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Jung und perspektivlos

In Italien steigt die Jugendarbeitslosigkeit aufgrund der Wirtschaftskrise. Die zunehmende Perspektivlosigkeit macht insbesondere den einkommensschwachen Bevölkerungsschichten zu schaffen - und die Regierung Berlusconi schaut zu.

Von Kirstin Hausen | 15.09.2009
    Die Mailänder Buslinie Nummer 57 braucht fast eine Stunde von der Piazza Cardorna im Stadtzentrum bis nach Quarto Oggiaro an der nördlichen Peripherie.

    "Früher war es schlimm hier, aber zurzeit ist es ruhig ", sagt Marco, der mit einer Flasche Bier in der Hand im Gras sitzt. Die kleine Wiese an der Endstation der 57 ist der Treffpunkt von Marco und seinen Freunden. Sie sind zwischen 15 und 18 Jahre alt, haben die Schule entweder geschmissen oder mit einem schlechten Abschlusszeugnis beendet. Was sie machen?

    "Joints rauchen", sagt Marco.

    "Uns langweilen", sagt Omar und zieht an seiner Zigarette. Minuten vergehen, die Jugendlichen starren vor sich hin. Pläne für die Zukunft scheinen sie nicht zu haben. Zumindest antworten sie auf entsprechende Fragen nur mit einem Schulterzucken. Eine Lehrstelle, ein Ausbildungsplatz - außer Gabriella, einer 17-Jährigen mit blondierter Mähne, hat sich niemand darum beworben. "Wir haben eh keine Chance", murmelt Omar, und die anderen nicken. Sie erwarten nichts, keine staatlichen Brückenangebote, keine Hilfe, sie wollen auch nichts. Das zeigt sich, als eine Frau mittleren Alters zielstrebig auf die Gruppe zusteuert.

    Die Frau heißt Paola Iubatti. Sie ist Lehrerin und Mitglied einer Bürgerinitiative in Quarto Oggiaro, die sich vorgenommen hat, die Jugendlichen von der Straße zu holen. Sie schlägt Omar vor, doch mal im Jugendzentrum Baluardo vorbeizuschauen.

    "Die nehmen doch alle Drogen da", sagt Omar und lächelt schief. Paola insistiert. Sie will wissen, was sich die fünf jungen Leute an Freizeitangeboten wünschen, bekommt aber keine Antwort. Erst bei dem Vorschlag "Kino" regt sich Interesse.

    Marco hätte die Leinwand am liebsten hier auf der Wiese.

    "Dann könnten wir uns Pornos angucken" sagt er grinsend. Paola geht. In den nächsten Tagen wird sie wiederkommen, die jungen Leute machen ihr Sorge. Besonders die Apathie, mit der sie auf konstruktive Vorschläge reagieren, alarmiert die Lehrerin. Sie kennt das Phänomen aus dem Schulalltag. Immer mehr Heranwachsende, hat sie bemerkt, nehmen an nichts mehr aktiv teil und tauchen in ihre eigene Welt ab, ohne sich für die Konsequenzen ihres Verhaltens zu interessieren. Hier sieht Paola Iubatti die Familie in der Pflicht. Doch gerade in der einkommensschwachen Bevölkerungsschicht haben Eltern die Kontrolle über ihre Kinder oft schon verloren, bevor diese 14 Jahre alt sind. Ein für Italien relativ neues Phänomen, urteilt Irma Righetti, eine pensionierte Lehrerin.

    "Früher hieß es, solange du unter diesem Dach wohnst, hast du dich an bestimmte Regeln zu halten, heute sagt das niemand mehr."

    Aber nicht nur die Familie als Regel- und Wertevermittler fällt vielerorts weg, die gesamte italienische Gesellschaft erlebt eine Erosion der Werte. Traditionelle katholische Tugenden wie Solidarität und Mitgefühl sind nach Untersuchungen des Mailänder Politikwissenschaftlers Roberto Biorcio im Niedergang begriffen, während sich eine mehr und mehr individualistische Kultur durchsetzt. Beschleunigt werde dieser Wandel, so Biorcio, durch die schwierige wirtschaftliche Situation des Landes.

    "Seit vergangenem Jahr steigt der Leidensdruck in weiten Teilen der Gesellschaft an. Die italienischen Nettolöhne gehören zu den niedrigsten in Europa und die Lebensbedingungen der Italiener verschlechtern sich in der gegenwärtigen Krise. Die Regierung hat die Angst der Menschen in eine bestimmte Richtung gelenkt. Nach außen, auf einen Sündenbock. Es ist also kein Zufall, dass in Italien ausländerfeindliches Verhalten zunimmt. Vor allem die Lega Nord gießt unablässig Öl ins Feuer und hat damit Erfolg. Die Lega verbreitet eine Kultur des Rückbezugs nur auf sich selbst, sie befördert eine Kultur des Egoismus."

    In dieser Kultur des Individualismus, in der jeder sich selbst der Nächste ist, rechnen sich Schulabgänger ohne Abschluss oder mit schlechten Noten oft schon von vorneherein keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus. Sie nehmen eine Null-Bock-Haltung ein, die es potenziellen Helfern nicht leicht macht. Staatliche Qualifizierungsprogramme werden, wenn überhaupt, nur auf lokaler oder regionaler Ebene angeboten. Die Regierung in Rom hat hingegen kein einziges Projekt gegen die Jugendarbeitslosigkeit angeschoben.