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Junge Flüchtlinge
Jugendämter sind überfordert

Mit der großen Zahl an Flüchtlingen kommen auch immer mehr junge Menschen und Kinder nach Deutschland. Hinter den Jugendlichen liegen oft Monate und Jahre der Flucht, viele von ihnen sind traumatisiert. In Deutschland angekommen, fallen sie in den Zuständigkeitsbereich der Jugendämter. Und das bedeutet vor allem für ländliche Regionen eine große Herausforderung. Beispiel: Lingen.

Von Hedwig Ahrens | 11.12.2015
    Eine gemischte Klasse, bestehend aus aus Zuwanderern, Flüchtlingen und ehemalige Flüchtlingen, hat am 17.11.2015 in der Edith-Stein-Schule in Ravensburg (Baden-Württemberg) Unterricht. Ziel ist das Erreichen des Hauptschulabschlusses. Foto: Felix Kästle/dpa (zu lsw Meldung: «Lehrer stoßen an ihre Belastungsgrenze» vom 19.11.2015)
    Die Jugendämter versuchen im Rahmen der Jugendhilfe, Schule und Ausbildung zu ermöglichen. (picture alliance/dpa/Felix Kästle)
    "Hallo Farid! - Hallo, wie geht es Ihnen? - Mir geht es gut. Wie war die Schule heute?"
    Sozialpädagoge Stefan Robben ist unterwegs in einer Wohngruppe für junge Flüchtlinge in Lingen: In dem neuen, hellen Gebäude leben seit August 12 Jugendliche, die ohne Begleitung nach Deutschland gekommen sind. Eigentlich ist in der Wohngruppe nur Platz für zehn - aufgrund der hohen Nachfrage müssen jetzt aber einige Jugendliche ihr Zimmer teilen. Der 15-jährige Farid kommt aus Afghanistan.
    Farid, magst Du uns dein Zimmer kurz zeigen? - Ja, no problem. Es ist beispielhaft - eigentlich beispiellos sauber hier. Farid, du machst jeden Tag dein Bett, oder? Ja"
    Farid muss in Deutschland für sich selbst sorgen - seine Familie hat er in Afghanistan zurückgelassen. Die Wohngruppe des katholischen Christopherus Werkes soll Jugendlichen wie ihm helfen, in Deutschland Fuß zu fassen, erklärt Stefan Robben.
    "In der Regel ist es so, dass alle eine Fluchtbiografie hinter sich haben, die sehr schlimm sich anhört. Wir haben hier Jungs, zum Beispiel aus Afrika. Der war drei Monate von der Terrormiliz IS gefangen: Streufeuer, nachts auf Bäumen schlafen. Wir versuchen in Rahmen der Jugendhilfe, dass wir Schule ermöglichen, Ausbildung ermöglichen."
    Jugendamt als Vormund
    Wohngruppen wie diese sind sogenannte Clearingstellen: Sie sollen den Asylstatus und die Familiensituation der Jugendlichen klären. Erst danach vermittelt sie das Jugendamt als Vormund weiter. In Lingen ist dafür Franz Hüer zuständig. All das sei Neuland für ihn und seine Kollegen, gibt Hüer zu - und spricht von einer großen Herausforderung.
    "Wir müssen Jugendhilfe neu erfinden, für diese unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, erstens. Zweitens brauchen wir wir auf einmal ne hohe Anzahl von Plätzen. Also: Unterbringung. Ganz einfach ein Dach übern Kopp. Und das ist nicht einfach zu machen, zumindest mit den Ansprüchen, dass es das Kindeswohl dieser unbegleiteten Minderjährigen nicht gefährdet ist."
    Neues Zuhause bei Gastfamilien
    Um das stemmen zu können, braucht das Jugendamt dringend Unterstützung. Spätestens wenn Jugendliche wie Farid die Wohngruppe nach einigen Monaten verlassen. Dann könnten sie in Gastfamilien ein neues Zuhause finden, bis sie so schnell wie möglich allein in Deutschland klar kommen. Hüer wirbt dafür derzeit in Lingen: Zu einem ersten Informationsabend kommen mehr als 100 Interessierte: Eltern haben dazu ihre Kinder mitgebracht.
    "Ich bin mit meiner Tochter hier, wollten uns erst einmal nur informieren. Um dann zuhause zu besprechen, ob dass dann was wird, ob wir das wagen oder nicht. Einfach mal Informationsaufnahme heute Abend hier. Es spricht dafür, dass man einfach den Flüchtlingen hilft, aber andererseits ist es auf viel Aufwand, den man dafür betreibt. Ja: Zeitaufwand, auch die Kommunikation ist schwieriger. Ja auch eine große Verantwortung, die man dann hat, über einen längeren Zeitraum."
    Umgang mit anderen Kulturen lernen
    Das weiß auch Franz Hüer. Das Jugendamt hat deshalb einen Fragenkatalog für die potenziellen Gastfamilien vorbereitet.
    "Dieser Fragebogen dient nicht dazu, sie zu befragen - im Sinne von abzufragen. Sondern eher sie mit Fragen dazu anzuleiten, noch einmal nachzudenken. Zum Beispiel-wir haben eine Frage, steht glaub ich da drin: Was sagt eigentlich der Nachbar dazu, wenn auf einmal jemand anderes in diesem Haus wohnt. Wie gehen Sie um mit anderen kulturellen Gegebenheiten, mit anderen Religionen?"
    Bauchschmerzen bereitet einigen Lingenerinnen, ob sie von den jungen Männern als Frau gleichberechtigt respektiert werden - auch das ist Thema am Informationsabend. Dort gibt Klazina Hartholt den Gastfamilien Tipps, wie sie sich verhalten sollen. Hartholt leitet im Christopheruswerk Lingen den Bereich Kinder - und Jugendhilfe - und bringt deshalb Erfahrungen aus der Clearing - Wohngruppe mit.
    "Ich würde Gastfamilien empfehlen: Normalität, nicht in Watte packen. So wie man das mit den eigenen heranwachsenden Kindern auch tut. Regeln, Zeiten, Absprachen, Pflichten übernehmen. Empathie ist wichtig, Mitgefühl ist wichtig- aber kein Mitleid. Denn das birgt Gefahr, den nötigen Abstand zu verlieren, den es meiner Ansicht auch braucht - emotional."
    850 Euro als Aufwandsentschädigung
    Das Jugendamt stehe den Familien dabei zur Seite, verspricht Franz Hüer. Wer sich für eine Aufnahme entscheidet, bekommt zudem monatlich 850 Euro als Aufwandsentschädigung. Im Fokus seiner Bemühungen stehen für Hüer aber die jugendlichen Flüchtlinge - wie Farid: Auch für sie wird der Wechsel in Gastfamilien ein Wagnis sein.
    "Schaffen sie das, überfordern wir die 16 Jährigen damit? Ich kann nur sagen: Wir müssen uns alle gemeinsam auf den Weg machen, auszuprobieren, aus Fehlern lernen und gucken, das wir es bestmöglich oder auf höchstem Niveau scheitern. Anders wird's gar nicht gehen."