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Justiz in Argentinien
Statt Gerechtigkeit herrscht Korruption

Die Justiz in Argentinien funktioniert mehr schlecht als recht. Opfer und Angehörige werden oft alleine gelassen, verurteilte Täter kommen frühzeitig aus dem Gefängnis. Der Weg zu Gerechtigkeit ist verbaut durch Korruption. Viele Bürger haben davon genug und gehen für eine Veränderung auf die Straße.

Von Victoria Eglau | 12.10.2016
    Eine große Menschenmenge hat sich zu einer Demonstration zusammen gefunden. Sie halten Transparente hoch, um gegen die mangelhafte Justiz in Argentinien zu protestieren.
    Bürger in Buenos Aires protestieren gegen mangelhafte Justiz (Deutschlandradio / Victoria Eglau)
    Gestern Abend vor dem argentinischen Kongressgebäude in Buenos Aires. Mehrere tausend Menschen haben sich versammelt, um gegen die galoppierende Kriminalität zu protestieren und mehr Hilfe für die Betroffenen zu fordern. Die meisten Demonstrationsteilnehmer sind Angehörige von Verbrechensopfern. Sie halten große Fotos der Ermordeten in die Höhe, auf denen steht: "Gerechtigkeit für Pablo" oder "Gerechtigkeit für Cynthia". Es sind viele Namen und viele Fotos. Cynthia Filippone lebte in einem argentinischen Badeort und wurde beim Wäscheaufhängen überfallen und ermordet. Vor zwei Jahren war das – und noch hat kein Gerichtsprozess begonnen, erzählt ihr Bruder Luis.
    "Die Justiz in Argentinien funktioniert nicht, Korruption ist verbreitet. Die Polizei macht teilweise gemeinsame Sache mit Verbrechern, und es gibt Verbindungen der Politik zu Kriminellen sowie Richtern und Staatsanwälten. Deswegen glauben die Leute nicht mehr an unsere Justiz und Polizei. Alle, die wir heute hier sind, haben denselben Schmerz erlebt und dieselbe Odyssee durchgemacht. Wir sind es satt."
    "Justicia!", skandiert die Menschenmenge vor dem argentinischen Kongress: Gerechtigkeit. Dann erschallt der anklagende Ruf "Jueces corruptos" - korrupte Richter. Einer Umfrage zufolge glauben mehr als drei Viertel der Argentinier nicht an ihre Justiz. Zu den Forderungen der Demonstranten gehört, dass verurteilte Verbrecher nicht mehr vorzeitig aus der Haft entlassen werden, was heutzutage häufig der Fall ist. Der Sohn von Diana Cohen Agrest wurde bei einem Einbruch in ihr Haus umgebracht. Der Mörder erhielt eine Gefängnisstrafe von 23 Jahren, könnte aber nach heutiger Gesetzeslage schon nach sechseinhalb Jahren freikommen, erzählt die Mutter.
    "Wir wollen, dass in Argentinien Gefängnisstrafen nicht mehr verkürzt werden. Dass, wer zu zwanzig Jahren verurteilt wird, tatsächlich zwanzig Jahre absitzen muss."
    Dass die Haftverkürzungen zu mehr Kriminalität führen, betont der Strafrechtler César Mayer:
    "Im vergangenen Jahr wurde in Argentinien die Hälfte der Morde von Tätern begangen, die Richter vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen hatten. Die Justiz muss damit aufhören, gefährliche Verbrecher auf die Allgemeinheit loszulassen."
    Es fehlt an Unterstützung für die Opfer von Verbrechen
    Argentiniens Mordrate liegt unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt, doch die Tendenz ist steigend. Bei Überfällen und Einbrüchen ist es keine Ausnahme, dass die Täter, oft unter Drogeneinfluss, ihre Opfer töten. Die Unsicherheit gehört zu den Hauptsorgen der Argentinier, die Fernsehsender widmen Verbrechensfällen einen großen Teil ihrer Sendezeit.
    Eines der zentralen Themen bei den Demonstrationen gestern Abend in Buenos Aires und anderen argentinischen Städten war die fehlende Unterstützung des Staates für die Opfer.
    "Die Familie des Ermordeten muss nicht nur ihre Trauer bewältigen, sondern bei den Gerichten und Behörden geradezu um Gerechtigkeit betteln. Keiner will die Opfer hören, die Opfer stören."
    beklagt Diana Cohen Agrest, Mutter des Mordopfers Ezequiel und Vorsitzende von Usina de Justicia – Justizfabrik – einer NGO, die mehr Rechte für die Angehörigen fordert. Etwa, dass der Staat ihnen einen Anwalt an die Seite stellt – dieses Recht haben heute nur die Täter. Die Familie der vor zwei Jahren ermordeten Cynthia Filippone muss deshalb bis heute ohne Anwalt auskommen – der Bruder:
    "Ein Rechtsanwalt kostet fünfundzwanzigtausend Dollar, das ist für uns unglaublich viel Geld. Aber ohne Anwalt können wir Angehörigen nicht als Kläger auftreten, und die Justiz macht, was sie will. Der Staat hilft uns nicht dabei, dieses Problem zu lösen."
    Die Regierung von Präsident Mauricio Macri, seit zehn Monaten im Amt, will einen weniger laxen Umgang der Justiz mit Kriminellen und eine gestärkte Position der Opfer. Aber die entsprechenden Gesetzentwürfe müssen erst noch den Kongress passieren. Als Notmaßnahme gegen die Unsicherheit hat Macris Regierung unlängst die Entsendung Tausender Gendarmen und Bundespolizisten in besonders stark von der Kriminalität gebeutelte Provinzen beschlossen. Die Polizei vor Ort ist oft selbst in kriminelle Praktiken verstrickt. Strafrechtler César Mayer:
    "Zweifellos hat die Korruption in der Polizei enorm zur Ausbreitung vor allem des organisierten Verbrechens beigetragen. Die Regierung müsste die Sicherheitskräfte gründlich säubern, um zu garantieren, dass sie effizient gegen die Kriminalität vorgehen."