Arbeiter an die Schreibmaschinen

Von Manfred Jäger · 24.04.2009
Am 24. April 1959 wurde im Kulturpalast Bitterfeld eine DDR-Kampagne zur Förderung des künstlerischen Laienschaffens gestartet. Arbeiter sollten zu Stift und Papier greifen - und so zum Hauptquelle sozialistischer Literatur werden. Zugleich sollten die Berufsschriftsteller in die Betriebe gehen und dort ihre Stoffe suchen, um die Distanz zwischen Kunst und Leben in ihrem Werk zu verringern.
Wer sich mit der DDR befasst, kommt an Bitterfeld nicht vorbei, ganz gleich, ob er sich für Ökonomie, Umweltverschmutzung, Kulturpolitik, Literatur oder den "Wettkampf der Systeme" interessiert. Hochgespannte Ziele verbanden sich mit dem Städtchen im Bezirk Halle und mit den dortigen volkseigenen Betrieben des alten IG-Farben-Konzerns. Ein im November 1958 verkündeter Sieben-Jahre-Plan für die chemische Industrie stand unter der pathetischen Losung, Chemie bringe Brot, Wohlstand und Schönheit.

Das SED-Politbüro mit Walter Ulbricht an der Spitze entschied, dass der Wirtschaftsplan von einer kulturellen Massenbewegung begleitet werden sollte. Der Schriftsteller Otto Gotsche, ein enger Vertrauter Ulbrichts, beschrieb den Beginn der Kampagne so:

"Dann saßen wir am 24. April 1959 im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld mit fast 500 Teilnehmern im großen Saal: Künstler, Schriftsteller Kulturschaffende, Arbeiter, Staatsfunktionäre. Die historische Konferenz, die einen Wendepunkt in unserer kulturellen Arbeit einleitete, begann. Die Geburtsstunde der Zirkel schreibender, malender, musizierender Arbeiter, einer neuen Etappe des künstlerischen Laienschaffens hatte geschlagen."

In seinem Grundsatzreferat beklagte sich Walter Ulbricht darüber, dass die Berufsschriftsteller sich nicht aktiv der jeweiligen Hauptaufgabe widmeten.

"Ich will ganz offen sagen: Es geht zu langsam! Die Aktivisten, die Mitglieder der Brigaden der sozialistischen Arbeit haben ein schnelleres Tempo als ein Teil unserer Schriftsteller und unserer Künstler. Ich möchte also unterstreichen, dass wir die Aufgaben der Schriftsteller in den Rahmen der sozialistischen Umwälzung, in den Rahmen der Lösung der ökonomischen Hauptaufgabe stellen, die das Ziel hat, das Übergewicht gegenüber Westdeutschland in Bezug auf den Pro-Kopf-Verbrauch der Bevölkerung und im Kampf um das wissenschaftlich-technische Weltniveau zu erreichen."

Die Kulturrevolution von oben setzte die etablierten Autoren unter Druck. Die Werktätigen sollten ihnen den Weg weisen.

"Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalkultur braucht dich!"

Das Motto der Konferenz weckte falsche Erwartungen. Denn die SED hatte sich als Hüterin des bürgerlichen Humanismus von Goethe bis Thomas Mann etabliert und die Wiederbelebung der proletarischen Literaturtraditionen der Weimarer Republik bisher als sektiererische Abweichung verworfen. In der Rede des vielgelesenen Autors Willi Bredel sind - bei allem Enthusiasmus - auch skeptische Untertöne nicht zu überhören:

"Für einen Arbeiter sich an eine literarische Gestaltung zu machen, zur Literatur, zur Feder zu greifen, das ist ein wahres Abenteuer. Das ist eine große Sache. Das geht nicht ohne besessenen Willen, ohne Einsicht in die Notwendigkeit zu lernen, Rückschläge auf sich zu nehmen, Misserfolge auf sich zu nehmen, den Altpapiersammler zu bereichern. Das alles muss er auf sich nehmen und doch nicht nachlassen, beharrlich sein, um literarisch etwas zustande zu bringen, das immer, immer, fast immer jedenfalls, unter Kämpfen und Krämpfen geboren wird."

Auch während der Konferenz wurden unfreiwillig komische Reimereien vorgetragen, zum Beispiel von dem prominenten Arbeiterschriftsteller Hans Marchwitza:

"Ich will hier nicht um was Mag'res hadern -
Da draußen brüllt das Leben voll,
und es rumort in meinen Adern,
ich brauch es für mein Dichtersoll."

Am Rande des "Bitterfelder Weges" wucherten viele Stilblüten. Die professionellen Autoren sollten sich in den Kombinaten Anregungen für fortschrittliche Betriebsromane holen. Weil sie dort aber auch auf Radaubrüder und Säufer stießen, wie der Schriftsteller Erwin Strittmatter sie nannte, mussten sie mit dem Kontrast von Wunschbild und Wirklichkeit zurechtkommen. Schließlich blieb man bei der alten Arbeitsteilung. Auf der zweiten Bitterfelder Konferenz 1964 empfahl man den Kumpels, sich auf Brigadetagebücher oder Wandzeitungen zu konzentrieren. Nach Erich Honeckers Machtantritt 1971 wurde das Bitterfelder Projekt als einseitige, lebensfremde Marotte Ulbrichts endgültig beerdigt.