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Justiz-Putsch am Bosporus

Der türkischen Regierungspartei AKP droht das Verbot. Weite Kreise der Opposition und des Militärs werfen ihr vor, sie wolle die seit Atatürk bestehende säkulare Ordnung zugunsten einer islamischen Theokratie unterhöhlen. Mitglieder der Partei - darunter auch Parteichef Tayyip Erdogan - sollen sich künftig nicht mehr politisch betätigen können. Das Verfahren geht jetzt mit den Plädoyers von Anklage und Verteidigung vor dem Verfassungsgericht in Ankara in die entscheidende Runde.

Von Gunnar Köhne | 01.07.2008
    Spätestens heute ist das Fußballsommermärchen der Türken zu Ende gegangen. Wochenlang begeisterten sich die Türken am Auftritt ihrer Nationalelf bei der Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz. Nach der Heimkehr der Kicker am vergangenen Wochenende bereiteten ihnen zehntausende Fans einen begeisterten Empfang. Der in der türkischen Fußballgeschichte einmalige Erfolg bis zum Halbfinale gegen die Deutschen ließ alles andere zur "Nebensächlichkeit" werden, wie die linke Tageszeitung Taraf schrieb. Wenigstens ein paar Wochen lang gab es weder Galatasaray noch Fenerbahce-Fans, weder Kemalisten noch Religiöse, weder Kurden noch Türken: sondern nur noch Anhänger der einen türkischen Nationalmannschaft.

    Doch in dieser Woche reißen zumindest in der Politik die alten Gräben wieder auf. Denn das Verfahren zum Verbot der regierenden Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit, AKP, geht mit den Plädoyers von Anklage und Verteidigung vor dem Verfassungsgericht in Ankara in die entscheidende Runde. Ein Verfahren, dass selbst in der an Parteienverboten reichen türkischen Geschichte seinesgleichen sucht. Nicht nur die AKP soll verboten werden, sondern zusätzlich droht 70 Mitgliedern der Partei ein politisches Betätigungsverbot – darunter auch Parteichef Tayyip Erdogan. Auch die Filmemacherin Ayse Böhürler, Gründungsmitglied der AKP, darf, wenn das Gericht der Anklage folgt, nie wieder einer politischen Partei beitreten. Ihr wirft die Anklageschrift eine Äußerung in einer Fernsehdiskussion vor:

    "Ich habe in der Sendung gesagt, dass ich mir vorstellen könnte, dass auch Richterinnen in der Türkei eines Tages ein Kopftuch tragen dürfen. Dem Staatsanwalt scheine ich offensichtlich allein wegen meines Kopftuches verdächtig. Niemals habe ich mich öffentlich gegen die Trennung von Staat und Religion in diesem Land ausgesprochen - weil ich dieses System befürworte. Die ganze Anklage ist so lächerlich, dass ich mich dagegen gar nicht erst verteidigen werde."

    Erst vor knapp einem Jahr wurde die Partei von Ministerpräsident Tayyip Erdogan mit einer Mehrheit von 47 Prozent eindrucksvoll an der Regierungsspitze bestätigt. Die AKP gilt den meisten europäischen Politikern als diejenige Partei, die für einen klaren Europakurs steht. Ihr wird noch am ehesten zugetraut, die Bewerbung um eine EU-Mitgliedschaft erfolgreich zu Ende zu führen. Keine andere türkische Regierung zuvor hat die Demokratisierung des Landes durch Gesetzesreformen so vorangetrieben wie die AKP. Auch die Ökonomen sind mit der Wirtschaftspolitik von Premier Erdogan zufrieden: In dessen Regierungszeit kletterte das Wachstum auf acht Prozent, die Inflationsrate dagegen wurde erstmals seit Jahrzehnten wieder einstellig, und die ausländischen Investoren stehen am Bosporus Schlange.

    Dennoch: Das Verfassungsgericht – und mit ihr weite Kreise der Opposition und des Militärs – sehen die AKP als eine Art Trojanisches Pferd, das die seit Atatürk bestehende säkulare Ordnung zugunsten einer islamischen Theokratie unterhöhlen wolle. Dafür legte der Generalstaatsanwalt eine 161-seitige Anklageschrift mit Zitaten Erdogans und einige seiner Parteifreunde vor, von denen die meisten Jahre zurückliegen. So nannte sich Erdogan während seiner Zeit als Istanbuler Bürgermeister in den neunziger Jahren "Imam von Istanbul" und verhöhnte die Demokratie als "Straßenbahn", aus der man wieder aussteigen könne, wenn man am Ziel angekommen sei.

    Kernpunkt der Anklage aus diesem Frühjahr ist aber die Aufhebung des Kopftuchverbots an türkischen Hochschulen, so hat es die AKP Anfang des Jahres beschlossen. Das Verfassungsgericht wertet das als fundamentalen Verstoß gegen die rechtlich festgeschriebene Trennung von Staat und Religion. In einem separaten Verfahren hat das Gericht dieses Gesetz bereits aufgehoben. Es bleibt also in der Türkei dabei: Gläubige Studentinnen müssen vor Betreten eines Uni-Campus’ ihr Kopftuch abnehmen oder eine Perücke überziehen.

    Die AKP nennt die Anklage vor dem höchsten Gericht einen "Justiz-Putsch", eine Wortverbindung, mit der nahegelegt werden soll, dass hinter diesem Machtkampf die türkische Armeespitze steckt. Tatsächlich wurde bekannt, dass sich einer der Verfassungsrichter mehrmals mit einem Mitglied des Generalstabes getroffen hat.

    Für das Verbot einer Partei sind die Stimmen von sieben der elf Verfassungsrichter nötig. Acht von ihnen gelten als Gegner der AKP, sie wurden noch von dem stramm kemalistischen Vorgänger von Staatspräsident Gül, Ahmet Sezer berufen. Sezer, selbst einmal Mitglied des höchsten Gerichts, ging es um die Stärkung des Justizapparats als Bollwerk gegen den wachsenden Einfluss der Religiösen. Die Mehrheit der Richter und Staatsanwälte sieht sich – neben dem Militär – als Verwalter des politischen Vermächtnisses von Republikgründer Atatürk.

    Um dieses Erbe zu hüten, haben sich Armee und Justiz in der Geschichte der modernen Türkei immer wieder des Parteienverbots bedient: Verboten wurden in den vergangenen Jahrzehnten aber nicht bloß religiöse, sondern auch linke und vermeintlich separatistische Parteien – etwa solche mit kurdischem Hintergrund.

    Auch jetzt läuft – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – gleichzeitig noch ein zweites Verbotsverfahren gegen die Kurdenpartei DTP. Die meisten türkischen Parteienverbote wurden später vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof annulliert. Und auch das Verfahren gegen die AKP genüge europäischen Maßstäben nicht, urteilt der Jurist Riza Türmen, selbst einmal Mitglied des Straßburger Richterkollegiums:

    "Aus der Warte des Straßburger Gerichtshofs gesehen, ist die Anklage (…) nicht besonders überzeugend. Ich glaube, die Chancen, dort nach einem Verbot damit durchzukommen, sind nicht sehr groß. Sie müssten überzeugend darlegen, dass von der AKP eine Gefahr für die Demokratie ausgeht – und an diesem Punkt ist die Anklage nicht besonders stark."

    Doch was ist dran an den Vorwürfen der Kritiker, die AKP leiste durch ihre Politik einer Islamisierung der Gesellschaft Vorschub?

    Besuch in der Zentrale des Istanbuler Weinproduzenten Doluca. Geschäftsführerin Sibel Kutman berät sich mit Mitarbeiterinnen über die Marketingstrategie für einen neuen Merlot. Mit großem Enthusiasmus ist die ausgebildete Tänzerin vor ein paar Jahren an die Spitze des Istanbuler Familienunternehmens getreten. Nach vielen Jahren in den USA wollte sie in ihrem Heimatland neue Rebsorten einführen. Türkischer Wein, so ihr Plan, sollte die Welt erobern. Doch dann kam die religiös-konservative Regierung in Ankara ihr in die Quere:

    "Am 1. Februar 2005 wurden die Steuern auf Weinproduktion um 120 Prozent erhöht. Über Nacht! Dazu gab es weder eine Erklärung, noch hatte die Regierung uns davor konsultiert. Ob es um den Anbau von Reben geht, das Keltern des Weines oder ob um die Lizenz für den Alkoholverkauf – das alles ist in den vergangenen Jahren von der Regierung immer mehr erschwert worden."

    Der Istanbuler Stadtteil Üsküdar liegt am asiatischen Ufer des Bosporus. Dort stellt die religiös konservative Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit AKP den Bürgermeister. Unter jungen Leuten war es seit jeher beliebt, dort abends mit einer Flasche Wein dem Sonnenuntergang über dem Bosporus zuzuschauen. Doch vor zwei Jahren untersagte die Stadtverwaltung das öffentliche Trinken von Alkohol entlang der Uferpromenade.

    Weiter oberhalb in Üsküdar aber gibt es noch Kneipen, denn generell verboten ist der Ausschank von Alkohol in Üsküdar nicht. Die Veränderungen gingen eher schleichend vonstatten, klagt der Wirt Yakup Özkan gegenüber einem Gast. Sein Lokal, sagt Özkan weiter, kann er nicht mehr so einfach seinem Sohn vererben, wie es noch sein Vater tat. Sein Sohn müsse dafür eine neue Schanklizenz beantragen – doch solche Genehmigungen würden von den Behörden immer öfter abgelehnt:

    "Diese Art von Kneipe, "Meyhane" genannt, gibt es kaum noch. Hier in der Gegend waren es einmal fünf, jetzt sind es nur noch zwei."

    Özkans Gast stimmt zu:

    "Im Fastenmonat Ramadan waren die Lokale in Istanbul früher geöffnet. Aber in den letzten zehn Jahren ist es fast unmöglich geworden, im Ramadan in einem Lokal ein Bier zu trinken."

    Sieht so die schleichende Islamisierung des Landes aus, die die türkische Generalstaatsanwaltschaft der AKP vorwirft? Der Politologe Mehmet Altan winkt ab. Wenn in einzelnen Gegenden der Türkei das Alkoholtrinken erschwert wird, sei das bloß Konsequenz einer mehrheitlich konservativ eingestellten Gesellschaft. Altan gehörte lange Zeit zu jenen liberalen Intellektuellen, die Erdogan wegen seiner Reformpolitik unterstützten. Doch nun ist er enttäuscht – weil der AKP die Aufhebung des Kopftuchverbots an den Hochschulen wichtiger war als die EU-Reformen, meint Altan:

    "Die AKP wendet sich von dem Reformkurs ab und macht zunehmend Politik für die eigene konservative Klientel. Aber Freiheit darf es nicht für die Konservativen im Land geben, zum Beispiel für die Kopftuchträgerinnen, sondern Freiheit muss auch für die westlich Orientierten dieser Gesellschaft gelten, die den EU-Reformprozess voranbringen wollen."

    Damit spielt Altan auf die AKP an, die wiederholt versprochen hatte, die noch von den Putsch-Generälen 1982 entworfene Verfassung grundlegend neu zu schreiben – und damit einer Forderung der EU wie der Demokraten im eigenen Land nachzukommen. Die individuellen Freiheitsrechte des Einzelnen im Verhältnis zum Staat sollen laut des neuen Entwurfs gestärkt werden. Doch statt die Freiheit aller Bürger zu erweitern, hätten die AKPler zuerst an ihre kopftuchtragenden Töchter gedacht und den Verfassungsentwurf in der Schublade gelassen, lautet der Vorwurf liberaler Türken.

    Doch das ist nicht ihre einzige Kritik. Erdogan habe sich nach seinem fulminanten Wahlsieg vor einem Jahr nicht mehr zu Kompromissen genötigt gesehen und begonnen für seine Klientel Politik zu machen. Mit der Wahl seines Parteifreundes Abdullah Gül zum Staatspräsidenten habe er sich so stark wie selten zuvor gefühlt. Die Ängste westlich eingestellter Türken, insbesondere der Frauen, davor, in ein islamisches Gesellschaftsmodell gezwängt zu werden, nahm er nicht mehr ernst. Auch deshalb gibt es in liberalen Kreisen Istanbuls wenige, die bereit sind, die AKP noch lauthals gegen ein drohendes Verbot in Schutz zu nehmen.

    Die Lage scheint verfahren, die Fronten verhärtet. Auf der einen Seite die Religiös-Konservativen, die sich zu Unrecht an den islamistischen Pranger gestellt fühlen, auf der anderen Seite die kemalistische Opposition, angeführt von der Republikanischen Volkspartei CHP. Die CHP konnte bei den letzten Wahlen zwar bloß 20 Prozent der Stimmen holen, wird aber vom mächtigen Militär unterstützt. Premierminister Erdogan zeigt sich seinen Gegnern gegenüber kämpferisch:

    "Es gibt eine Menge Leute, die schon jetzt, vor einer Entscheidung des Verfassungsgerichts, ihr Urteil sprechen. Damit heizen sie das politische Klima an. So ein Verhalten ist unverantwortlich und kann vor dem Volk nicht bestehen. Was glauben die denn? Das sind doch diejenigen, die vom Volk die rote Karte gezeigt bekommen haben und an den Spielfeldrand geschickt worden sind! Denen sage ich: Wer dieses Land regiert, wird immer noch vom Volk entschieden!"

    Kurzfristig haben Äußerungen des Verfassungsgerichtspräsidenten und des Parlamentspräsidenten in der Türkei Spekulationen über einen möglichen Kompromiss im Verbotsverfahren gegen die AKP angeheizt. Demnach könnte das Verfassungsgericht einen "dritten Weg" zwischen Verbot und Freispruch einschlagen und eine Art "Warnung" mit Geldstrafe gegen die AKP verhängen, so berichten türkische Zeitungen. Auch sei im Gespräch, staatliche Beihilfen für die Regierungspartei zu sperren.

    Doch die AKP hat sich längst auf die Gründung einer Nachfolgeorganisation vorbereitet. Sogar ein Name stehe laut Presseberichten schon fest: "Yeni Partisi" – Neue Partei. Unter diesem schlichten Namen wollten Politiker der islamisch-konservativen Partei bei möglichen Neuwahlen antreten – und dass es nach einem Verbot zu Neuwahlen kommen wird, scheint sicher. Doch was, wenn auch Erdogan selbst mit einem Politik-Verbot belegt wird? Ohne ihren charismatischen Anführer könnten sich seine Anhänger in zwei oder gar mehr Parteien spalten. Das AKP-Vorstandsmitglied Ayse Böhürler sieht diese Entwicklung als Kalkül der Verbotsbetreiber:

    "Wenn die AKP geschlossen wird, dann wird es vielleicht nicht nur eine neue Partei, sondern zwei neue geben, und das Land wird zurückfallen in die Zeit der wechselnden Koalitionen. Wenn dem Gericht an einer politischen Stabilität des Landes gelegen ist, dann sollte sie die Partei nicht schließen. Möglicherweise wird es am Ende doch bloß eine Geldstrafe verhängen. Man sollte nicht vergessen, dass es ja in der Türkei auch keine politische Alternative und keine vergleichbar starke Persönlichkeit wie Tayyip Erdogan gibt. Wer sonst soll das Land denn aus dieser Sackgasse führen?"

    In einer ersten schriftlichen "Erwiderung" der AKP beim Verfassungsgericht, wird deutlich, dass die Partei nicht mehr glaubt, das Verfahren mit Argumenten beeinflussen zu können. Inhaltlich ist das Dokument weniger eine Verteidigung als eine Gegen-Anklage. Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya, so argumentiert die AKP, handle nicht als Jurist sondern als Ideologe; er stütze sich weniger auf Gesetze als auf Meinungen und sei alles in allem sorglos und schludrig.

    Die Mehrheit der Türken scheint so zu denken wie die AKP, nämlich, dass die Partei ohnehin verboten wird, egal wie sie argumentiert. 70 Prozent der Türken sind einer Meinungsumfrage zufolge dieser Ansicht. 53 Prozent hielten ein Verbot für falsch. Nur zwölf Prozent meinen, die AKP könne ihren Hals noch retten.

    Schon mit der Annullierung der Kopftuchfreigabe hat das Verfassungsgericht aus der Sicht der AKP und ihrer Anhänger seine Kompetenzen überschritten und das Parlament missachtet. Das Urteil des Verfassungsgerichts erging mit neun zu zwei Stimmen. Nun heißt es, die neun Stimmen der Verfassungsrichter würden mehr wiegen, als die der 407 vom Volk gewählten Abgeordneten, die für die Verfassungsänderung stimmten. Die AKPler wittern in der Entscheidung einen Akt eines selbstherrlichen Staates, der demokratische Kontrolle nicht zulassen und die Bevölkerung gängeln will.

    Der Machtkampf zwischen den beiden Gruppen droht die Türkei auf Monate hinaus zu lähmen. Wann das Gericht sein Urteil fällen wird, ist ungewiss – Gerüchte sprechen von einem Datum spätestens in vier Wochen. Regierungssprecher Cemil Cicek mahnt zur Eile:

    "Uns liegt nicht daran, diesen Prozess zu verlängern. Denn diese Unsicherheit schadet der Türkei. Schon frühere Parteienverbote haben dem Land schwer geschadet. Dieses Mal ist sogar eine allein regierende Partei betroffen – die damit zusammenhängenden Fragen wirken sich jetzt schon aus. Vor allem mit Blick auf die Wirtschaft unseres Landes ist uns darum an einer schnellen Entscheidung des Gerichts gelegen."

    Es ist besonders die Wirtschaft des Landes, die die Konsequenzen eines möglichen AKP-Verbots fürchtet. Vergeblich hatte der türkische Unternehmerverband TÜSIAD die Kontrahenten aufgefordert, aufeinander zuzugehen, um das Bild der Türkei im Ausland nicht weiter zu beschädigen.

    Derweil hat die türkische Lira im Verhältnis zum Euro seit dem Jahreswechsel gut 17 Prozent an Wert verloren. Die Handelsbilanz hat sich auf ein Minus von 4,9 Milliarden Dollar verschlechtert, die Inflationsrate liegt bei knapp zehn Prozent, die Arbeitslosenquote hat diese Marke bereits überschritten. Hinzu kommen die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise. Einige warnen vor einer Wirtschaftskrise wie im Jahre 2001, als ein simpler persönlicher Streit zwischen dem damaligen Staatspräsidenten Sezer und dem Regierungschef Ecevit zu einem Kurssturz an der Istanbuler Börse führte. Der Chefökonom der Istanbuler Finanzbank, Inan Demir:

    "Anfang des Jahres hat niemand ernsthaft mit der Möglichkeit gerechnet, dass die Märkte wieder von politischen Risiken erschüttert werden könnten. Aber jetzt ist genau das eingetreten – jeder redet von der Politik, und das hat starke Auswirkungen auf die Märkte. Das Schlimme ist, dass es so aussieht, als ob es keinen einfachen Ausweg aus der Krise gibt und die politische Unsicherheit die nächsten sieben bis acht Monate andauern könnte."

    Der Vertrauensverlust der Anleger in den türkischen Markt ist das eine, doch noch gravierender könnte sich ein weiterer Vertrauensverlust der Türken in die Demokratie auswirken. Radikale Parteien, Islamisten wie Nationalisten, könnten davon profitieren. Einzig ein neuer "Konsens der Demokraten", ein Verfassungsprozess, der die Grundprinzipien eines modernen, pluralistischen Staats zum Ausgangspunkt nimmt, wäre ein Ausweg, meint die Publizistin Nuray Mert, gleichzeitig Beraterin der Regierung. Doch ein solches Aufeinanderzugehen sei derzeit unwahrscheinlich:

    "Es sieht eher danach aus, als seien beide Seiten bereit, den Kampf bis zum Ende auszutragen. Das ist beängstigend. Steuert nicht einer von beiden um, wird sich die Krise verschärfen. Das Ende wäre nicht abzusehen."