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Kahlschlag in den Karpaten

Rumänien leidet sehr unter den Folgen von Naturkatastrophen. Schuld daran ist beispielsweise die Abholzung der Wälder. Vor allem in der waldreichen Karpatengegenden Ost- und Nordrumäniens ist die Lage drastisch. In den Dörfern stehen überall Dutzende Sägewerke, eine ganze "Holzmafia" ist in den letzten Jahren entstanden.

Von Keno Verseck | 29.10.2010
    Es regnet im Trotus-Tal. Demeter Tatár ist den Weg von seinem Haus zum Flussufer gegangen, es sind etwa hundert Meter. Der 33-Jährige beobachtet, wie der Pegel steigt und steigt, und er fragt sich, ob es jetzt wieder passiert. Im Frühjahr und zum Sommeranfang hatte es wochenlang geregnet. Am 4. Juli schließlich war der Fluss über das Ufer getreten. Tatár konnte Schweine und Hühner noch in Sicherheit bringen, dann flüchteten auch er, seine Frau und die beiden Kinder:

    "Wir kamen bei Nachbarn unter, sie gaben uns Kleidung und Essen. Nach vier Tagen sank der Wasserpegel, und wir konnten ins Haus zurück, einige Kleider und Dokumente mitnehmen, aber das Wasser stand im ganzen Haus. Und die Scheune wurde fast weggespült, Sie sehen ja, wie schief sie da steht."

    Demeter Tatár wohnt mit seiner Familie in dem Ort Ghimeº-Fãget, ein Dorf in den rumänischen Ostkarpaten. Die Gegend war einst bekannt für ihre dichten Wälder. Jetzt ist sie bekannt für rücksichtslose Abholzung und für die schweren Überschwemmungen, die sich hier jedes Jahr ereignen. Gibt es da einen Zusammenhang? Demeter Tatár antwortet ohne zu zögern:

    "'"Früher haben die Baumwurzeln viel Wasser aufgesaugt. Aber inzwischen ist ja soviel Wald abgeholzt worden, jetzt gibt es einfach nichts mehr, was diese Regenfluten aufhält.""

    So wie der Familie Tatár erging es in Rumänien auch in diesem Jahr wieder zehntausend Menschen. Seit 2004 kommt es im Land jedes Jahr zu schweren Überschwemmungen, betroffen sind vor allem die einst so waldreichen Karpaten. Dieses Jahres ertranken im Juni und Juli bei Überschwemmungen 23 Menschen, Tausende wurden obdachlos, die Flutschäden werden offiziell auf knapp 900 Millionen Euro geschätzt.

    Verantwortlich für das Ausmaß der Flutkatastrophen machen viele Experten den massiven Kahlschlag in den Karpatenwäldern. Unter ihnen ist auch Cãtãlin Muticã, Forstwissenschaftler und Direktor des Forstamtes im Kreis Harghita:

    "Die hiesigen Wälder haben in diesem Alter, bei diesem Entwicklungsstand und bei dieser Dichte eine sehr wichtige Rolle, weil sie viel Wasser zurückhalten und auch vor Stürmen schützen."

    In den letzten anderthalb Jahrzehnten sollen laut Umweltministerium hunderttausend Hektar Wald gerodet worden sein, oft illegal, aufgeforstet wurde kaum. Armut, Wirtschaftskrise und eine schlechte Forstpolitik haben den Kahlschlag begünstigt: Seit 1993 wurde ein Drittel der gesamten Waldfläche Rumäniens, rund zwei Millionen Hektar, in Form von Kleinstflächen an private Eigentümer über- oder zurückgegeben. Viele der ärmeren haben ihr Stück Wald abholzen lassen, weil sie keine andere Einkommensquelle hatten. Zwar besteht die Verpflichtung aufzuforsten, doch die Kontrollen sind meistens lasch, oft werden Beamte auch bestochen, damit sie den Kahlschlag dulden. Mancherorten hat sich sogar eine regelrechte Holzmafia gebildet.

    Unterwegs im Wald des Harghita-Gebirges mit Cãtãlin Muticã. Der Direktor des Kreisforstamtes Harghita schaut sich den Baumbestand an und fragt einen Forstinspektor nach seiner Arbeit. Auch hier in der Gegend ist viel abgeholzt worden, seit Langem berichten rumänische Medien immer wieder über die Beteiligung lokaler Politiker an illegalen Holzgeschäften. Cãtãlin Muticã missfällt das Wort Holzmafia, über die Verstrickung von Politikern weiß er nichts. Es gebe einfach, sagt er, viele gut organisierte Banden, die mit neuesten Forsttraktoren Holzdiebstähle begingen – auch hier in den Wäldern des Harghita-Gebirges. Und über die schreibt Muticã gerade seine Doktorarbeit – genauer gesagt, über die Rolle der hiesigen Wälder für das lokale Klima:

    "Wenn sie nicht mehr existieren, kann sich sogar ein kleiner Bach nach einem normalen Regen in einen gefährlichen Strom verwandeln und ganze Häuser mit sich reißen."

    Programmtipp

    Der Kahlschlag im Karpatenland ist auch Thema in der Sendung "Gesichter Europas" am 30.11.2010 um 11:05 Uhr im Deutschlandfunk.