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Kalauernde Dialogen, fantastische Begebenheiten und philosophischer Tiefgang

Vorsorglich hat Ariel Magnus seinen Protagonisten gleich in den Titel geschmuggelt und damit sofort ein gängiges Bild provoziert: das Klischee vom Chinesen an sich. Auf der ersten Romanseite geht es dann gleich in medias res.

Von Marli Feldvoß | 05.08.2010
    Der Fiesling drückt seiner Geisel das kalte Schießeisen in den Nacken und schon steht dem Leser das Feindbild aller James-Bond-Filme vor Augen. Und dann kommt es noch schwarz auf weiß: Li heißt der Übeltäter, auch "Fosforito", das Streichhölzchen genannt, ein chinesischer Pyromane, der gerade vor Gericht in Buenos Aires als Brandstifter verurteilt wurde und sich die nächstbeste Geisel geschnappt hat. Damit ist auch der Ich-Erzähler Ramiro Valestra, 25 Jahre alt, Computerspezialist mit von der Partie. Zunächst als Zeuge bei Gericht, fortan als Gefangener und Gewährsmann dafür, dass wir restlos über Sitten und Gebräuche der Chinesen in Chinatown von Buenos Aires aufgeklärt werden:

    "Ich habe alle möglichen Klischees genommen. Ich habe mir den Roman als einen Wok vorgestellt, alle Klischees hineingeworfen und Humor als Sojasoße. Ich wollte diese Klischees zum Absurdum führen und sehen, was passiert. Nicht nur chinesische Klischees, sondern auch argentinische Klischees. Um Humor zu machen, sind Klischees sehr gut, weil sie an sich blöd sind. Deswegen ist es einfacher, damit humorvolle Texte zu schreiben. Auf der anderen Seite ist es so, dass Klischees auch von der Wirklichkeit berichten. Also es gibt zum Beispiel ein Klischee in Buenos Aires, dass die Chinesen Ratten essen. Aber viele Leute denken das tatsächlich."

    Ursprünglich sollte der Roman nur eine Reportage über den authentischen Fall des Chinesen werden, der elf Möbelhäuser in Brand gesteckt haben soll. Aber als sich kein Blatt dafür interessierte, machte sich der schreibflinke Argentinier "aus Rache" daran, einen Roman zu verfassen. Worauf sich der Sachverhalt in den uns vorliegenden assoziativ verspielten Text verwandelte, der sein eigentliches Anliegen nicht vergisst, vor allem aber mit staunenden Augen einer fremden Kultur auf die Schliche kommt. Ramiro bleibt zwar eine Weile eingesperrt, wird dann jedoch auf Ausflüge in Lokale, Puff oder Karaoke-Bar mitgenommen.

    Die verunglimpfende Aussprache, die jedes rollende R in ein lallendes L verwandelt, wird dabei kräftig als verfremdendes, aber auch zum Lachen verführendes Mittel eingesetzt. Ramiro wird wohl nur zum Arzt geschickt, weil sich der Autor dessen Diagnose: "Schilddlüse, Lücken, viel Stless, müssen ausluhen" genussvoll auf der Zunge zergehen lassen will. Aber auch die Tatsache, dass die Geisel Ramiro Valestra dauerhaft mit einer Chinesin anbandelt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der geheimnisvolle "chinesische Knoten" keineswegs mit einem einzigen Schwerthieb zu lösen wäre.

    "Es ist das Fremde an sich. Das ist auch der Grund, warum ich die Reportage nicht schreiben konnte. Weil es keinen Menschen interessiert, die richtigen Chinesen. Wir wollen, dass sie immer noch in der Fiktion bleiben, dass sie immer noch das Andere repräsentieren. Denn wenn sie nicht mehr das Andere sind, was ist dann das Andere? Wir haben doch mehrere Anderen, aber Chinesen sind schlichtweg das Andere - auf der anderen Seite der Weltkugel et cetera. In diesem Sinne sind Klischees ganz streng. Man kann damit viel spielen und auch viel über die eigene Kultur nachdenken."

    Das Fremde als Spiegel des Eigenen, womit die argentinische, aber auch die jüdische Kultur gemeint ist. Wie ein Running Gag schleicht sich Ramiros jüdische Ex-Freundin und ihre extrem auf Antisemitismus sensibilisierte Familie in den Text, der zuletzt zum großen Showdown zwischen Chinesen und Juden anhebt, die sich einen wahren Kulturkampf liefern. Magnus steigert sich mit satirischer Wollust in Szenarien von Vertreibung und semitischer Gegenoffensive, die in einem großen Streit über die Vergangenheit gipfeln. Auch da stammt die Anregung aus der Wirklichkeit, denn Koreaner wie Chinesen haben die Juden tatsächlich aus ihren angestammten Stadtvierteln Once und Belgrano vertrieben, wo Ariel Magnus noch aufgewachsen ist.

    "Ich finde diese Kompetenzen blöd. Vor allem vonseiten der Juden. Ich mache mich sehr gern über Juden lustig. Das ist sehr einfach, das zu machen. Dass sie die Ältesten sind, das Volk Gottes und das ganze Gerede. Das wollte ich mit den Chinesen konfrontieren, die sich auch als das älteste Volk der Welt sehen. Die Chinesen, so meine ich zumindest, glauben - und mit Recht - sehr wichtig zu sein und wirklich überragend, und sie sind es auch wegen ihrer Kultur. Es war interessant, die zwei Welten ineinander in der Dritten Welt, in die sie reingefallen sind, ins Spiel zu setzen."

    So ganz zufällig ist da auch kein Gottfried Wilhelm Leibniz mit seiner chinesischen Korrespondenz ins Buch geraten. Das Zitat "Alles dort ist genau wie hier." ist wie viele andere auch einem der vielen kurzen Kapitel des Romans vorangestellt und bringt das sprunghafte Erzählen noch zusätzlich in Schwung. Das breit angelegte, aus vielen Kulturen gespeiste Wissen des Autors bereichert das Buch, ohne dass es dadurch in Langatmigkeit oder Belehrung verfiele. Die ungewöhnliche Mischung aus kalauernden Dialogen, fantastischen Begebenheiten und philosophischem Tiefgang, der man das ständige Bemühen um Originalität durchaus ansieht, läuft dann manchmal doch etwas aus dem Ruder.

    "Ich bin mir sicher, dass ich beim Schreiben des 'Chinesen' auch meine Erfahrungen in Deutschland mit eingebracht habe. Das Gefühl Ausländer zu sein, das habe ich hier gefühlt, obgleich ich Halb-Ausländer bin. Das Deutsche kommt immer wieder vor. Bei der Syntax. Ich wollte der deutschen Syntax folgen. Es ist eine Syntax, die auf Spanisch nicht so gut klingt. Es gibt zu viele Kommata und zu wenige Punkte. Das habe ich aus deutschen Büchern herausgenommen, dass man mehr als eine Information pro Satz unterbringen kann. Die Übersetzerin hat das ein bisschen normalisiert, worauf ich ihr sagte: Nein, nein, ich will, dass es so klingt, wie auch deutsche Schriftsteller heute schreiben. Ich habe alle klassischen chinesischen Texte auf Deutsch gelesen in der Übersetzung von Franz Kuhn. Nicht, dass ich alle gelesen habe. Aber Deutsch kommt immer wieder rein. Und das Jüdische, um mich lustig zu machen, schätze ich."

    Eigentlich ist Ariel Magnus mit der Lektüre großer argentinischer Autoren wie Bioy Casares – argentinische Schullektüre – Manuel Puig oder Julio Cortázar aufgewachsen, war ein großer Borges-Bewunderer, schwärmt von Joyce's "Ulysses", Manns "Zauberberg" oder den frühen Romanen von Beckett, die er gerade gelesen hat. Er sieht sich selbst als Modernist. Sein erstes Buch "Ein Chinese auf dem Fahrrad" kommt allerdings mit dem dehnbaren Gattungsbegriff "Roman" auf den Markt.

    "Roman ist ein Genre, das mich kalt lässt. Ich mag Romane nicht. Also Romane, die sich als Romane entwickeln. Ich verstehe Plot nicht. Ich versuche, so zu schreiben, aber ich schaffe es nicht. Wortspiele sind für mich wichtiger. Ich kann einen Charakter töten, um ein Wortspiel zu machen, die Geschichte ist mir dabei absolut egal. Alles was passiert, Suspense und das ganze Zeug. Wenn ich zum Beispiel Familiengeschichten lese: Ich verstehe nie, was da passiert. Wer mit wem verheiratet ist und was die so treiben. Ist mir egal. Ich will nur die Sprache lesen, was der Autor mit der Sprache macht, welche Ideen er hat. Eine gute Idee ist für mich viel wichtiger als eine gute Geschichte. Ich würde sehr gern eine gute Geschichte schreiben, ich kann es einfach nicht. Dieses Buch beginnt mit dem Versuch: Jetzt werden wir viele Abenteuer erleben, aber es geschieht nichts. Und die Abenteuer werden sprachliche Abenteuer, und es werden Gedankenabenteuer. Die mag ich lieber als richtige Abenteuer. Dafür muss man andere Bücher lesen."

    Ariel Magnus: Ein Chinese auf dem Fahrrad.
    Roman, aus dem argentinischen Spanisch von Silke Kleemann,
    Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010,
    251 Seiten, EUR 17,95