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Jugendorchester in Corona-Zeiten
Kreativ statt stillgelegt

Jugendorchester leiden besonders unter den Corona-Maßnahmen: Abgesagte Konzerte werden selten nachgeholt – und eine wichtige Phase der musikalischen Entwicklungsmöglichkeiten ist unwiederbringlich vorbei. Dennoch gibt es ermutigende Perspektiven.

Von Sylvia Systermans | 24.05.2021
Die Musiker sitzen und stehen bunt gemischt in Freizeitkleidung in einem modernen, weißen Raum.
Ein Spitzenorchester für den musikalischen Nachwuchs: die Junge Deutsche Philharmonie. (Junge Deutsche Philharmonie / Achim Reissner)
Jede Krise birgt eine Chance. Für das Bundesjugendorchester, das pandemiebedingt sämtliche Konzerte zum Beethoven-Jubiläum streichen musste, lag die Chance in ein paar Lücken im sonst prall gefüllten Terminkalender von Stardirigent Paavo Järvi. Ob er sich vorstellen könne, mit dem Jugendorchester für die ausgefallene große Arbeitsphase ersatzweise Beethovens Siebte einzustudieren. Paavo Järvi konnte. Eine Woche schlossen er und 50 Jugendliche sich in einem Bonner Hotel ein und probten. Unter strengen Hygieneregeln versteht sich.

Glück beim Timing

"Das war ein absolutes Highlight. Das war auch für viele BJO-Mitglieder wirklich der Zenit dieses Jahres", sagt Sönke Lentz, Projektleiter des Bundesjugendorchesters.
"Und das war aber in der Form auch nicht wiederholbar, weil wir kurz vor dem zweiten Lockdown diese Phase beenden konnten, mit einem Livestream-Konzert und einer CD-Produktion. Und dann ging wieder alles runter, das heißt, wir hatten großes Glück und konnten daran nicht direkt wieder anschließen."
Eine Musikerin des Bundesjugendorchester probt im Konzerthaus in Berlin auf ihrer Harfe.
50 Jahre Frische Das Bundesjugendorchester BJO ist das nationale Jugendorchester der Bundesrepublik Deutschland. Hierin treffen sich junge Musikerinnen und Musiker, um zwischen Kulturen und Generationen Brücken zu bauen. 2019 feierte das BJO seinen 50. Geburtstag.

Problem der Altersgrenze

Glück im Unglück. Dass ansonsten bis heute sämtliche Proben, Konzerte und Tourneen ausgefallen sind, trifft Jugendorchester wie das BJO besonders hart, sagt Sönke Lentz.
"Das ist das, was besonders schmerzt. Dass wir die Dinge, die wir geplant haben, in Teilen in die weitere Zukunft verschieben können, das ist möglich, aber die Jugendlichen, die das eigentlich hätten spielen sollen, werden es nicht spielen können. Weil sie möglicherweise in diesen anderthalb Jahren, die wir jetzt mit der Pandemie zu kämpfen haben, zu alt geworden sind, um im Bundesjugendorchester mitzuspielen."
Zwischen 14 und 19 Jahre sind Mitglieder im Bundesjugendorchester alt, einem der renommierten Prestigeprojekte des Deutschen Musikrates. Wer die Altersgrenze erreicht hat, kann sich in normalen Zeiten beim nächsten Spitzenorchester für den musikalischen Nachwuchs bewerben, der Jungen Deutschen Philharmonie. Cellistin Karolin Spegg und Schlagzeuger Justin Auer engagieren sich im Vorstand des selbstverwalteten Orchesters, aus dem einst Ensembles wie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen oder das Ensemble Modern hervorgegangen sind. Subjektiv haben Karolin Spegg und Justin Auer den verordneten Stillstand sehr unterschiedlich erlebt.
"Ich hatte eigentlich nie das richtige Tief muss ich sagen, ich habe eigentlich immer noch Freude empfunden am Musizieren, am Spielen, am Üben."
"Ich habe tatsächlich zu denen gehört, die erst einmal am Anfang des ersten Lockdowns irgendwie wirklich totales Motivationsloch hatten. Dann kam bei mir auch noch hinzu, dass ich eigentlich ein Praktikum hatte und ich hatte mich fürs Studium beurlauben lassen. Das heißt, ich hatte plötzlich nichts mehr, ich hatte plötzlich weder Studienalltag noch Praktikum und wusste nicht wohin mit mir."

Stau bei den Probespielen

Die Vorstandsarbeit in der Jungen Deutschen Philharmonie hat Karolin Spegg und Justin Auer durch den Lockdown hindurch ordentlich auf Trab gehalten. Mit ihren Kollegen organisierten sie unter anderem einen Online-Kammermusikwettbewerb und sie verfassten einen offenen Brief zum Thema "Probespiele", also den Bewerbungsrunden für Akademien und freie Stellen bei professionellen Orchestern.
"Meistens geht die Probespiel-Saison von Mai bis in den Sommer hinein, für die nächste Spielzeit. Und die wurden natürlich alle ausgesetzt. Das haben wir aus unserem persönlichen Umfeld erfahren und haben dann eben diesen offenen Brief geschrieben und darin auch einiges gefordert, dass zum Beispiel die schon bestehenden Akademien verlängert werden."
"Weil eine Akademie oder ein Praktikum auf ein oder zwei Jahre begrenzt ist. Und wenn man dann davon ein halbes Jahr nicht mehr spielt, das einem Chancen nimmt, um Erfahrungen zu sammeln. Gleichzeitig befeuert es das Problem natürlich auch: Wenn man diese Praktika und Akademien verlängert, dann werden keine neuen Stellen frei und deshalb gibt es gerade einen unglaublichen Stau."

"Als würde die Europäische Union nicht existieren"

Jugendorchester und die Pandemie. Es ist ein komplexes Gefüge, das hier aus dem Tritt geraten ist, mit tiefgreifenden Konsequenzen für die Zukunftspläne vieler junger Musikerinnen und Musiker. Die Erfahrung macht auch Marshall Marcus, CEO des Jugendorchesters der Europäischen Union.
"In dieser Zeit, im März und April 2020, hat die Pandemie unsere Musikerinnen und Musiker wie ein Schlag ins Gesicht getroffen. Wir mussten uns sehr intensiv um sie kümmern. Ich habe eine gewisse Verunsicherung bemerkt und wir haben alles getan, um ihnen zu helfen, mit dieser neuen Situation zurechtzukommen."
Rund 150 Musikerinnen und Musiker aus allen 27 Mitgliedsländern der EU sind im Jugendorchester der Europäischen Union versammelt. Normalerweise kommt das European Union Youth Orchestra, kurz EUYO, zu zwei großen Projektphasen im Jahr zusammen, mehrere Wochen mit Proben und weltweiten Konzerten. Musikerinnen und Musiker zwischen 16 und 26 Jahren auf dem Sprung ins Berufsleben. Kreativität war gefragt, um wegen des Lockdowns aus dem Stand alternative Projekte zu entwickeln, Enttäuschungen bei den Musikern aufzufangen, neue Perspektiven aufzuzeigen. Ein Orchester mit 150 Mitgliedern aus 27 Nationen zu managen ist unter normalen Bedingungen schon ein Kraftakt. Im Zeichen der Pandemie beinahe unmöglich, sagt Marshall Marcus.
"Wir mussten schauen, welche Pandemie-Regeln die 27 verschiedenen EU-Staaten aufgestellt haben. Bei einigen Ländern gab es beispielsweise keine Probleme bei der Einreise oder Ausreise von Musikern. In anderen Ländern dagegen schon. Es war auf einmal so, als würde die Europäische Union nicht existieren. Schrecklich!"

Verlorene Jahre

Wie viele Profi-Orchester haben auch Jugendorchester wie das EUYO, die Junge Deutsche Philharmonie oder das Bundesjugendorchester Aktivitäten ins Netz verlegt, mit Workshops, Tutorials, Kammerkonzerten, Wettbewerben. Nichts davon kann die ausgebliebenen Orchestererfahrungen ersetzen. Was ein oder womöglich noch mehr verlorene Jahre im Jugendorchester bedeuten können, skizziert Sönke Lentz vom BJO.
"Ich glaube schon, dass bei einigen Jugendlichen diese existentiellen Fragen, möchte ich Musikerin oder Musiker werden, gerade in dieser Zeit gestellt werden. Und dass die in normalen Zeiten mit Ja beantwortet werden und in diesen Zeiten mit Nein beantwortet werden oder zumindest mit einer großen Unsicherheit, weil sich plötzlich zeigt, dass das, was jetzt so eine Pandemie angeht, keine krisenfesten Jobs sind."