Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Jury hatte keine Wahl

Das Wettbewerbsprogramm der diesjährigen Berlinale stand schon nach den Pressevorführungen in der Kritik. Und so überraschte der Goldene Bär für den iranischen Filmemacher Asghar Farhadi nicht - zeigte er doch großes Kino in einem ansonsten mittelmäßigen Wettbewerb.

Von Christoph Schmitz | 20.02.2011
    Dass "Nader und Simin, eine Trennung" von Asghar Farhadi den Goldenen Bären bekommen würde, damit hatten Publikum und Kritik gerechnet. Der Goldene Bär konnte in diesem Wettbewerb nur an diesen Film über eine Trennungsgeschichte im heutigen Iran gehen. Als er am fünften Tag lief, atmeten alle förmlich auf: endlich großes Kino in einem ansonsten dümpelnden, mittelmäßigen kleinen Wettbewerbsprogramm. Das sollte sich bis zum Ende nicht bessern. Was Asghar Farhadis "Nader und Simin" so stark macht, ist, wie er über eine Ehekrise eines modernen, emanzipierten Paares in Teheran zugleich die Gegenwart des Landes mit ihren zahlreichen Konfliktfeldern auffächert, ohne dass eine thesenhafte Tendenz in die Geschichte hineinspielt, ganz wie es der Intention des Regisseurs entsprach.

    Es sei ihm darum gegangen, so Farhadi auf der Berlinale, die private Geschichte seiner Protagonisten mit gesellschaftlichen und politischen Ebenen zu verbinden, womit seine Arbeit letztlich eine hochpolitische Analyse geworden ist. Sie zeigt, wie religiöse, traditionelle und säkulare Vorstellungen in der iranischen Gesellschaft miteinander konkurrieren. Insofern ist der Goldene Bär auch ein politisches Statement für einen demokratischen Iran, ein Statement, das die Berlinale mit seinem Einsatz für den inhaftierten Regisseur und das darum abwesende Jurymitglied Jafar Panahi von Anfang an propagierte. Asghar Farhadi bei der Preisverleihung:

    "Das ist wirklich eine sehr gute Gelegenheit, um an die Menschen in meinem Land zu denken, das Land, wo ich groß geworden bin, da wo ich die Geschichten gelernt habe, das ist ein sehr großes Volk, ein sehr geduldiges Volk, gute Menschen. Ich möchte erinnern an Jafar Panahi, wo ich wirklich denke, dass sein Problem gelöst wird, und ich wünsche, dass er nächstes Jahr da steht."

    Eigentlich hatte die Jury auch gar keine andere Wahl, als "Nader und Simin" den Goldenen Bären zu verleihen, was kein gutes Licht auf die Wahlmöglichkeiten wirft. Und zu Recht gab sie diesem Film auch die beiden Silbernen Bären für die besten weiblichen und männlichen Darsteller. Im Grunde hätte sie Farhadis Arbeit zusätzlich mit einigen der anderen Silbernen Bären auszeichnen können. Denn auch bei Drehbuch und Regie war der Iraner herausragend. Aber dann hätte die Runde um Isabella Rossellini allzu offen, die künstlerischen und thematischen Schwächen des Wettbewerbs gezeigt und die Stimmung unter den Kandidaten und bei der Verleihung gestern Abend verdorben. Nur ein einziger anderer Film konnte "Nader und Simin" das Wasser reichen, nämlich "Das Pferd von Turin" des Ungarn Béla Tarr. Wie bei Tarr üblich eine in Schwarz-Weiß extrem langsam erzählte Geschichte vom Untergang der Welt in einer sturmgepeitschten bäuerlichen Ödnis. Die Jury hat die Wucht dieser Endzeitfabel erkannt und ihr berechtigerweise den Großen Preis zuerkannt. Bei der Verleihung wollte Béla Tarr nichts sagen, auf seiner Pressekonferenz letzte Woche:

    "Jeder steht jeden Morgen auf und beginnt jeden Morgen den Tag, immer aufs Neue, immer wieder. Das ist ein krankhaftes Beharren am Leben, und wie elendig das ist und wie erbärmlich wir leben, aber wir möchten den Tag erleben, wir möchten auch den nächsten Tag erleben, denn wir glauben irgendwie immer, dass etwas an dem Tag passiert. Es kann nicht so weitergehen, es geht nicht mehr so weiter, es muss was passieren! Und wenn dieses Auflehnen im Menschen erwacht, dann hat es sich schon gelohnt, und dann wird es vielleicht auch schon gut."

    Zum Problem dieser Berlinale gehört, dass die letzten Berlinalen im Wettbewerb nicht viel besser waren. Augenverdrehen und Kopfschütteln gehört mittlerweile zu den Standardreaktionen nach den Pressevorführungen. Manch starke künstlerische Handschrift scheint in Nebenreihen wie Panorama und Forum abzuwandern. Doch die Vorzeigesektion, der Wettbewerb, kann mit den Festivals in Cannes und Venedig so nicht mehr mithalten. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Die vorverlegte Oscar-Verleihung zum Beispiel hat die Berlinale in Bedrängnis gebracht. Um die Oscar-Chancen zu verbessern, müssen die Amerikaner ihre Filme früher in die Kinos bringen, weswegen sie in Berlin nicht mehr auftreten können. Was verwundert, ist, dass der Chef der Berlinale, Dieter Kosslick, nach wie vor als Held gefeiert wird. Ist die Berliner Kulturpolitik zu genügsam geworden? Gibt man sich leichtfertig mit dem Andrang des Berliner Publikums und den 300.000 verkauften Eintrittskarten zufrieden? Auf Dauer ist ein Festival von Weltrang so nicht zu erhalten.