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Jungdramatiker-Auftritt in Stuttgart

Zwei Werke von jungen Dramatikern haben jüngst am Stuttgarter Staatsschauspiel ihre Premiere erlebt. Gezeigt wurden die neuen Stücke "Der Passagier", der 30-Jährigen Ulrike Syha, und "Wörter und Körper" von Martin Heckmanns, auch er erst 35 Jahre alt.

Von Cornelie Ueding | 11.02.2007
    Auffällig starke Ich-Schwächen und lauter halbierte Verdoppelungen - dieses Stuttgarter Uraufführungswochenende versetzt den Betrachter in einen Zustand ratloser Klugheit. Kaum eine Story, allenfalls Handlungsfragmente, dafür jede Menge Stimmen von oben, Erzähler von nebenan in beiden Stücken; Einflüsterungen von hinten, oben, unten, die den Figuren sagen, was sie tun, tun wollen, einmal tun wollten, was sie empfinden oder was sie empfinden wollen sollten. Der erste Abend, Enrico Lübbes Inszenierung von Ulrike Syhas Passagier, erscheint wie ein in einen dreidimensionalen akustischen Sprachraum versetztes, leicht anbebildertes und theatralisiertes Halbhörspiel. Am zweiten Abend stellt Regisseur Hasko Weber Martin Heckmanns Text "Wörter und Körper" eine halbstündige lyrische Exposition voran. Das Langgedicht beschwört raunend, vielstimmig und einhellig Erinnerungen an einen längst nicht mehr lebenden, aber dennoch und deshalb mehr denn je präsenten Freund. Dann erst beginnt das Spiel, in dem sich Lina, offenbar nach dem Tod ihres Freundes, auf eine Suche begibt, deren Sinn und Ziel sie nicht benennen kann. Das Spiel - das sind: zufällige Zusammentreffen. Im Supermarkt, am Bahnhof, selbst in der eigenen Wohnung trifft man heute eher zufällig aufeinander. Weiter besteht das Spiel, in beiden Stücken, aus angedeuteten Situationen, halben Agonien, imaginierten Erinnerungssplittern - auf schiefen Ebenen, Tretrollern, zwischen Kisten, auf einem Koffer, mit Trolly. Alle sind hier immer in Bewegung ohne einen Schritt weiterzukommen, immer in Aktion, ohne dass etwas passiert, eine Art auf Dauer gestellter Transit ohne Migration: wie in einem Wartesaal des Lebens. Und wenn es, wie im Passagier, Handlungsansätze gibt, dann als Intrige und aus Niedertracht, aus dem Gefühl des eigenen Versagens, der Minderwertigkeit - wobei die Phantasie nur noch nach dem Muster von Krimiserien funktioniert, bis Bruder 1 dem Brüderlein 2 tatsächlich die Eisenstange an den Schädel knallt. In Wörter und Körper schließlich stehen nurmehr einzelne Wörter zur Verfügung, um sich eine Meinung oder seine Identität zusammenzubasteln. Wo die Zusammenhänge fehlen, stellt man sie eben selber her. Das endet nicht selten in Verfolgungswahn, zeigt der Alte mit der Flinte in einer singulären komischen Nummer.

    Gnade uns Gott, wenn diese vom Theater seismographisch erfaßten Empfindungen und Empfindlichkeiten tatsächlich ein zutreffender Befund unseres gesellschaftlichen und individuellen Lebens sind. Dagegen sind Bothos Strauß' theatralische Willkür-Parcours der 70iger Jahre geradezu Dokumente zielgerichteter Selbst-Bewußtheit. Damals jedenfalls, so scheint es, wußte zumindest das Theater noch, was es war, wollte, konnte. Es war Aufgabe, Mission, Vision der Institution Theater, noch die äußerste Ungewißheit wirkungsvoll in Form, Gestalten, Konstellationen, Situationen übersetzen zu können und einsichtig zu machen. Mittlerweile scheint allerdings das Virus der ambitionierten Selbstaufgabe, der Sieg der Denkhemmung aus dem Geist der "Formate" auch in das System Theater eingedrungen zu sein. Es sieht so aus, als traue sich das Theater selbst nicht mehr über den Weg und nicht mehr alles zu, daher die Tendenz zu Überdeutlichkeit einerseits, zu Ausdrucksverzicht und Hörspiel andererseits. Immer wieder stehen die Schauspieler wie betäubt in einer Art Gefühlsvakuum herum und eine Stimme sagt, was die Figur, die sie spielen, jetzt "eigentlich" fühlt und denkt. Man kann diesem Theater zugute halten, dass soviel Unbehagen nicht durch allzu gekonntes Gehabe nach dem Motto "Also spielen wir Theater" buchstäblich überspielt wird. Aber das Unbehagen an dieser Art manierierter Nicht-Aufführungen, die innere Öde in szenische Öde und Langeweile in zerdehnte Auftritte übersetzen, bleibt. Ganz schlimm, wenn dieses Verfahren auch noch mit Sinngebungsversuchen gekoppelt ist wie am Ende des Heckmann-Stückes. Da mutiert die Stadtneurotikerin erst zu einer Kreativität stiftenden Ikone des Chaos und psalmodiert dann - Stichwort "neue Religiosität" - in heiterer Erregtheit "Der Herr ist mein Hirte", bevor sie im Arm ihrer - natürlich männlichen - theatralischen Gefühlsstimme selig einschläft. Eins ist sicher: Kitsch ist eine trügerische Erlösungsperspektive.