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Justizirrtum durch Rechenfehler

Mathematik. - Vor einigen Jahren sorgte ihr Fall in England für Schlagzeilen. Aufgrund von Indizien war die Anwältin Sally Clark des Mordes an ihren beiden Kindern für schuldig befunden worden. Doch drei Jahre später, im Berufungsverfahren, sprach man sie frei. Der Grund: Das Urteil des ersten Verfahrens basierte auf einer falsche Anwendung statistischer Methoden.

Von Frank Grotelüschen | 17.06.2008
    England, im Dezember 1996. Christopher Clark, elf Wochen alt, liegt tot in seinem Bettchen. Diagnose: plötzlicher Kindstod. Bald darauf, im November 1997, bekommen die Eltern Sally und Steve Clark wieder ein Baby. Doch auch Harry stirbt früh, im Alter von acht Wochen.

    "Dadurch ist sie unter Mordverdacht geraten..."

    ...sagt Hans-Hermann Dubben, Statistik-Experte am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

    "Das Ganze wurde erhärtet durch ein statistisches Gutachten, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass so etwas auftreten kann."

    Als Gerichtsgutachter fungiert Sir Roy Meadow, ein renommierter Facharzt für Kinderheilkunde. Den Schöffen präsentiert er eine Zahl, die höchst einleuchtend klingt.

    "Er hat aus epidemiologischen Studien hergeleitet: Die Wahrscheinlichkeit, dass in einer solchen Familie ein Kind am plötzlichen Kindstod verstirbt, ist eins zu 8500. Dann hat er sich gedacht: Das ist genauso wie beim Würfeln: Wenn ich einmal werfe, um eine Sechs zu bekommen, ist die Wahrscheinlichkeit ein Sechstel. Wenn ich zwei Sechsen hintereinander werfe, ist die Wahrscheinlichkeit ein Sechstel multipliziert mit einem Sechstel – macht ein Sechsunddreißigstel."

    Für den Fall Clark heißt das: Man nehme die Einzelwahrscheinlichkeiten von eins zu 8500 miteinander mal, dann erhält man die Wahrscheinlichkeit, dass der plötzliche Kindstod zufällig zweimal auftritt. Heraus kommt eine extrem kleine Zahl – eins zu 72 Millionen. Nicht zuletzt wegen dieser winzigen Wahrscheinlichkeit verurteilt das Gericht Sally Clark im November 1999 zu lebenslanger Haft. Zu Unrecht, meint Hans-Hermann Dubben. Denn:

    "Vom Gedankengang her ist das dasselbe, was dieser Gutachter Herr Meadow gemacht hat und vielleicht auch viele andere, die darauf hereinfallen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ich am nächsten Sonnabend im Lotto gewinne, ist ungefähr eins zu 14 Millionen – eine unglaublich kleine Wahrscheinlichkeit. Sie können sich fast drauf verlassen, dass es nicht eintreten wird. Sie können sich aber fast drauf verlassen, dass irgendjemand in der Bundesrepublik im Lotto gewinnt. Da ist fast jedes Wochenende jemand dabei. Und das liegt nicht daran, dass das ein Wunder ist."

    Nein – der Grund ist ganz einfach, dass es viele Millionen Menschen sind, die am Wochenende Lotto spielen. Für den Clark-Prozess bedeutet das: Im Laufe der Jahre werden in Europa Abermillionen von Babys geboren. Da treten selbst unwahrscheinliche Ereignisse wie ein zweifacher plötzlicher Kindstod geradezu zwangsläufig auf. Die statistischen Rechenspiele von Gutachter Meadow – sie sind unbrauchbar, ja unzulässig, meint Dubben. Das zeigt auch ein anderes Beispiel.

    "Sie kommen in ein Zimmer. Da steht ein Scharfschütze – oder zumindest einer, der vorgibt, ein Scharfschütze zu sein. Sie sehen eine auf die Tapete gemalte Zielscheibe, und da sind zwei Einschusslöcher, und zwar ziemlich genau in der Mitte. Da könnte man erstmal denken: Na ja, das ist ein guter Schütze!"

    Nur: Eigentlich weiß man gar nicht, wie die beiden Treffer zustande gekommen sind. Vielleicht war es ja so:

    "Wenn der in dieses Zimmer hereingekommen ist, hat er wahllos irgendwo hin geschossen. Dann hat er mit einem Filzstift die Zielscheibe drum herum gemalt. Und dann hat er noch mal geschossen und getroffen. Er hat dann nicht zweimal getroffen, sondern nur einmal."

    Also kein so erstaunliches Kunststück, nicht unbedingt ein Meisterschütze. Aber es könnte auch noch anders gewesen sein:

    "Sie nehmen so einen Scharfschützen, der stellt sich in dieses Zimmer und ballert 2000 Mal auf diese Wand. Und dann guckt er: Gibt es irgendwo zwei Einschusslöcher, die so dicht beieinander liegen, dass ich da eine Zielscheibe drum herum malen kann? Das macht er."

    In diesem Fall steckt hinter den vermeintlichen Kunstschüssen nichts als der pure Zufall. Genauso kann es, meint Hans-Hermann Dubben, auch bei der vermeintlichen Kindsmörderin Sally Clark gewesen sein.

    "Es hat sich irgendwann die Königliche Gesellschaft für Statistik in England eingemischt und klargestellt, dass die Rechnung, die der Herr Meadow aufgestellt hat, eine Milchmädchenrechnung war."

    Im Januar 2003 wird Sally Clark im Berufungsverfahren freigesprochen. Im März 2007 findet man sie tot in ihrer Wohnung auf – gestorben an einer akuten Alkoholvergiftung. Sie habe sich, so ihre Familie, von dem Justizirrtum nie erholt.