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Käßmann: Luther war ein sehr sinnlicher Protestant

Als Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017 plädiert Margot Käßmann dafür, dass Katholiken und Protestanten gemeinsam feiern. Die reformatorische Bewegung habe alle verändert. Das Jubiläum sei Anlass, die vielen Seiten Luthers zu entdecken.

Margot Käßmann im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 23.12.2012
    Rüdiger Achenbach: Frau Käßmann, 1517 hat Martin Luther seine 95 Thesen veröffentlicht und zur Diskussion gestellt und damit die Reformationsbewegung angestoßen. Deshalb plant die Evangelische Kirche in Deutschland für 2017 das Jubiläum "500 Jahre Reformation". Sie sind die Botschafterin der EKD für dieses Jubiläum. Welche Aufgaben sind mit diesem Amt verbunden?

    Margot Käßmann: Zunächst einmal müssen wir sagen, dass 1517 natürlich ein Symboldatum ist für eine große breite Bewegung, die das ganze 16. Jahrhundert geprägt hat, und Martin Luther ist die Symbolfigur. Als Botschafterin des Rates der EKD bin ich gebeten, das Jubiläum bekannt zu machen, einmal über den binnenkirchlichen Raum hinaus und zum andern auch im Gespräch mit anderen Kirchen im Ausland. Ich war vor zwei Wochen in der Schweiz beispielsweise. Natürlich ist den Schweizer Kirchen auch wichtig zu sagen, es kann nicht so sein, dass das Calvin-Jubiläum 2009 die Vorspeise war, und sozusagen also Luther das Hauptgericht, und dann wäre Zwingli 2019 mit seiner ersten Predigt, die er dann in Zürich gehalten hat, die Nachspeise. Also, es ist schon ein Werben darum, zu sagen, ein Symboldatum, bei dem wir noch mal drauf schauen: Was hat sich damals ereignet? Und das war ja in der Tat in diesem kleinen Wittenberg ein Geschehen mit einer Kraft, die viel ausgelöst hat, was uns bis heute bewegt.

    Achenbach: Und die Reformationsbewegung hat sich dann, von Deutschland ausgehend, irgendwann weltweit ausgebreitet. Heute gibt es auf allen Kontinenten evangelische Christen. Wird dieser internationale Aspekt des Protestantismus weltweit beim Jubiläum eine Rolle spielen?

    Käßmann: Das soll auf jeden Fall eine Rolle spielen, damit deutlich wird: Das ist kein deutsches Luther-Jubiläum, sondern ein internationales Reformationsjubiläum, das wir feiern wollen. Geplant ist auch von der EKD beispielsweise in Wittenberg 2017, für 95 Tage eine internationale Weltausstellung zu veranstalten, bei der dann auch viele Menschen aus anderen Ländern kommen - aus Brasilien, aus der Lutherischen Kirche am Rio de la Plata -, die deutlich machen: Von Wittenberg ist in der Tat eine Bewegung ausgegangen aus Glaubensgründen, die viele gesellschaftliche kulturelle Veränderungen mit sich gebracht hat. Und das soll zurückkommen nach Wittenberg und sich da zeigen.

    Achenbach: Also das Jubiläum auch als ein Treffen der Protestanten aus aller Welt.

    Käßmann: Ja sicher, ein Treffen der Protestanten aus aller Welt. Wobei ich gleich sagen will, dass ich meine, wir können auch überkonfessionell miteinander feiern. Wenn wir die Kirche bis zum 16. Jahrhundert - im Westen jetzt, die Orthodoxie, die sich Anfang des zweiten Jahrtausends abgespalten hat oder wo es eine Trennung gab, mal als Zweites - sehen, dann können wir sagen: Bis ins 16. Jahrhundert gab es in der Westkirche eine gemeinsame Kirche, die dann zwei Wege gegangen ist. Und mein Plädoyer wäre, immer zu sagen: Die römisch-katholische Kirche und wir als Erben der Reformation können gemeinsam feiern, weil natürlich die reformatorische Bewegung eine war, die alle verändert hat. Auch die römisch-katholische Kirche war mit dem Trienter Konzil, wo es keinen Ablass mehr gegen Geld gab - oder nehmen wir das zweite Vatikanische Konzil, also dann die Messe auch in der Sprache des Landes - von der Reformation ja durchaus beeinflusst. Und ich finde, wir können heute feiern, dass wir nach all den Spaltungen auch sagen können: Uns verbindet aber als Protestanten und römische Katholiken mehr als uns trennt, gerade angesichts einer säkularen Gesellschaft.

    Achenbach: Ist denn konkret etwas in der Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche geplant?

    Käßmann: Das ist noch in der Diskussion. Ich bin die Botschafterin - und nicht mehr Bischöfin oder Ratsvorsitzende. Aber natürlich gibt es Gespräche im Kontaktgesprächskreis zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland - dem Rat - und der Bischofskonferenz. Und ich hoffe, dass es auch eine symbolische Geste geben wird, weil ich denke, dass das für Katholiken und Protestanten hier im Land der Reformation auch wichtig sein wird, zu sagen: Wir können miteinander auch Zeichen setzen und das Gemeinsame stärker sehen als das Trennende. Das Trennende - Papsttum, Marienverehrung, theologische Verständnisse von Amtskirche und Eucharistie -, das bleibt natürlich.

    Achenbach: Auf katholischer Seite scheint man allerdings etwas zurückhaltender zu sein.

    Käßmann: Ja, es gab beispielsweise von Kardinal Koch ja die Aussage, es könnte kein Reformationsjubiläum gefeiert werden, sondern eher ein Reformationsgedenken mit einem gewissen Bußcharakter. Aber ich finde, das ist noch Gesprächsgegenstand. Mein Eindruck ist jedenfalls: Wir können durchaus sagen, da darf auch mal fröhlich gefeiert werden, auch bei den Protestanten.

    Achenbach: Nun hat die EKD die Jahre bis 2017 in der sogenannten "Luther-Dekade" unter bestimmte Themen gestellt. In diesem Jahr war es das Thema "Reformation und Musik". 2013 wird es das Thema "Reformation und Toleranz" sein. Warum gerade dieses Thema?

    Käßmann: Zunächst möchte ich mal sagen, dass diese Themenjahre wirklich eine großartige Idee waren, weil viele Kirchengemeinden dadurch den Eindruck haben: Es ist eine Gelegenheit, nicht immer nur über Sparen, Strukturen, Zusammenlegen, Finanzielles zu denken, sondern Themen zu setzen. Und "Reformation und Musik" war großartig, weil die Reformation hat über die Musik - Luther ja auch stärker über seine Lieder, müssen wir sagen, als über seine Schriften - die Ideen verbreitet. Es gibt heute übrigens auch Luther-Lieder im römisch-katholischen Gesangbuch.

    Achenbach: Sicherlich auch eines der dankbarsten Themen.

    Käßmann: Ja, das war wunderbar, natürlich. Und wir können auch sagen: Leipzig, Thomaner, Bach. Ich war da und konnte dort predigen am Buß- und Bettag, das ist natürlich eine großartige Tradition. Aber ich finde auch wichtig, dass jetzt das neue Jahr "Reformation und Toleranz" zum Thema hat, weil - die Reformation war intolerant, das ist ganz klar. Sie hat sich erst mal immerzu abgegrenzt gegenüber anderen. Und dass dabei die Schatten des großen Reformators, aber auch der Reformation gesehen werden - ich nehme mal allein die Judenfrage: Luthers Äußerung über Juden, wenn Sie sie heute lesen, sind fast unerträglich.

    Achenbach: "Von den Juden und ihren Lügen" gibt es eine Schrift . . .

    Käßmann: Ja, das ist eine Spätschrift. Wir können aber sehen, das hat gerade Thomas Kaufmann aus Göttingen, Historiker, deutlich gezeigt, dass Luther am Anfang zwar freundlicher über die Juden gesprochen hat, aber immer in der Erwartung: Wenn sie seine reformatorischen Ideen begreifen, würden sie alle zum Christentum konvertieren. Und als er im Alter dann begriffen hat, dass das nicht der Fall werden würde, da hat er wirklich abfällig und mit menschenvernichtender Tonlage über sie gesprochen. Und ich würde sagen, das ist ein Erbe der lutherischen Kirchen, das dann auf entsetzliche Weise in der Zeit des Nationalsozialismus zum Tragen kam, als eben Evangelische nicht, wie Bonhoeffer gesagt hat, für Juden geschrien, aber trotzdem gregorianisch gesungen haben. Das ist ein Schatten, den wir heute aufgreifen müssen. Ich kann immer sagen: Luther selbst hat gesagt, die Kirche der Reformation muss sich ständig reformieren. Und das ist ein Punkt, in dem sie bitter lernen musste - aus dem eigenen Versagen heraus.

    Achenbach: Nun ist der Begriff der Toleranz ein Begriff, der vor allem in der Aufklärungszeit eine Rolle gespielt hat. Würden Sie sagen, dass der Protestantismus in großen Teilen auch durch die Aufklärung mit geprägt worden ist?

    Käßmann: Das denke ich auf jeden Fall, und das wird ihm oft als Schwäche zugeschrieben. Ich würde das sehr gerne als Stärke sehen, weil Luthers Aufforderung, selbst zu denken, die da nachher natürlich auch von Descartes, Kant und anderen ganz klar auf philosophischer Ebene weiterentwickelt wurde, ist für mich jedenfalls Teil dieser Freiheit eines Christenmenschen bis hin - ganz klar, im letzten Jahrhundert auch - zu der historisch kritischen Exegese der biblischen Texte, wo viele sagen: Ist das nicht ein Abfall vom Glauben, wenn wir die Bibel nicht direkt verbal inspiriert als Gottes Wort sehen, sondern mal fragen dürfen und auch sehen, dass es Glaubensbücher von Menschen geschrieben sind. Persönlich muss ich sagen, mir hat das immer eher einen Zugang zur Bibel verschafft. Ich habe schon als Schülerin mich gefragt: Warum gibt es zwei Schöpfungsgeschichten? Und keine Antworten gefunden. Und deshalb denke ich, Aufklärung, eigenes Denken, historisch kritisches Fragen ist für den Protestantismus eine gewichtige Option. Und ich würde sagen, daran sollte er nicht vorbeigehen, sondern sagen: Das ist ein Erbe, das wir gerade in einer Zeit, in der Fundamentalismen wachsen, ganz deutlich als positives Signal auch in die ökumenische Bewegung und in den Diskurs mit Kultur, Politik und anderen eintragen.

    Achenbach: Toleranz ist ja heute auch eine Herausforderung im Pluralismus der Weltanschauungen insgesamt.

    Käßmann: Ja, wobei Toleranz für mich nicht Beliebigkeit bedeutet, also alles ist gleich, alles ist egal. Libertinismus ist nicht Freiheit, sondern Freiheit heißt: Ich habe einen Standpunkt, ich weiß, wer ich bin, ich weiß, was ich glaube. Das heißt aber nicht, dass ich nicht respektieren kann, dass andere andere religiöse Wege oder auch nicht religiöse Wege gehen. Und Toleranz hieße für mich dieser gegenseitige Respekt in einem Dialog, der darum ringt, wie wir Welt und Zukunft gestalten können.

    Achenbach: Wie geht man dann mit Absolutheitsansprüchen in Religionen um?

    Käßmann: Die Frage ist, was Wahrheit bedeutet und ob Wahrheit erzwungen werden kann gegenüber anderen. Für mich ist ganz entscheidend, dass Religion endlich aufhört, Konflikte zu verschärfen oder sich verführen lässt, Öl in das Feuer politischer Konflikte zu gießen. Und eine aufgeklärte - sage ich mal -, eine weltoffene Religion, die denken darf, müsste endlich zur Konfliktentschärfung beitragen. Und dann muss ich tolerieren, ob ich jetzt Muslim bin oder Christin oder Atheistin oder Jude, dass andere anders glauben. Aber ich darf das nicht mit Gewalt versuchen, dem anderen so zusagen einzutreiben, wovon ich überzeugt bin. Und das ist natürlich ein bitterer Lernprozess. Wir können sagen: Die Reformation hat erstmal zu Kriegen, zu Auseinandersetzungen, zu Schrecken und Gewalt geführt.

    Achenbach: Die Konfessionskriege.

    Käßmann: Ja, wir müssen sagen. Der 30-jährige Krieg hat Deutschland, oder was heute Deutschland ist, also diese Region, furchtbar zerstört und furchtbares Leid mit sich gebracht.

    Achenbach: Das heißt, für die Religionen bedeutet das auch "das Bewusstsein von Wahrheit im Glauben ist kein Besitz von Wahrheit".

    Käßmann: Dem kann ich zustimmen. Ich kann immer nur sagen: Für mich ist das Wahrheit. Mein Glaube ist für mich die Wahrheit, mit der ich leben und sterben kann, und ich kann mit Interesse und Respekt aber - wie gesagt - darauf schauen, dass andere für sich eine andere Wahrheit gefunden haben. Ich fand Zinzendorf, also der Pietist, der die Herrnhuter Tradition gegründet hat, immer gut, der gefragt wurde, was Mission für ihn bedeute und dann gesagt hat: "Lebe Du so, dass andere Dich fragen, warum Du so lebst." Das ist eine sehr andere Haltung, als wenn ich sage. Du musst die Wahrheit akzeptieren, die ich für mich als Wahrheit gefunden habe.

    Achenbach: Wir haben über die Schattenseiten des Reformators Luther gesprochen. Andererseits gibt es in Luthers Theologie Aspekte, die an Aktualität nichts eingebüßt haben. Ganz zentral ist ja dabei für sein gesamtes theologisches Denken seine Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes. Warum hat diese Rechtfertigungslehre für ihn einen so hohen Stellenwert?

    Käßmann: Zunächst müssen wir wahrscheinlich da Luther auch als den mittelalterlichen Menschen mit dieser Grundangst verstehen. Das wird mir beim Lesen immer wieder deutlich, diese Angst davor, nicht so leben zu können, dass es vor Gott irgendwie gerecht ist oder ein Leben, das gerechtfertigt ist. Ich glaube schon, dass wir das heute übersetzen können. Manche meinen ja, diese Frage nach dem gnädigen Gott Luthers interessiert heute niemanden mehr. Aber gerade im Gespräch mit jungen Leuten erlebe ich das oft: die Frage, wozu bin ich überhaupt da, werde ich überhaupt gebraucht, macht mein Leben Sinn? Das ist auch schon eine Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz. Und Luthers Antwort war für ihn eben befreiend, das muss ich gar nicht schaffen, das kann ich wahrscheinlich auch überhaupt nicht leisten, sondern das ist mir zugesagt. Also du bist eine angesehene Person, weil Gott dich ansieht und nicht weil du irgendwie viel Geld verdienst, besonders schön bist oder einen supercoolen Job hast.

    Achenbach: Und besonders gute Werke tust, um dir etwas bei Gott zu verdienen.

    Käßmann: Ja, heute würden wahrscheinlich viele noch nicht mal diesen Gedanken bei Gott denken, aber ich denke, diese Hoffnung, dass mein Leben Bedeutung hat - warum gehen Leute da ins Dschungelcamp und lassen sich mit Kakerlaken überschütten? Weil sie glauben, sie sind dann jemand, wenn sie im öffentlichen Fernsehen zu sehen sind. Also diese Sehnsucht nach Sinn, die teilen die Menschen heute, denke ich schon. Und dann zu sagen, der ist dir schon zugesagt, entspann dich - das kann dich entlasten. Du machst Sinn, auch wo du unter den Augen der Öffentlichkeit oder dem Wertesystem einer Welt, die sich über Geld definiert oder über Schönheit, versagst, bist du trotzdem jemand, dessen Leben Sinn macht.

    Achenbach: Das heißt konkret, im Glauben ist der Mensch vom Leistungsprinzip befreit. Kann man das so ausdrücken?

    Käßmann: Das würde ich gerne so ausdrücken. Und ich finde das eine großartige Befreiungsbotschaft, gerade in unserer Gesellschaft, die eigentlich immer nur die Leistungsstarken sieht, die, die wirklich mithalten können, was schaffen können, großes Bankkonto haben, das sind die, die gesehen werden. Und alle anderen sind fast "überflüssig". Das ist ein schreckliches Menschenbild, finde ich. Und Luthers Menschenbild war ein ganz anderes. Auch wenn du deinen Arbeitsplatz verlierst, könnten wir heute sagen, auch wenn du die Ausbildung nicht schaffst, auch wenn du dein Studium abbrechen musst, auch wenn deine Ehe scheitert - vor Gott ist das nicht so relevant wie die Tatsache, dass du gewollt bist, weil du Gottes Ebenbild bist.

    Achenbach: Die Vorstellung von der Rechtfertigung prägt ja dann auch Luthers Verständnis von der Freiheit eines Christenmenschen, die Sie vorhin schon einmal angesprochen haben.

    Käßmann: Ich finde weiter hin seinen zentralen Satz: Der Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.

    Achenbach: Im Glauben.

    Käßmann: Ja. Aber das ist doch großartig. Niemand kann mir sagen, was ich glauben muss, also für ihn damals kein Papst, keine Glaubenskongregation, und heute auch für mich kann mir niemand diktieren. Und gleichzeitig aber: der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Das heißt . . .

    Achenbach: In seiner Verantwortung vor der Welt.

    Käßmann: Ja. In der Konsequenz muss ich meinen Glauben dann auch bewusst leben und umsetzen. Also der Glaube bleibt nicht fromm abgeschottet in einer kirchlichen Nische, sondern der will sich ja bewähren in der Welt. Ich will ja in der Welt so leben, dass ich am Ende meines Lebens sagen kann, es war vielleicht nicht alles ganz gerade oder so, wie ich es mir selbst mit meinen Ansprüchen vorgestellt habe, aber ich habe mich bemüht, diesen Glauben in meinem Leben umzusetzen so gut ich konnte.

    Achenbach: Schauen wir uns die beiden Seiten noch einmal an. Luther redet ja in dem Zusammenhang von "coram deo - vor Gott" und "coram mundo - vor der Welt". Wenn wir den Menschen coram deo, also vor Gott, sehen, dann bedeutet das: Freiheit des Einzelgewissens, wenn man es auf den Punkt bringen will. Sozusagen fast die Autonomie des religiösen Individuums.

    Käßmann: Das ist ein Zugang, der natürlich auch die Evangelischen weniger kirchengebunden an die Institution sein lässt als die römischen Katholiken. Das fällt mir immer wieder auf. Also ich mit meinem Gewissen vor Gott. Das ist auch eine sehr individuelle Haltung. Das wird uns ja auch manchmal vorgeworfen.

    Achenbach: Hat ja eine besondere Rolle auch im liberalen Protestantismus gespielt.

    Käßmann: Immer wieder. Also die Institution ist keine Autorität an sich, sondern der Einzelne vor Gott ringt. Ich finde ja daran auch sympathisch, dass ich natürlich auch persönlich mein Leben immer wieder vor Gott verantworte, weil vor Gott kann ich nichts vormachen, kann ich kein "Big Pretender" sozusagen sein. Also coram deo stehe ich da nackt und bloß mit meinem Leben, mit meinem Scheitern, mit meinen guten wie mit meinen schlechten Seiten. Das andere in der Spannung ist dabei, dass wir immer wieder sagen müssen, aber Christentum ist auch eine Gemeinschaftsreligion. Und dazu gehört auch sich zusammenzufinden, Traditionen zu bilden, Gottesdienst zu gestalten, miteinander zu singen und zu beten zwischen dieser Individualität des Einzelgewissens.

    Achenbach: Die auch ein Kennzeichen des Protestantismus ist, Erbe der Reformation.

    Käßmann: Ja, was ich auch gut finde. Aber auch dem Anspruch zu sagen, wir sind Kirche als Gemeinschaft. Dazwischen besteht und bestand immer wieder eine kreative Spannung.

    Achenbach: Die wird weiter bestehen, wenn man dem Individuum diese Autonomie zuspricht im Glauben.

    Käßmann: Da muss ich sagen, das finde ich auch großartig. Deshalb bin ich auch wirklich gerne lutherische Protestantin, weil ich diese Vielfalt schätze und auch manchmal den Streit um die Wahrheit in ethischen Fragen, dass wir sagen müssen, in bestimmten Fragen bleiben wir unterschiedlicher Meinung innerhalb der Evangelischen Kirche. Das hat für mich aber auch eine befreiende Kreativität.

    Achenbach: Wir haben das Verständnis der Kirche bei Luther angesprochen. Da gibt es ja einen prägnanten Spruch, und zwar ist das die Definition "Priestertum aller Gläubigen". Was bedeutet das heute für die Kirche?

    Käßmann: Zum einen ist wichtig das Taufverständnis. Und für mich ist Luthers Tauftheologie im Laufe der Jahre immer wichtiger geworden. Er hat ja gesagt, wer aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst. Das heißt, die Taufe ist das zentrale Sakrament. Deshalb gibt es ja auch bei den Evangelischen kein Bußsakrament weil er sagt, in der Taufe ist alles schon gegeben, auch die Umkehr, die Erneuerung, die Buße, das ist alles in der Taufe enthalten. Und wenn wir die Taufe so sehen, dann kann jeder dem anderen Priester sein und Frauen können Priester werden, alle Ämter wahrnehmen, weil die Taufe eben auch hier zwischen Männern und Frauen die Hierarchie aufhebt. Also das ist keine Anpassung an den Zeitgeist, wie den Protestanten gerne vorgeworfen wird, sondern das ist Tauftheologie.

    Achenbach: Wenn wir davon ausgehen, dass es ein Priestertum aller Gläubigen gibt, dann bedeutet das auch, dass die Kirche keine Institution ist, die das Heil vermittelt, wie dies im Katholizismus der Fall ist?

    Käßmann: Das ist ganz klar. Für die reformatorische Theologie ist die Kirche nicht Heilsmittlerin und auch der Priester ist nicht Heilsmittler. Das ist eine ganz große Differenz, also die römisch-katholische Kirche in der alten Tradition sagt: nulla salus extra ecclesiam - außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. Das würde die Evangelische Kirche nie als Institution behaupten können, sondern das Heil kommt aus meiner Gottesbeziehung. Aber das habe ich vorhin schon gesagt. Das macht dann die Spannung aus, die Evangelischen auch immer wieder in die Gemeinschaft zu rufen und sagen: Totale Individualität ist auch nicht gewollt, sondern wir sind Gemeinschaftsreligion.

    Achenbach: Wir haben den Pluralismus der Glaubensformen im Protestantismus schon angesprochen. Dieser Pluralismus ist ja im Grunde genommen eigentlich schon auch durch die biblischen Schriften vorgegeben. Die Konsequenz aus diesem Pluralismus der Glaubensformen ist die offene Volkskirche. Denken Sie, dass dieses Modell noch eine Zukunft hat bei schwindenden Mitgliederzahlen?

    Käßmann: Das denke ich schon, wenn wir Volkskirche nicht behaupten als Form, die sagt, die absolute Mehrheit des Volks ist Mitglied dieser Kirche, sondern wir sind Kirche im Volk mit einer gewichtigen Stimme auch im öffentlichen Diskurs. Und das erscheint mir gerade auch in Deutschland eine wichtige Tradition, die wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen, auch wenn es inzwischen Bereiche gibt, in denen die Christen deutlich in die Minderheit gegangen sind. Das ist natürlich bitter für die Protestanten. Ich habe die Taufkirche Luthers in diesem Jahr mit anderen wieder eingeweiht. In Eisleben sind heute noch sieben Prozent der Bewohner Christen. Das ist natürlich eine Frage, was ist da Volkskirche? Aber wenn sie öffentlich ihre Stimme erhebt, wenn sie im Diskurs sich beteiligt, wenn sie aus Glaubensüberzeugung sich einbringt in Fragen um Sterbehilfe, um Pränataldiagnostik, um den Umgang mit Straftätern beispielsweise, dann ist sie Volkskirche, finde ich, in einer Art und Weise, dass sie öffentlich präsent ist.

    Achenbach: Nun ist in den letzten Jahren auch zu beobachten, dass im Protestantismus die Spiritualität an Bedeutung zunimmt. Gibt es auf diesem Gebiet in der Evangelischen Kirche einen Nachholbedarf?

    Käßmann: Das auf jeden Fall. Wir müssen sagen, dass Luther selbst ein sehr sinnlicher Protestant war, also ihm lag ganz stark der Gottesdienst am Herzen, die Liturgie. Die Protestanten waren lange Zeit - 18., 19., ja auch 20. Jahrhundert - noch sehr kopflastig, also der Glaube kommt aus dem Hören, die Predigt ist das Zentrum. Und diese Sehnsucht danach, Glauben mit allen Sinnen wahrzunehmen, also die "Heilger-Geist-Komponente" sage ich mal der Trinität, des dreifaltigen Gottes, die ist eigentlich erst in den letzten 30, 40 Jahren zum Tragen gekommen. Zu sagen, ich darf Gott auch spüren, erleben. Wir haben Pilgerwege eröffnet, jetzt übrigens auch zum Jubiläum, Lutherwege in Thüringen, Sachsen-Anhalt und anderen Bereichen. Meditieren, Stille finden in den Klöstern, die die Evangelischen durchaus auch haben - ich finde das eine großartige Art und Weise zu sagen, Glaube ist nicht allein eine Kopfangelegenheit, sondern Glaube kann ich auch erleben.

    Achenbach: In einer Weihnachtspredigt sagt Martin Luther: "Wenn das Kind in Bethlehem auch tausend Male geboren wäre, bleibt es dir trotzdem fremd, wenn es nicht auch in dir inwendig geboren wird." Das erinnert ein wenig an Meister Eckhart und wir wissen, dass Luther diese Schriften über Johannes Tauler auch kannte und durchaus auch in einer gewissen Linie mit der deutschen Mystik stand. Wäre es nicht sinnvoll, wenn man auch die spirituelle Seite an Martin Luther wieder neu entdecken würde?

    Käßmann: Das ist mir wichtig, dass diese spirituelle Seite gesehen wird. Er wird oft so als dieser polternde, von der Kanzel herabdonnernde Prediger gesehen. Aber er hatte sehr viele, ich würde fast sagen zarte Seiten. Einmal diese mystischen Erfahrungen. Ich habe ihn in letzter Zeit beim Lesen auch immer wieder als Seelsorger sehr sensibel erlebt. Etwa wenn er einem Mann schreibt, der mit Selbstmordgedanken sich trägt und dann ihn ermutigt, gegenüber diesen dunklen Gedanken, die er auch kennt, doch Ja zum Leben zu sagen, zu essen und zu trinken und dem Teufel zu sagen, er soll mit diesen Versuchungen morgen wiederkommen. Oder als er seine kleine Tochter verliert so zu schreiben, dass er natürlich an die Auferstehung glaubt, aber doch Tränen doch über den Tod dieses kleinen Mädchens, das er so geliebt hat, vergießt. Also, Luther hatte viele Seiten und kann nicht eingebunden werden auf eine.

    Achenbach: Frau Käßmann, wir stehen kurz vor Weihnachten. Was ist denn Ihr besonderer Wunsch für das diesjährige Weihnachtsfest?

    Käßmann: Da würde ich fast sagen, dass die Bibel das wunderbar zusammenfasst im Lukas-Evangelium, wenn die Engel aus dem Himmel singen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden. Darüber hinaus zu respektieren, dass unser Leben mehr ist als das, was wir sehen und glauben, erreichen zu können. Also, Ehre sei Gott in der Höhe heißt ja auch: Ich verantworte mich noch ganz anders mit meinem Leben. Und Friede auf Erden - ich denke, das ist jedes Weihnachten ein Zeichen, das ist kein romantisches Schmusefest, sondern setzt sich mit der Realität auseinander. Gott kommt, so glauben wir als Christinnen und Christen, mit Jesus selbst in diese Welt, die wie in diesem Jahr auch wieder in Syrien, in Mali, in Ägypten vor dramatischem Unfrieden steht und den Menschen diesen Frieden zu wünschen. Ich wünsche auch immer wieder, dass auch Familien das empfinden in all ihrer Zerrissenheit und in Spannungen, die es gibt. Das muss kein gelungenes, perfektes Fest sein, sondern wir können feiern in aller Unvollkommenheit, so wie Lukas das selber schon von dem ersten Weihnachten schildert.

    Achenbach: Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

    Käßmann: Danke. Frohe Weihnachten.

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