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Kältepol Deutschlands

Eisige Höhen, extreme Kälte – dafür ist der Funtensee im Nationalpark Berchtesgadener Land bekannt. Seine Temperaturen sind jeden Abend in der Fernseh-Wetterkarte notiert - der Rekord lag vor zehn Jahren bei minus 45,8 Grad.

Von Gerd Michalek | 27.05.2012
    Wer den Königssee hinter sich lässt, freut sich, nicht mehr dem geballten Touristenstrom ausgesetzt zu sein. Vier Stunden Gehzeit liegen vor uns - der kürzeste Anstieg zum Kärlingerhaus, einer Alpenvereinshütte unweit des Funtensees. Zwei Berg-Geherinnen, die uns begegnen und den Weg schon kennen, freuen sich:

    "Man findet das fast nirgends so in Bayern, unberührte Landschaften, an einen Bach zum Beispiel blaue Schmetterlinge, die da spielen oder sich auf den Arm setzen."

    "Man gewinnt sehr schnell an Höhe, es geht schnell sehr steil rauf. Und man hat immer den schönen Blick auf den See."

    Der Weg beginnt kurz hinter dem Bootssteg von Sankt Bartholomä, wohin uns ein Elektroboot über den gebracht hat. Fast lautlos ging die Fahrt über den fast 300 Meter tiefen glasklaren Königssee. Soeben haben wir noch vom Boot aus in die höchste Alpenwand der Ostalpen geblickt, die 2000 Meter hohe Watzmann-Ostwand. Schon nach wenigen Minuten fühlen wir uns wie auf einer Mittelgebirgs-Wanderung – mit all dem Mischwald aus Buchen und Ahorn, der uns umgibt. Steil und schweißtreibend ist der Weg schon.

    Langsam nähern wir uns – vorbei an Wasserfällen - einer in Ruhe gelassenen Natur. Am Wegesrand: große Steinblöcke und Baustämme, die verrotten. Schließlich sind wir im Nationalpark Berchtesgaden, wo kein Waldarbeiter zum Aufräumen kommt. 1000 Höhenmeter sind zu absolvieren hinauf zum Funtensee, der 1600 Meter über Meereshöhe liegt. Richtig steil – aber niemals ausgesetzt - wird der Weg nach knapp der Hälfte der vierstündigen Tour:

    "Dann kommt diese berüchtigte Saugasse, wo man in Kehren recht steil laufen muss. Und dann hat man es fast schon geschafft."

    Der Weg hat 36 Kehren, die uns ganz hübsch aus der Puste bringen. Unser Puls bleibt ständig um die 130 Schläge hoch, wie bei schnaufenden Joggern. Dann liegt die Saugasse hinter uns. Noch gut eine Weg-Stunde. Das Gelände wird flacher – vorbei an Lärchen und Latschenkiefern. Dann entdecken wir im einsetzenden Regen an einem Grashang ein lang gestrecktes helles Haus. Am Eingang empfängt uns der hochgeschossene Wirt:

    "Mein Name ist Hinterbrandner Sigi, ich bin Wirt hier. Zusammen mit meiner Frau mache ich das seit letzten Sommer. Das macht sehr viel Spaß hier oben zu arbeiten."

    Das geräumige Kärlingerhaus hat für 220 Wanderer Platz, es liegt nur ein paar 100-Meter oberhalb des Funtensees. Im Sommer ist das Haus fast immer ausgebucht. Schon 1880 - lange bevor es die Wetterstation am Funtensee gab – stand hier eine Hütte, um Bergwanderern die Gipfelaufstiege zu erleichtern.

    "Unsere beliebten Hausberge, das ist der Feldkogel, da hat man nen wunderschönen Blick auf den Königssee. Oder der Viehkogel, auch eineinhalb Stunden Aufstieg – mit einem herrlichen Blick ins Steinerne Meer. Oder für stärkere Wanderer, die können auch höhere Gipfel machen wie den Funtenseetauern oder die Schönfeldspitze oder zum "Großen Hundstod" rüber."


    Umringt von diesen Zweitausendern liegt der Funtensee. Wahrlich kein großer Bergsee. Doch er hat etwas ganz Besonderes:

    "Wo die Kaltluft sich absetzen kann und nicht mehr raus kommt und gerade im Winter, wenn die Schneeschicht da ist, wird die Luftschicht noch kälter und fließt erst wieder ab, wenn der Wind rein bläst. Dadurch kühlt es so stark ab."

    Einer der besonders sibirischen Tage war der Heiligabend 2001. Da wurden am See stolze Minus 45,8 Grad Celsius gemessen. Deutscher Rekord! Warum es gerade am Funtensee zu solchen Extremtemperaturen kommt, erklärt der Kölner Meteorologe Volker Ermert:

    "Der Funtensee liegt auf einer Hochebene und stellt eine Mulde dar, ist von Bergen umgeben. Die Kaltluftmassen, die sich in sternenklarer Nacht bilden können, fließen die Hänge herunter und werden in dieser Mulde quasi gefangen. So bildet sich ein Kaltluftsee, und in diesem Kaltluftsee kann man Temperaturen von 40 Grad Minus messen. (…) Man kann auch sehr kalte Temperaturen in Alpentälern finden, wir hatten z. B. in Oberstdorf in diesem Winter fast minus 30 Grad. Es gibt in den Alpen sicherlich auch noch Seen, die noch etwas höher liegen, wo die Temperaturen noch tiefer fallen können. Allerdings ist die Frage, ob da noch jemand ist, der misst und ob da jemand wohnt, der diese Temperaturen spürt."

    Der Funtensee zeigt sich im Winter klirrend-kalt, aber auch lieblich im Sommer. Hüttenwirt Sigi Hinterbrandner kennt beide Gesichter des Sees:

    "Natürlich habe ich schon gebadet! Gerade wenn man verschwitzt von einer Bergtour zurückkommt, ist es sehr erfrischend, aber lange bleibe ich nicht drin. (…)Im Frühjahr hat der 8 oder 9 Grad, aber im Sommer bei längeren sonnige Phasen, da kann er schon 16 oder 17 Grad erreichen. Das ist fast wie Königssee."


    Wenn es am Funtensee hingegen eisig wird, wirkt der See auf den Wirt wie eine Ohrfeige. Bayerisch gesprochen: eine "Watschn":

    "Ich mache ja einmal im Monat im Winter so einen Kontrollgang und habe es schon erlebt, bin vom Haus weg mit den Ski in den Kessel runter gefahren. Nach circa 100 Meter etwa ist es praktisch wie eine "Watschn", da ist um 10 Grad kälter. Und unten hast du schon Minus 25, 26 Grad gehabt. Das ist schon ganz schön extrem."

    Wandert man - wie wir es tun - im Frühjahrsregen, ist es zwar mild auf 1600 Metern, doch zum Baden nicht sehr einladend. Dafür zieht uns ein eigenartiges Geräusch in seinen Bann!

    Wenige Meter vom See entfernt grummelt es rätselhaft hinter einer Felswand. Dazu der Meteorologe Volker Ermert:

    "Am nördlichen Rand des Funtensees gibt es eine Wassermühle, man hört es da sehr rauschen - gluckern. Das ist eben ein unterirdischer Wasserlauf, der führt zum Grünsee an der anderen Seite des Berges. Die Seen haben keinen oberirdischen Ablauf, sondern fließen unterirdisch ab."


    Schließlich sickert das Funtensee-Wasser durchs Gebirge hinunter ins Tal. Genau dorthin, wo unser Aufstieg zu Deutschlands Kältepol begann – zum viel ungleich häufiger besuchten Königssee!