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Kämpferische Dissidentin

Nadeschda Mandelstam - die Frau des im stalinistischen Lager umgekommenen großen russischen Dichters Osip Mandelstam - war eine kämpferische Dissidentin. Die beiden Bände ihrer erschütternden Memoiren über das "Jahrhundert der Wölfe" haben für den Zusammenbruch der kommunistischen Ideologie eine ähnlich bedeutende Rolle gespielt wie Solschenizyns "Archipel GULAG".

Von Karla Hielscher | 29.12.2005
    In dem Gedicht von 1931 beschwört Osip Mandelstam das Grauen des "Wolfshundjahrhunderts", in dem er lebte, und in dem er, der kein Wolf unter Wölfen sein wollte, verfemt und gejagt, gequält und umgebracht wurde. "Das Jahrhundert der Wölfe" hat Nadeschda Mandelstam, die 19 Jahre lang seine Lebensgefährtin und 42 Jahre seine Witwe war, später ihr monumentales Memoirenwerk genannt, das ein Schlüsseltext zum Verständnis dieser katastrophischen Epoche des revolutionären Umbruchs und totalitären stalinistischen Terrors ist. Dieses einzigartige Gedächtnisbuch brachte - wie der Nobelpreisträger Josef Brodsky es ausdrückte - "Licht ins Bewusstsein der Nation" und trug zum geistigen Zusammenbruch des Sowjetsystems bei.

    Über Kindheit und Jugend der 1899 in einer gebildeten jüdischen Familie geborenen Nadeschda Chasina ist wenig bekannt. Sie selbst datiert den Beginn ihres Lebens auf die Begegnung mit Osip Mandelstam. Es war der 1. Mai 1919, als die junge, lebenshungrige Malereistudentin in einer Künstlerkneipe im chaotischen, bürgerkriegsumkämpften Kiew den damals schon berühmten Dichter traf. Dies war der Beginn einer komplizierten aber unzerstörbaren, weit über den Tod hinausreichenden Beziehung in einem dunklen Zeitalter.

    "Als wir zusammen lebten, dachte ich, alles treibt jetzt seinem Ende entgegen, denn die Liebe hat einen Anfang und so auch ein Ende. Als sie Mandelstam wegschleppten, da wusste ich, dass es kein Ende geben wird."
    Früh wurde der Dichter, der sich - wie auch die lebenslange Freundin der beiden, Anna Achmatowa, - dem ideologischen Zeitstrom widersetzte, zum Außenseiter des offiziellen Literaturbetriebs und geriet in Isolation und Armut. Für das lebensfrohe Paar begann ein Leben in steter Unbehaustheit, in dem sie mit ihren kärglichen Habseligkeiten auf der Suche nach Zuflucht von Ort zu Ort zogen. Ein Gedicht beschreibt die Nacht zu zweit in einer fremden Küche: süßlicher Kerosingeruch, ein scharfes Messer, ein Laib Brot, der Primuskocher, und bis zum Morgengrauen muss der Korb wieder gepackt sein für den Weg zum Bahnhof, damit niemand die beiden finden kann.

    Es folgten Verhaftung, Verbannung, Verurteilung als Volksfeind und 1938 der Tod des schwerkranken Dichters in einem Durchgangslager bei Wladiwostok. Für Nadeschda Mandelstam gab es von da an nur noch einen Sinn in ihrem Leben: die Manuskripte zu retten. Sie nähte sie in Kissen ein, versteckte sie in Töpfen oder Schuhen, deponierte sie bei mutigen Freunden, bewahrte sie auswendig in ihrem Kopf. Jahrzehntelang glich das Leben dieser ungewöhnlichen Frau einer rastlosen Irrfahrt, die sie in die entlegendsten Ecken des riesigen Sowjetreiches verschlug. Letztlich war es ihre Heimatlosigkeit, die sie vor dem Zugriff des allmächtigen Geheimdienstes schützte. Sie schlug sich als Fabrik- und Heimarbeiterin, später als Englischlehrerin an Provinzuniversitäten durch, ehe sie endlich 1964 wieder eine Aufenthaltsgenehmigung für Moskau bekam. Mit fünfundsechzig Jahren begann Nadeschda Mandelstam ihre Erinnerungen niederzuschreiben.

    "Man muss die Gedächtnislosigkeit überwinden. Was werden unsere Enkel denken, wenn wir sterben, ohne den Mund aufgetan zu haben?"

    Schnell wurde sie zur angebeteten Identifikationsfigur der Opposition und ihre winzige Wohnung zum Wallfahrtsort für junge Dichter und Dissidenten. Ihre mit der Feigheit und dem Opportunismus vieler Intellektueller abrechnenden Aufzeichnungen erregten in ihrer kategorischen Schroffheit und sarkastischen Unerbittlichkeit jedoch auch Anstoß. Nadeschda Mandelstam starb am 29. Dezember 1980 im Alter von 81 Jahren als gläubige orthodoxe Christin.