Die unsterbliche Partie

Von Thomas Jaedicke · 21.06.2011
Am 21. Juni 1851 wird im Rahmen der ersten Weltausstellung in London auch das erste internationale Schachturnier der Welt ausgetragen. Am Rande des offiziellen Wettkampfs gelingt Adolf Anderssen in einem Trainingsspiel gegen Lionel Kieseritzky ein spektakulärer Erfolg. Die Unsterbliche Partie ist immer noch weltberühmt.
London, Juni 1851. Die Hauptstadt des britischen Königreichs platzt aus allen Nähten. Die Hotels sind ausgebucht. Großbritannien, dank der industriellen Revolution das fortschrittlichste Land der Erde, richtet im neu erbauten Crystal Palace die erste Weltausstellung aus.

Auch die weltbesten Schachspieler sind in der Stadt. Im Rahmen der Ausstellung machen sie mit dem ersten internationalen Turnier Werbung für das königliche Spiel. Mit von der Partie sind die Außenseiter Adolf Anderssen und Lionel Kieseritzky. Anderssen verdient seinen Lebensunterhalt in Breslau als Gymnasial-Lehrer für Mathematik und deutsche Sprache. Lionel Kieseritzky ist Berufsspieler. Nach einer dubiosen Familienaffäre muss er seine livländische Geburtsstadt Dorpat Hals über Kopf verlassen. In Frankreich schlägt er sich nun als Schachprofi in den Pariser Straßencafés durch.

Am 21. Juni 1851 treffen sich Anderssen und Kieseritzky am Rande des Turniers in Simpson´s Grand Divan zu einer offenen Partie, um ein bisschen für den Wettkampf zu üben.

"Auf dem alten aristokratischen Boulevard The Strand gelegen, war das Simpson's Mitte des 19. Jahrhunderts ein vornehmer Club."

Schreibt der amerikanische Schachexperte David Shenk in seinem Buch "The Immortal Game – A History of Chess".

"Männer versammelten sich hier, um Zigarren zu rauchen, über Politik zu reden und Schach zu spielen. Für einen Shilling und Sixpence wurde der Gast mit Kaffee versorgt, bekam eine Zigarre und unbegrenzten Zugang zu den Schachtischen."

Adolf Anderssen spielt mit den weißen Figuren. Er eröffnet konventionell mit Bauer e2 nach e4. Kieseritzky hält mit seinem Königsbauern dagegen. Beide Spieler sind Anhänger der im 19. Jahrhundert weitverbreiteten Romantischen Schule. Das heißt, sie lieben es, anzugreifen, aggressiv und spektakulär zu spielen. Opfer werden dargeboten und meist auch angenommen. Bis zum 17. Zug ist es eine interessante, aber noch nicht außergewöhnliche Begegnung. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Anderssen hat einen Läufer weniger, dafür aber seine Figuren besser als Kieseritzky ins Spiel gebracht. Kieseritzky hat nur eine Dame und einen Läufer vorn, mit denen bedroht er allerdings jetzt die beiden weißen Türme. David Shenk:

"Anderssen ignorierte die kolossale Bedrohung, als ob er noch nicht einmal sehen würde, dass seine beiden Türme in höchster Gefahr waren. Wenn es Kieseritzky nicht besser gewusst hätte, hätte er diese Spielweise für die eines Stümpers halten können, der gerade einmal weiß, wie man die Figuren zieht."

Anderssen verliert den ersten Turm und opfert danach auch noch den Zweiten! Statt ihn zu schützen, macht er einen kleinen, unscheinbaren Bauernzug. Seine Position auf dem Brett scheint aussichtslos. Aber nur auf den ersten Blick. Deutschlands Schachbundestrainer Uwe Bönsch:

"Also im 19. Zug hat der Anderssen einen stillen Zug gemacht, das heißt, er hat auf eine Drohung seines Gegners nicht reagiert. Er hat e5, einen Bauern, nach vorne gezogen. Und danach gab es eigentlich keine Rettung mehr für Kieseritzky."

Anderssen's Falle schnappt zu. Gierig schlägt Kieseritzky den zweiten Turm. Dennoch verpufft der Angriff. Fünf seiner Offiziere stehen wie Zinnsoldaten immer noch wirkungslos auf der Grundlinie. Anderssen opfert sogar noch seine Dame, hat nur noch zwei Springer und einen Läufer, kann Kieseritzky aber trotzdem im 23. Zug matt setzen. Ein dramatisches Finale, das das Spiel, das nicht mal eine Stunde dauert, zur "Unsterblichen Partie" veredelt.

"Statt sich um sein Material zu kümmern, befestigte Anderssen seine Stellung im Zentrum. Er schneidet der schwarzen Dame die Verteidigung zum eigenen König ab. Also ich glaube, die Schönheit der Kombination und der Mut, von dem Adolf Anderssen, seine Dame, seine beiden Türme und auch noch einen Läufer zu opfern, das fasziniert bis heute viele Schachliebhaber."

Adolf Anderssen ist so gut in Form, dass er das große Londoner Turnier zur Weltausstellung sogar für sich entscheiden kann. Von den folgenden sieben Turnieren, die der Gymnasiallehrer spielt, gewinnt er sechs. Als er 1879 stirbt, widmet ihm die Deutsche Schachzeitung einen ausführlichen Nachruf. Lionel Kieseritzky hat nicht mehr so viel Glück. Ihn plagen finanzielle und gesundheitliche Probleme. 1853, nur zwei Jahre nach der "Unsterblichen Partie", stirbt er in Paris. Ein Kellner aus seinem Lieblings-Schachcafé ist der einzige Trauergast auf seiner Beerdigung.