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Jugoslawien-Tribunal
Den Opfern eine Stimme geben

Das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag hat sich zum Ziel gesetzt, alle 161 Verfahren bis 2017 in erster Instanz durchzuführen. Die Rechtsprechung ist dabei weiterhin ein Experimentierfeld, hat sich aber durch das Tribunal stark weiterentwickelt.

Von Kerstin Schweighöfer | 21.03.2014
    Zwei Jahre ist es her, dass vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien die Schlussplädoyers gegen Vojislav Seselj gehalten wurden. Das Urteil gegen den Chef der serbischen Ultranationalisten hätte schon im letzten Oktober verkündet werden sollen. 28 Jahre Haft fordert die Anklage. Sie macht Seselj für den Tod hunderter Menschen verantwortlich. Zwischen 1991 und 1994 soll er zu Mord, Folter, Verfolgung und Vertreibung aufgerufen und angestiftet haben.
    Schon vor gut elf Jahren, im Februar 2003 hatte sich der inzwischen 54 Jahre alte Jurist, Politiker und Führer der Serbischen Radikalen Partei dem Tribunal gestellt - und auf unschuldig plädiert. Dass sich sein Prozess so in die Länge zieht, liegt zum einen an Seselj selbst: Er ist einer der schwierigsten der insgesamt 161 Angeklagten. Seselj gilt als Quälgeist, der nichts unversucht lässt, um seinen Prozess zu sabotieren und allen Beteiligten das Leben schwer zu machen. Er ließ vertrauliche Informationen ins Internet stellen, soll Zeugen eingeschüchtert haben und trat auch schon in den Hungerstreik. Gleichgültig, ob Richter, Ankläger oder Zeugen – immer wieder hat Seselj sie aufs Übelste beschimpft, beleidigt, und er fiel ihnen ins Wort:
    Dass ein Urteil immer noch auf sich warten lässt, liegt aber auch an einem der Richter, dem Dänen Frederik Harhoff. Er hatte in einem Brief an Kollegen seiner Empörung über mehrere umstrittene Freisprüche in anderen Verfahren freien Lauf gelassen. Der Brief gelangte im letzten Sommer an die Öffentlichkeit. Seselj stellte daraufhin einen Befangenheitsantrag gegen Harhoff - mit Erfolg: Erstmals in der Geschichte des Tribunals wurde einem Richter ein Prozess entzogen. Seitdem wird nicht mehr verhandelt. Ein neuer Richter arbeitet sich derzeit ein.
    Damit sei der Seselj-Prozess vollends zum Albtraum geworden, sagt Göran Sluiter, Professor für internationales Strafrecht an der Universität von Amsterdam:
    "Der dänische Richter hat vollkommen unverantwortlich und unprofessionell gehandelt. Er hat nicht nur dem Tribunal und seinen Kollegen Schaden zugefügt, sondern auch dem Verfahren selbst, das kurz vor dem Abschluss stand. Wirklich unbegreiflich."
    Debatte um umstrittene Freisprüche
    Der Skandal um Richter Harhoff hat dem Tribunal gerade noch gefehlt, durch die umstrittenen Freisprüche war es ohnehin schon in die Schlagzeilen geraten. Sein Ruf litt wie nie zuvor in den 20 Jahren seines Bestehens. Und das sozusagen auf der Zielgeraden - kurz vor der Schließung dieses Ad-Hoc-Tribunals. 1993 war es vom UN-Sicherheitsrat ins Leben gerufen worden. Bis 2017 sollen alle Verfahren in erster Instanz abgeschlossen sein.
    Zu den umstrittenen Freisprüchen gehört der von Ante Gotovina: Der frühere kroatische General wurde im November 2012 von der Berufungskammer freigesprochen, obwohl er in erster Instanz zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war. Gotovina hatte 1995 das Kommando in der "Operation Sturm” geführt. Dabei wurden Zehntausende von Serben bei der Rückeroberung aus der kroatischen Region Krajina vertrieben. Mehr als 300 serbische Zivilisten kamen ums Leben. Die USA hatten die Vorbereitung dieser militärischen Operation unterstützt, sie zunächst geduldet und schließlich gestoppt.
    Fünf Monate nachdem Gotovina freikam, im März 2013, wurde auch Momcilo Perisic freigesprochen. Der frühere bosnisch-serbische General stand in Den Haag wegen der Kriegsverbrechen in Sarajewo und Srebrenica vor Gericht. 27 Jahre Haft lautete das Urteil in erster Instanz, doch die Berufungskammer sprach auch ihn frei. Überlebende und Angehörige von Opfern zeigten sich entsetzt. Serge Brammertz, seit 2008 Chefankläger in Den Haag, verstand die Welt nicht mehr:
    "Es ist schon so, dass Freisprüche natürlich normalerweise Bestandteil unserer Arbeit sind. Aber ich gebe gerne zu, dass in den 20 Jahren, in denen ich Staatsanwalt bin, die Freisprüche Gotovina und Perisic auch bei mir einige Bedenken geweckt haben. Es ist in der Tat sehr schwierig gewesen, diese Entscheidungen zu akzeptieren, weil es natürlich auch sehr schwer war, das nach außen zu vermitteln. Wenn es schon für uns als Anklagebehörde schwierig ist, faktuell und juristisch zu begreifen, warum diese Freisprüche erfolgt sind, dann können Sie sich vorstellen, wie schwierig es sein muss für Hinterbliebene von Familienopfern."
    Für die umstrittenen Freisprüche waren wenige Fragen entscheidend: Inwieweit können ranghohe Offiziere für die Kriegsverbrechen ihrer Untergebenen verantwortlich gemacht werden? Sind Lieferungen von Waffen für Konflikte, in denen Kriegsverbrechen begangen werden, ebenfalls Kriegsverbrechen? Nicht unbedingt! Urteilten drei der insgesamt fünf Richter der Berufungskammer – und hatten damit die Mehrheit. Und das, obwohl deshalb in der Vergangenheit bereits eine ganze Reihe von Angeklagten zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden war.
    Dass die Berufungskammer in diesen Fällen zugunsten der Angeklagten urteilte, soll Spekulationen zufolge auf politischen Druck aus Israel und den USA zurückgehen. Die militärische Elite dort, so heißt es, habe Angst, eines Tages selbst zur Rechenschaft gezogen zu werden. Auch der dänische Richter Harhoff behauptet das in seinem Brief.
    Keine Klarheit in der Rechtsprechung
    Andere Vertreter des Tribunals gehen auf diese Spekulationen nicht ein. Unabhängige Organisationen, wie Human Rights Watch, halten nichts von ihnen. Auch Rechtsexperten wie der Niederländer Sluiter weisen sie ins Reich der Fabeln: Ausschlaggebend – und das hätten die Freisprüche offenbart – sei vielmehr die große Uneinigkeit der Richter. Das zeige, wie undeutlich die internationale Rechtsprechung sei, rügt der Amsterdamer Anwalt und Strafrechtsprofessor Geert Jan Knoops. Er war bereits für verschiedene Tribunale als Verteidiger und Rechtsberater im Einsatz:
    "Wir müssen uns fragen, wie einheitlich die internationale Jurisprudenz in ihrer heutigen Form ist und wie bindend die Urteile des Jugoslawientribunals in Zukunft sein werden. Das internationale Strafrecht hat sich dank dieses Tribunals zwar enorm entwickelt, aber es ist immer noch diffus. Wir befinden uns nach wie vor im Experimentierstadium."
    Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bedauert, dass es dem Jugoslawientribunal in den mehr als 20 Jahren seines Bestehens nicht gelungen ist, für Klarheit in der Rechtsprechung zu sorgen. Trotz allem dürfe nicht vergessen werden, welche Pionierarbeit dieses Ad-Hoc-Gericht geleistet habe, sagt Géraldine Mattioli, eine der Juristinnen der Organisation. Erstmals seit den Kriegsverbrechertribunalen von Tokio und Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg wurde wieder versucht, Diktatoren und Militärs zu bestrafen – in diesem Fall wegen monströser Gräueltaten auf dem Balkan. Dem Tribunal sei es gelungen, die Hauptverantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern eine Stimme zu geben, sagt Géraldine Mattioli:
    "Vor 20 Jahren, das darf man nicht vergessen, gab es gar nichts! Damals herrschte völlige Straffreiheit. Das Tribunal hat dem ein Ende gesetzt. Was außerdem nicht vergessen werden darf: Das Jugoslawientribunal war der Wegbereiter für den permanenten Strafgerichtshof, der seit 2002 Kriegsverbrechen in aller Welt zu ahnden versucht. Ohne das Jugoslawientribunal würde es ihn nicht geben. Auch das ist ein enormer Fortschritt!"
    Kriegsverbrecher müssen mit Bestrafung rechnen
    Ob politische, militärische oder auch religiöse Führer: Wer Kriegsverbrechen begeht, muss inzwischen damit rechnen, dafür bestraft zu werden. Inwieweit das die Akteure davon abhält, Gräueltaten zu begehen oder dazu aufzurufen, lässt sich allerdings nicht ermessen. Srebrenica zum Beispiel, das größte Massaker auf europäischem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde zwei Jahre nach der Gründung des Jugoslawientribunals verübt. Aber, so betont Juristin Mattioli: So mancher General oder Rebellenchef überlege sich inzwischen ganz genau, was er seinen Truppen befehle.
    "Unsere Ermittlerin im Kongo hat beobachtet, dass eine ganze Reihe von Rebellenführern vorsichtiger geworden ist. Sie wollen nicht in Den Haag landen. Zu ähnlichen Reaktionen kam es auch an der Elfenbeinküste. Die Leute haben Angst. Aber wenn es zu lange dauert, bis Angeklagte überhaupt festgenommen werden, wenn auch die Verfahren zu lange dauern – dann verlieren die Leute diese Angst wieder. Und die internationale Justiz verliert ihre Glaubwürdigkeit."
    Genau diese Probleme machten auch dem Jugoslawientribunal zu schaffen: Es ist ihm zwar gelungen, allen 161 Personen auf der Anklageliste den Prozess zu machen – aber Richter und Ankläger mussten darauf Jahre warten: Gegen Radovan Karadzic, den ehemaligen Führer der bosnischen Serben, und seinen General Ratko Mladic war schon 1995 Anklage erhoben worden. Doch erst 2008 konnte Karadzic nach Den Haag überstellt werden, Mladic folgte 2011.
    Radovan Karadzic 2013 in Den Haag vor dem Sondertribunal
    Karadzic vor dem Gericht (picture-alliance / dpa / Michael Kooren)
    Im Gegensatz zur nationalen Justiz haben die internationalen Gerichtshöfe keine eigene Polizeimacht, sie sind auf die Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft, internationaler Truppen und nationaler Regierungen angewiesen. Gerade diese Hilfe ließ zunächst sehr zu wünschen übrig.
    Die Regierungen in Belgrad verweigerte zunächst jegliche Mitarbeit; die Ermittler aus Den Haag bekamen weder Zugang zu Dokumenten noch zu Zeugen und Opfern. Deshalb konnte das Tribunal anfangs nur gegen Serben ermitteln, was ihm den Vorwurf der Einseitigkeit einbrachte. Karadzic und Mladic konnten auch deshalb so lange auf freiem Fuß bleiben.
    Die Schweizer Juristin Carla del Ponte war von 1999 bis 2007 Chefanklägerin in Den Haag. Sie wollte zuletzt gar nicht mehr auf die beiden angesprochen werden:
    "Hören Sie auf, mich nach Karadzic und Mladic zu fragen. Davon habe ich genug! Ich warte auf ihre Verhaftung. Die ganze Welt weiss das. Ich warte! "
    Immerhin erlebte del Ponte noch die Überstellung von Slobodan Milosevic nach Den Haag. Ihre Vorgängerin, die Kanadierin Louise Arbour hatte ihn 1999 angeklagt, obwohl er noch Präsident war - ein Novum. 2001 war er auf amerikanischen Druck hin verhaftet und nach Den Haag überstellt worden; sein Prozess, viel zu langwierig und kompliziert, begann 2002. Zu einem Urteil kam es nicht mehr: Vier Jahre später starb Milosevic in seiner Zelle an Herzversagen.
    "Brüsseler Instrument" als Druckmittel gegen Serbien
    Die Überstellung von Karadzic und Mladic gelang erst Del Pontes Nachfolger Brammertz. Indem er sich – wie er es nennt – das "Brüssel-Instrument” zu Nutzen machte: Der Belgier reiste unermüdlich durch die Welt, um Politikern und Diplomaten klarzumachen, dass die Zusammenarbeit der serbischen Regierung mit dem Tribunal erst nach der Überstellung sämtlicher Angeklagter als zufriedenstellend bezeichnet werden könne – und dass sich die Serben auch erst dann Hoffnungen auf einen EU-Beitritt machen könnten. Chefankläger Brammertz:
    "Ich denke, wenn es den Druck der Europäischen Union nicht gegeben hätte im Rahmen der Konditionalität, die also die EU-Erweiterung direkt mit einer Zusammenarbeit mit unserem Gericht verbindet. Hätte es diesen Druck aus Brüssel nicht gegeben, denke ich persönlich, dass Karadzic und Mladic immer noch nicht festgenommen worden wären."
    Mit den 161 Angeklagten konzentriert sich Den Haag auf die Hauptverantwortlichen. Parallel dazu laufen vor nationalen Gerichten auf dem Balkan noch Tausende weiterer Prozesse. Das Tribunal hat zur Stärkung der nationalen Gerichtsbarkeit in den früheren jugoslawischen Republiken beigetragen. Strukturen und Mechanismen zu finden, um parallel zu internationalen Verfahren, nationale Verfahren durchzuführen - das, so betont der Chefankläger, sei für die internationale Justiz künftig eine der wichtigsten Aufgaben:
    "In Bosnien allein warten noch mehr als 2000 Personen darauf, dass Ermittlungen gegen sie geführt werden. Das geht sehr langsam voran. Ich denke schon, dass wir da eine wichtige Rolle gespielt haben."
    In Den Haag konnten inzwischen 141 der 161 Verfahren abgeschlossen werden. 18 Angeklagte wurden freigesprochen, 74 verurteilt, darunter eine ganze Reihe wegen des Völkermordes von Srebrenica. Eine Bilanz, die sich trotz aller Probleme sehen lassen könne, findet Strafrechtsexperte Göran Sluiter:
    "Alles in allem hat der Gerichtshof bislang gut funktioniert, sich als solide und stabil erwiesen und den Angeklagten auch faire Prozesse ermöglicht. Das Tribunal kann stolz auf sich sein – auch im Vergleich zu anderen internationalen Tribunalen, allen voran dem Weltstrafgerichtshof: Den gibt es inzwischen auch seit mehr als zehn Jahren, aber bislang wurde noch kein einziger Prozess abgeschlossen."
    Zu den Verfahren, mit denen das Jugoslawientribunal Geschichte geschrieben hat, gehört der Foca-Prozess: 2001 wurden drei bosnisch-serbische Militärs zu Haftstrafen von bis zu 20 Jahren verurteilt, weil sie moslemische Frauen und Mädchen als Sexsklavinnen gefangen gehalten, vergewaltigt und gefoltert hatten. Damit wurden systematische Vergewaltigungen erstmals als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet.
    25 bosnische Frauen und Mädchen fanden den Mut, in Den Haag als Zeuginnen aufzutreten. Ihre Aussagen gehören zu den erschütterndsten Momenten des Tribunals. Sie machen darüber hinaus deutlich, wie groß trotz aller Ängste das Bedürfnis der Überlebenden ist, ein Forum zu finden, um erzählen zu können, was ihnen angetan wurde. Nicht aus Rache. Vielmehr, um auf Verständnis zu stoßen. Auf jemanden, der ihnen wirklich zuhört: "Das ist unsere eigentliche Daseinsberechtigung”, sagt Christoph Flügge, einziger deutscher Richter am Jugoslawientribunal:
    "Diese Lehre haben wir doch in Deutschland auch gezogen, insbesondere durch den Auschwitzprozess. Vorher gab es zwar Veröffentlichungen, aber wer wollte es denn wirklich wissen? Und plötzlich sitzen Zeugen in einem Gerichtssaal, in den 60er-Jahren in Frankfurt, und erzählen, was ihnen in Auschwitz passiert ist. Das war ein Meilenstein in Deutschland. Und ich glaube, dadurch konnte überhaupt erst diese Kultur des sich Vergewisserns, Was-haben-wir-gemacht, Was-ist-in-deutschem-Namen-Geschehen in Deutschland entstehen konnte, erst auf Basis dieser Informationen. Und auch der Emotionen, die damit eine Rolle spielen. Und das ist auch etwas, das für das Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens extrem wichtig ist."
    Für viele ist Den Haag weit weg
    Sind die Menschen in den früheren jugoslawischen Republiken aber so weit, dass sie erkennen können, wer die Opfer sind und wer die Täter? Wie lange dauert es noch, bis verurteilte Kriegsverbrecher in ihrer Heimat nicht mehr als Helden gelten? Wirkliche Versöhnung hat noch längst nicht überall stattgefunden. Für viele ist Den Haag weit weg und das Tribunal eine Institution, in der in einer ihnen unverständlichen Sprache ellenlange, unverständliche Prozesse stattfinden, die zu unverständlichen Urteilen führen. "Es gibt nicht nur die Wahrheit der Gerichtssäle”, sagt Anwalt und Strafrechtsexperte Geert Jan Knoops:
    "Den Anspruch, mit juristischen Mitteln die historische Wahrheit zu finden, hat das Tribunal meines Erachtens nicht erfüllen können. Kriege sind viel zu komplex, um sie mit juristischen Mitteln zu erfassen. Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission wäre hier vielleicht besser gewesen. Das Tribunal hat viel geleistet, aber in dieser Hinsicht darf seine Rolle nicht überschätzt werden."
    Ohne Gerechtigkeit, das betonen die Mitarbeiter der internationalen Tribunale gerne, gebe es keinen Frieden und auch keine Versöhnung. Wobei die internationale Justiz allerdings nur die Grundlage liefern kann, in dem sie als ersten Schritt Gerechtigkeit schafft. Den Rest des Weges müssen andere gehen, über Generationen hinweg: Politiker, Wissenschaftler, Medien und Vertreter der Religionsgemeinschaften.
    Manchmal allerdings können sich Gerechtigkeit und Frieden auch ausschließen: Was zum Beispiel wäre, wenn, rein theoretisch, Syriens Präsident Assad vor dem Weltstrafgericht in Den Haag zu landen droht – und auf einmal verspricht, auf alle Gewalt zu verzichten, wenn er dafür Straffreiheit bekommt? Was, wenn die Taliban einheitlich ankündigen, innerhalb von zwölf Stunden die Waffen niederzulegen - vorausgesetzt, auch sie brauchen keine Strafverfolgung zu fürchten? Ein immenses moralisches Dilemma, findet Strafrechtsexperte Knoops:
    "Ich kann mir Situationen vorstellen, in denen die strafrechtliche Verfolgung von fünf oder sechs wichtigen politischen oder militärischen Führern weniger wichtig ist als ein besseres Leben für Hunderttausende von Menschen. Das konstatiere ich schweren Herzens, weil die Täter ungestraft davon kämen. Aber wir sollten für solche Situationen offen sein. Das Beenden der Straflosigkeit ist kein absolutes Ziel - nicht um jeden Preis".
    2017 soll das Jugoslawientribunal alle Verfahren in erster Instanz abgeschlossen haben. Dann wird es geschlossen, eine Nachfolgebehörde, die bereits im Sommer 2013 ins Leben gerufen wurde, übernimmt seine Arbeit. Sie soll die letzten Berufungsverfahren durchführen und sich um die Archive, den Zeugenschutz und die Verurteilten kümmern, die ihre Haftstrafen in den Gefängnissen der verschiedensten Länder absitzen.
    Das Tribunal selbst wird zweifellos als Gericht in die Geschichte eingehen, dem es gelungen ist, die Hauptverantwortlichen für die Verbrechen der Balkankriege zu strafen und damit zumindest die Basis für Versöhnung zu schaffen. Als Gericht, das die Ära der Straffreiheit für Tyrannen und Diktatoren beendete - auch wenn das kein absolutes Ziel sein kann. Eine Institution auch, die die Entwicklung des internationalen Strafrechts, das seit 1945 stagnierte, ungeheuer beschleunigt und wichtige Standards für die Zukunft geschaffen hat. Diese Rechtsprechung ist noch nicht einheitlich. Aber, so der deutsche Richter Christoph Flügge:
    "Wir dürfen eins nicht vergessen: Diese internationale Strafjustiz ist ein ganz, ganz junges Pflänzchen mit vielen Schwierigkeiten, man muss vieles ausprobieren. Man muss sich vergegenwärtigen, wie schwierig diese Aufgabe ist. Und dass wir ganz am Anfang einer hoffentlich noch lange andauernden Entwicklung stehen."