Freitag, 29. März 2024

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Juri Andruchowytsch und Andrzej Stasiuk: Mein Europa. Zwei Essays über das so genannte Mitteleuropa.

Nach so viel vergleichsweise schwerer Kost zum Schluss eine Neuvorstellung, die sich dezidiert dem leichteren Ton verschrieben hat. Wobei "leicht" aber nicht mit "belanglos" verwechselt werden sollte. Es geht um Europa, aber nicht um das EU-Europa, das als wirtschaftliche Notwendigkeit weithin wohl akzeptiert, aber noch keineswegs emotional tief verankert in den Herzen der Menschen zwischen Mittelmeer und Ostsee ist. Zu abstrakt, zu abgehoben - und nicht zuletzt: allzu bürokratisch verfasst präsentiert sich diese Variante des Europäischen Gedankens in der Alltags-Realität. Mit einem ganz anderen Europa-Begriff warten dagegen zwei Autoren auf, die auf den alten Kontinent durch ein historisches Raster blicken und dabei zu erstaunlichen Beobachtungen und Einsichten gelangen. Beide haben beim einschlägig interessierten Publikum hierzulande bereits eine Fan-Gemeinde. Der Pole Andrzej Stasiuk ist der eine; Jurij Andruchowycz, ein polyglotter Ukrainer - der andere. Nicht zu Unrecht selbstbewusst und dabei so etwas wie einen logischen Wunsch formulierend, gab sich der Galizier Andruchowycz erst jüngst bei einer Lesung in Bonn überzeugt:

Von Peter-Josef Bock | 02.08.2004
    Die Tatsache selbst, dass meine Texte schon heutzutage hier in Deutschland auch bekannt sind, das geht alles durch Polen. Ich bin schon ziemlich bekannt und ziemlich populär in Polen. Ich habe ein (großes) Publikum dort, und ja natürlich, das ist für mich etwas wie ein Beweis für die ukrainischen Möglichkeiten überhaupt, nicht nur meine persönliche Möglichkeit als Autor...also das ist eine Möglichkeit zusammen mit Polen, mit polnischer Hilfe weiter westwärts zu gehen.

    Was also lag für Andruchowycz näher, als sich einmal zusammen mit seinem polnischen Kollegen Stasiuk dem gemeinsamen Lieblings-Thema anzunähern? Der Titel des schmalen, aber wie Sie gleich von unserem Rezensenten Peter-Josef Bock erfahren werden, dennoch gehaltvollen Bandes aus der Frankfurter edition suhrkamp, der dabei entstanden ist, lautet: "Mein Europa. Zwei Essays über das so genannte Mitteleuropa":

    Zwei Autoren gemeinsam auf Entdeckungsreise: Der Ukrainer Juri Andruchowytsch und der Pole Andrzej Stasiuk, beide Jahrgang 1960, haben Mitteleuropa erkundet, vor allem die Grenzregionen von Polen, der Slowakei, der tschechischen Republik, Ungarns, Rumäniens und der Ukraine - weiße Flecken auf den touristischen Landkarten der meisten Westeuropäer, die Thailand oder Florida besser kennen. Gemeinsam reisen, getrennt schreiben: eine gelungene Mischung aus Essay und Prosa. Jeder der beiden Schriftsteller verkündet sein eigenes Glaubensbekenntnis:

    Zum Glück lebe ich in einem Teil der Welt, wo die Vergangenheit ungeheuer viel gilt. Der eine nennt es Verwurzelung, ein anderer Besessenheit. Ich weiß selbst nicht, wie ich es nennen soll; es gibt in diesem Teil der Welt einfach zu viele Ruinen, zu viele Skelette unter unseren Füßen. Zum Glück komme ich davon nicht los.

    ...schreibt Juri Andruchowytsch, der aus der West-Ukraine, der früheren österreichischen Provinz Galizien stammt und dort auch lebt.
    Andrzej Stasiuk ist von Warschau aufs Land geflüchtet, lebt in einem gottverlassenen Dorf am Rande der Karpaten in Südpolen, nicht weit von der slowakischen Grenze entfernt. Im Gegensatz zu Andruchowytsch, der geradezu manisch auf die Vergangenheit fixiert ist, pfeift Stasiuk auf die Geschichte. Sein Credo gilt dem Raum, der Geographie, nicht der Zeit:

    ...weil jede edlere Form der Tagträumerei sich immer den Raum zum Gegenstand wählt. Die Zeit interessiert nur diejenigen, die hoffen, dass sich etwas verändert, also die unbelehrbaren Dummköpfe...

    Für den Leser ein reizvoller, spannender Gegensatz: Der Galizier Andruchowytsch erzählt Geschichten und Geschichte, der Pole Stasiuk wandert durch Landschaften Ost-Mitteleuropas wie ein chaotischer Geograph und berichtet über seine besonderen Erfahrungen, Beobachtungen, und damit erzählt auch er Geschichten, hinreißende sogar.

    Die Vergangenheit ist bei Andruchowytsch in pralle galizische Familiengeschichten verpackt: der Urgroßvater ein Deutschböhme, die Großmutter hat noch den letzten österreichischen Kaiser gesehen, der Großvater ukrainischer Nationalist, der auf deutscher Seite kämpfte, der Vater ein blendender, dem Alkohol zugeneigter Geschichtenerzähler - in jedem Kurzporträt ist ein Lebens-Roman angelegt. Das liest sich wie die Kurzfassung einer großen Familiensaga, manchmal mit märchenhaften Tönen, angesiedelt im Grenzland Galizien.

    Familiengeschichte als Zeitgeschichte: die verklärte Habsburger-Herrschaft, dann nacheinander von Polen, der Sowjetunion, Hitlers Wehrmacht, Stalins Roter Armee erobert, und jetzt die sich am meisten europäisch fühlende und gebende Region der unabhängigen Ukraine.
    Der West-Ukrainer Andruchowytsch rechnet mit den Utopien des vergangenen Jahrhunderts ab, besonders mit der kommunistischen. Den Sowjet-Nostalgikern unter seinen Landsleuten habe man das Paradies genommen:

    Wie geschwind sie Elend und Dreck, die Qual in den Zellen der Kommunalwohnungen, das vierundzwanzigstündige Schlangestehen für Seife und Grütze, die Genitalzerquetschung beim Verhör vergessen haben, die graue Eintönigkeit und vorausbestimmte Langeweile des Daseins, die Unterdrückung des Denkens, die Kontrolle der Seelen, das Fehlen von Kondomen und... Wohnungen...Statt dessen erinnern sie sich an etwas völlig anderes: billiges Brot, kostenlose und aufopferungsvolle Ärzte...Leben ohne Dollars, Mafia und Sex...

    Andrzej Stasiuk, aufgewachsen im real-existierenden Sozialismus polnischer Spielart, arbeitet sich nicht an der Vergangenheit ab, keine Abrechnung mit missratenen Utopien. Reisen, Beobachtungen sind seine Leidenschaften. So entstehen magisch-realistische Bilder vom postkommunistischen Alltag, zum Beispiel von einer Fahrt aus Ostpolen hinüber in die galizische Hauptstadt Lemberg:

    In der Ukraine fiel die Nacht auf uns herab. Der Autobus schnurrte die glatte, weiße Straße entlang, und vor den Scheiben verschwamm das Dunkel. Wir kamen durch Dörfer, Siedlungen, doch im Finstern konnte ich nur die Konturen der Häuser ausmachen. Hier und da brannte hinter den Vorhängen eine Kerze oder Petroleumlampe. Es war vielleicht fünf oder sechs Uhr nachmittags, doch aus der Grenzenlosigkeit des Raumes drang kein Schimmer zu uns...Sie waren also alle dort, die Menschen, die Frauen, die Männer, die Kinder, die Säuglinge, hockten in den dunklen Zimmern, schauten auf den roten Schein unter den Herden, auf die offenen Ofentürchen, verdammt zur Reglosigkeit und zum Warten, bis der Schlaf kam...

    Übrigens verstößt der Geschichts-Verächter und Geographie-Fan Stasiuk gelegentlich doch gegen sein Credo. Dann muss auch die Geschichte für seine Geschichten herhalten, denn der Raum, die Geographie, die Lebenden und die Toten sind davon erfüllt. Andruchowytsch ist sehr belesen, und das will er sich und dem Leser auch beweisen. Das stört gelegentlich. Dabei hätte er das als glänzender Erzähler gar nicht nötig.

    Alkohol als Rauschmittel, als Stimulanz - darüber schreiben beide, nicht aufdringlich, aber deutlich. Und damit erfüllen sie unsere Klischee-Vorstellung vom exotischen Wilden Osten. Und beide bedienen noch ein anderes liebenswürdiges Klischee, nämlich die nostalgische Beschwörung des im Ersten Weltkrieg untergegangenen österreichisch-ungarischen K-und-K-Reiches mit dem im Vergleich zu den Tyrannen Hitler und Stalin als gerecht und gut verklärten Kaiser Franz-Josef an der Spitze.

    Man könnte beiden Autoren vorwerfen, dass sie reichlich verspätet Mitteleuropa entdeckt haben. Denn ein erster Diskurs über diesen damals auch geistesgeschichtlich definierten Begriff faszinierte viele Intellektuelle schon in den achtziger Jahren, vor dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und vor allem vor dem gegenseitigen Völkermord in Ex-Jugoslawien. Vor zwei Jahrzehnten war dies eine geradezu modische Debatte, geführt in ehemaligen Zentren des Habsburger Reiches: in Triest, Wien, Budapest, Ljubljana und Zagreb. Der Pole Stasiuk und der West-Ukrainer Andruchowytsch lenken den Blick auf meist ländliche Grenz-Räume, die auch in der erweiterten EU am Rande liegen, oder, wie das ukrainische Galizien, gar nicht dazu gehören. Die beiden Autoren könnten uns zu Entdeckungsreisen in die weißen, uns unbekannten Flecken Europas anstiften. Also weniger Thailand, weniger Florida, auf in die Karpaten!

    Peter-Josef Bock besprach: Juri Andruchowytsch und Andrzej Stasiuk: "Mein Europa. Zwei Essays über das so genannte Mitteleuropa", erschienen in der edition suhrkamp, Frankfurt am Main. 145 Seiten zum Preis von genau 9 Euro.

    Und das war sie wieder die Politische Literatur für heute und in dieser Woche. Anschließend nach den Nachrichten hier im Deutschlandfunk die "Studiozeit" mit dem "Musik-Journal".
    Für Ihr Interesse bis hierhin vielen Dank. - Eine Liste der eben besprochenen Bücher sowie die Rezensionen dazu - all dies liegt wie immer abrufbereit für Sie vor.