Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Jurist: Wahlrechtsänderungen müssen sorgfältig vorbereitet werden

Der frühere Bundesverfassungsrichter Hans Hugo Klein hat der Ansicht seines ehemaligen Kollegen Ernst Gottfried Mahrenholz widersprochen, eine vernünftige Wahlrechtsänderung wäre in 14 Tagen zu schaffen. Die einfachste Lösung sei es, das Wahlsystem zu ändern und beispielsweise ein Mehrheitswahlrecht einzuführen. Dazu könne das Bundesverfassungsgericht den Bundestag jedoch nicht zwingen, erklärte Klein.

Moderation: Jürgen Zurheide | 05.07.2008
    Jürgen Zurheide: Die Bundesverfassungsrichter haben geurteilt, und in Berlin hat der ein oder andere jetzt viel zu tun, denn das Wahlrecht muss verändert werden. Das sogenannte negative Stimmgewicht missfällt den Verfassungsrichtern, weil damit der Grundsatz eine Stimme – one man, one vote – eingeschränkt wird. Wie schnell kann denn das jetzt gehen? Die Verfassungsrichter haben uns Zeit gelassen, der Politik Zeit gelassen bis 2011. Das alles kann aber deutlich schneller gehen, das hat zumindest Ernst Gottfried Mahrenholz gestern im Deutschlandfunk gesagt. Hören wir uns das noch mal an.

    Ernst Gottfried Mahrenholz: Ich kann den Professor Meier, der die Beschwerdeführer ja vertritt, nur zustimmen, wenn er sagt, dass das Gericht darin wenigstens keine gute Entscheidung gefällt hat, dass es sagt, ihr habt drei Jahre Zeit. Er sagt, in 14 Tagen kriegt man ein seriöses Konzept zustande und ich kann das aufgrund meiner Kenntnisse des Wahlrechts nur bestätigen. Und wenn es nicht 14 Tage sind, dann nimmt man eben vier Wochen Pflichtzeit, oder sechs Wochen, oder meinetwegen sogar vier Monate. Man darf sich nicht dem Verdacht aussetzen, als habe man kein Interesse, die nächste Wahl verfassungsgemäß zu entscheiden.

    Zurheide: Wie schnell kann denn das gehen? Aus dem Bundestag wird gebremst, zumindest von den großen Parteien, bei den kleinen Parteien gibt es den einen oder anderen, der auch glaubt, dass es schneller gehen kann. Über dieses Thema wollen wir reden, und dazu begrüße ich am Telefon den ehemaligen Verfassungsrichter Hans Hugo Klein. Guten Morgen, Herr Professor Klein!

    Hans Hugo Klein: Guten Morgen, Herr Zurheide.

    Zurheide: Zunächst einmal – stimmen Sie dem Kollegen Mahrenholz da zu? Kann das in der Tat in 14 Tagen oder in vier Wochen gehen? Wie schnell würden Sie das hinkriegen?

    Klein: Ja und nein, was die Zustimmung angeht. Es gibt ganz sicher einfache Lösungen: die Einführung des Mehrheitswahlrechts oder die Einführung des sogenannten Grabensystems, das heißt also eines Wahlsystems, das auf die Anrechnung der Direktmandate auf die Listenmandate verzichtet. Das alles lässt sich in der Tat innerhalb der von Herrn Mahrenholz genannten Frist zustande bringen. Aber man kann ja – und das ist nicht die Sache des Bundesverfassungsgerichts – den Bundestag, den Gesetzgeber nicht zwingen, das Wahlsystem zu ändern, sondern man muss ihm die Freiheit lassen, innerhalb des bestehenden Wahlsystems zu verfassungskonformen Regelungen zu gelangen, und das erfordert umfangreiche Berechnungen und komplizierte Regelungen, die sorgfältig vorbereitet werden müssen. Insofern glaube ich, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vertretbar ist.

    Zurheide: Für wie gravierend halten Sie denn das Problem überhaupt? Ich habe es gerade angesprochen, one man, one vote, das ist ja das, was man eigentlich gerne hätte. Wir wissen, da gibt es diese Verzerrungen, ohne dass wir jetzt auf die Details eingehen. Ist es wirklich so gravierend, dass Sie auch sagen, ja, das müssen wir ändern? Denn überraschend ist ja, dass es so lange bisher noch niemand wirklich moniert hat.

    Klein: Nun ja, es ist in der Literatur schon moniert worden, es ist nur noch nicht zum Gegenstand eines Wahlprüfungsverfahrens gemacht worden. Aber das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung ja dargestellt, dass es in vielen Wahlen und jedenfalls immer dann, wenn es zu Überhangmandaten kommt, diesen Effekt gibt, den es zu Recht als paradox bezeichnet, dass man nämlich der Partei, die man wählt, mit seiner Stimme schadet oder indem man sie ihr nicht gibt, nützt. Das versteht kein Wähler und das verstehe selbst ich nur mit außerordentlichen Schwierigkeiten. Auch das Bundesverfassungsgericht verbraucht ja viele Seiten darauf, diesen komplexen Zusammenhang darzustellen. Das sind alles schon sehr schwierige und für den Normalmenschen undurchschaubare Regelungen, und so etwas gehört nicht ins Wahlrecht.

    Zurheide: Auf der anderen Seite taucht dann die Frage auf, die Mahrenholz ja anwirft dann: Die nächste Wahl ist möglicherweise nicht ganz korrekt. Ich drücke mich da jetzt sehr vorsichtig aus, man könnte auch sagen, sie ist nicht verfassungsgemäß.

    Klein: Ja, das ist ganz richtig, denn die nächste Wahl wird ja, wenn der Gesetzgeber sich doch nicht noch vorher zu einer Änderung entschließt, auf der Grundlage des alten, jetzt für verfassungswidrig befundenen Wahlrechts stattfinden, und insofern kann der gleiche Fehler wieder passieren. Das ist ärgerlich, und ich würde dem Bundesgesetzgeber anraten, nach Möglichkeit in der Tat noch innerhalb der nächsten Wochen und Monate eine neue Regelung zu treffen. Nur – man muss die Gesetzgebungsabläufe beachten, die ja wiederum korrekt sein müssen. Man muss bedenken, dass die Neuregelung – wenn sie nicht zu einer wesentlichen Vereinfachung des Wahlrechts insgesamt, also zu einer Änderung des Wahlsystems, führen soll – ihrerseits genau bedacht sein muss, um nicht einem neuen verfassungsgerichtlichen Verdikt zum Opfer zu fallen. Wenn der Gesetzgeber nicht einfach die Dinge grundlegend neu regeln will, wofür es Vorlagen gibt, dann muss er sich schon die Zeit nehmen, die Sache ordentlich zu machen, sonst haben wir bei der nächsten Wahl einen anderen Mangel und wir stehen aus anderem Grund vor dem gleichen Dilemma.

    Zurheide: Brauchen wir denn überhaupt die Überhangmandate? Damit könnte man anfangen. Wie sehen Sie das?

    Klein: Ja, die Überhangmandate sind keine besonders glückliche Erscheinung, aber das Bundesverfassungsgericht hat ja auch vor einiger Zeit entschieden, dass das innerhalb des dem Gesetzgeber zuzugestehenden Ermessens gelegen ist. Die Überhangmandate als solche sind nicht verfassungswidrig und sie müssen auch nicht durch sogenannte Ausgleichsmandate ausgeglichen werden, was ja nur zu einer entsprechenden Erhöhung der Sitzzahl im Bundestag führen würde. Also – auch da gibt es ein Für und Wider. Man kann die Überhangmandate ganz einfach beseitigen, indem man zu dem vorhin genannten Grabensystem übergeht.

    Zurheide: Jetzt kommen wir noch einmal auf die andere Frage – die wird ja auch diskutiert, aber dann eben eher politisch als möglicherweise juristisch – Mehrheitswahlrecht. Da gibt es auch viele Kollegen, juristische Kollegen von Ihnen, die sagen, wir sollen dahinkommen, dann haben wir endlich klare Mehrheitsverhältnisse. Wie sehen Sie das?

    Klein: Ob das Mehrheitswahlsystem wirklich zu klaren Mehrheitsverhältnissen führt, das ist nicht so ganz gewiss, insbesondere nicht im Blick darauf, dass sich unsere Parteienlandschaft ja verändert. Wenn man in die Geschichte zurückblickt: Wir hatten im Deutschen Reich bis 1918 ein Mehrheitswahlsystem, wir hatten ein Mehrheitswahlsystem oder haben es noch in Frankreich, auch da sind die Mehrheiten nicht eindeutig. Es gibt keine Sicherheit unter den gegebenen Umständen für klare Mehrheiten, und abgesehen davon: Das Mehrheitswahlrecht in der einen oder anderen Form ist politisch nicht durchsetzbar. Es ist müßig, darüber zu reden. Sinnvoll – um es noch einmal zu sagen – wäre dieses Grabensystem, die Hälfte der Sitze wird über die Direktmandate vergeben und die andere Hälfe über Listen, Mandate, ohne dass eine wechselseitige Verrechnung stattfindet. Dann hat man Klarheit, das versteht jeder.

    Zurheide: Das war Hans Hugo Klein, der frühere Verfassungsrichter. Ich bedanke mich bei Ihnen für dieses Gespräch und einen schönen Gruß. Danke schön!