis 2010, und eine Förderung bis 2011 ist beantragt. Denn die Kooperation mit den beiden Gelsenkirchener Gymnasien bildete nur die erste Runde.

    "Wir planen für den Herbst, mit zwei weiteren Schulen zu kooperieren. Das sind andere Schulformen, einmal eine Gesamtschule in Essen und eine Hauptschule in Duisburg. Dann hoffe ich, dass wir mit dem Improvisationstheater als einer möglichen Ausdrucksform enden werden, die wir dann bei einer Art Workshop, der auch theoretisch begleitet sein wird, hier in Essen Anfang März 2010 präsentieren wollen, zum Thema: Fremdheit und kulturell Fremdes verstehen."

    Die Zwischenergebnisse des Forschungsprojektes könnten helfen, ein Missverständnis aufzuklären. Interkulturelles Verstehen findet nicht zwischen zwei fest gefügten Blöcken statt: hier das Eigene, dort das Fremde; hier die Deutschen, dort die Migranten. Vielmehr handelt es sich um ein Terrain mit zahlreichen Übergängen, Überlagerungen und Zonen, wo sich die Jugendlichen verständigen.

    Auch was wir für deutsche Identität halten, ist nichts Festgeschriebenes - wenn man sich zum Beispiel vor Augen führt, wie sich die deutsche Kultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter den internationalen, vor allem amerikanischen Einflüssen verändert hat.

    "Die Diskussion zeigt, dass kulturelle Identität nichts Statisches ist, sondern sehr fließend ist, und dass man vielleicht selber gar nicht merkt, wie sehr man 'wegfließt' von der sogenannten eigenen Kultur in eine andere hinein. Und das ganze muss man auch immer pragmatisch sehen. In welchem sozialen Zusammenhang ist es nützlich, sich der anderen Kultur zu öffnen? Und wo ist es besser, mit anderen eine Gruppe zu bilden, die sich von anderen abgrenzt? Das wird nicht theoretisch entstanden, sondern das zeigt sich einfach in der Lebenspraxis."

    Allerdings findet interkulturelles Verstehen nicht zwischen gleich mächtigen Partnern statt. Deutsch ist die Mehrheitskultur. Auch wenn Döner, anatolische Gemüseläden und Urlaube an der türkischen Riviera im deutschen Bewusstsein etabliert sind, so ist die Zumutung an die Migranten weit radikaler. Ihre existenzielle Zerrissenheit spiegelt sich zum Beispiel darin, dass Mitbürger hierzulande auch in der zweiten und dritten Generation als Türken, in der Türkei jedoch als Almanca, als Deutschländer, bezeichnet werden.

    In einer Welt, die sich zunehmend globalisiert, in einer Zeit, in der auch Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden ist, reicht guter Wille allein nicht aus, um die anderen zu verstehen und um sich selber kulturell zu orientieren. Es stellt vor allem eine geistige Herausforderung für Jugendliche und für alle dar, so das Zwischenfazit von Ronald Kurt:

    "Interkulturelles Verstehen - der Schlüssel dazu, ist natürlich Wissen. Ich muss mich dafür interessieren, für Formen des Andersseins. Dann kann ich mich immer noch entscheiden, ob ich mich dahin bewege oder ob ich mich davon abgrenzen möchte. Eine Bemerkung habe ich noch von einer Schülerin im Ohr, die hat gesagt: Ich weiß ja, wo es denen wehtut. Sehr interessant - das heißt, ich weiß, wie ich den anderen verletzen kann, und umgekehrt ausgedrückt, ich weiß auch, wie ich ihn schonen kann oder wie ich gut für ihn sein kann. Und mit diesem differenzsensiblen Wissen kann man seinen Schulalltag bestreiten. Das gilt nicht nur für die Schule, das ist ein Mikromodell für die Gesellschaft im Allgemeinen."