Ehrliche Milieustudien vom Paris der 50er

Von Björn Stüben · 14.04.2012
Der französische Fotograf Robert Doisneau wurde vor allem durch eines seiner Schwarz-Weiß-Fotos bekannt: Ein junges Liebespaar küsst sich leidenschaftlich. Vor einigen Jahren wurde der Originalabzug der Fotografie für über 150.000 Euro versteigert. Am 14. April 1912 wurde er geboren.
Im Strom der Passanten auf der Rue de Rivoli vor dem Pariser Rathaus hält ein junges Paar inne und küsst sich. Das Schwarzweiß-Foto, entstanden im Jahr 1950, ist die bekannteste Aufnahme des französischen Fotografen Robert Doisneau. Für das amerikanische Magazin LIFE war er den Verliebten auf den Fersen gewesen. Ein Schnappschuss war der "Kuss" dennoch nicht. Doisneau hatte die beiden Schauspielschüler zufällig auf der Straße getroffen und mit ihnen spontan das Foto inszeniert:

"Ein Fotoreporter ist für mich jemand, der den gestressten Zeitgenossen an die Hand nimmt und ihm das Schauspiel des Alltags auf den Straßen zeigt. Dabei wird der Fotoreporter seine Vision der Realität vorführen. Die Straße ist für mich das beste Fotostudio, das man haben kann."

Am 14. April 1912 in Gentilly bei Paris geboren, begann Doisneau nach seiner Ausbildung zum Graveur und Lithografen sich auch für die Fotografie zu interessieren. 1934 machte er seine ersten professionellen Aufnahmen bei den Renaultwerken auf der Ile Seguin vor den Toren von Paris. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trat er in die Fotoagentur Rapho ein und realisierte erste Reportagen mit seiner Kamera, die er wie die meisten seiner Arbeiten in Schwarz-Weiß ausführte. Nach dem Krieg waren es Auftragsarbeiten für die französische Presse wie Portraits von Picasso, Léger, Braque oder Orson Wells, die ihn allmählich bekannt machten. Doch seine Leidenschaft galt den Schnappschüssen, die er in den ausufernden Vorstädten und in Paris selbst vom Alltag der einfachen Großstadtbevölkerung machte. Eine Arbeit, die einem Fotografen vor allem eines abverlangte:

"Warten und immer wieder warten. Dadurch entsteht bei mir das Gefühl, dass ich mich von der Masse der Menschen um mich herum abhebe. Wenn ich immer an derselben Stelle - manchmal bis zu zwei Stunden - fast starr ausharre, dann kommen die Leute auf mich zu und wollen wissen, auf was ich denn warte. 'Ich weiß es nicht', ist dann meine Antwort. Ich glaube, die Qualität eines Fotografen besteht darin, auf ein Wunder zu hoffen, den Glauben zu haben, dass der Zufall einem irgendetwas auf dem silbernen Tablett serviert."
Doisneau ging es um die Poesie des Alltags, die er in Momentaufnahmen einfing. Auf die minutiös durchdachte Bildkomposition, die etwa die Werke seines Kollegen Cartier-Bresson auszeichnete, kam es ihm weniger an. Vielleicht fand er auch deshalb kaum Gefallen an der Modefotografie, die er dennoch zeitweise für Vogue realisierte. Spielende Kinder auf den Straßen, Lastkähne auf der Seine, die schweißtreibende Arbeit der Metzger in den alten Pariser Markthallen, Prostituierte unter Straßenlaternen, gestrandete Zeitgenossen am Tresen im Bistro - das waren Doisneaus Motive, denen er doch nie zu nahe rückte.

"Ich habe oft gedacht, dass mich meine Schüchternheit beim Fotografieren behindert hätte und dadurch weniger gute Fotos entstanden wären. Aber im Rückblick stimmt das nicht. Dass ich mich aus Respekt nicht viel näher an die Personen heranwagte, führte dazu, dass ich heute die vielen kleinen Details der Umgebung, die ich durch meinen Abstand mit aufgenommen hatte, viel stärker hervortreten sehe. Sie erscheinen mir heute ebenso wichtig, wie das Hauptmotiv."

Doisneaus Aufnahmen der 50er bis 70er-Jahre dokumentierten ein Paris, das heute fast gänzlich verschwunden ist. Bei diesem schleichenden Prozess wollte Doisneau mit seiner Kamera als Zeuge auftreten, wie er selber immer wieder betonte. 1983 erhielt er den Grand Prix national de la Fotografie. Bis zu seinem Tod im April 1994 entstanden über 400.000 Fotos, von denen einige Originalabzüge auf Auktionen heute Rekordpreise erzielen. Im Gegensatz zur Kunstfotografie sprechen Doisneaus unprätentiöse Aufnahmen das Publikum unmittelbarer an, denn sie sind ehrliche Milieu- und Zeitstudien. Seine Fotos sprächen für sich selbst, kommentiert werden müssten sie daher eigentlich nie, davon war Doisneau überzeugt:

"Fotografen reden eher selten über Fotografie. Das machen die Kritiker, die immer meinen, die Motivationen der Fotografen genau zu kennen. Diese haben aber selber nie an das alles gedacht, was ihnen unterstellt wird. Man sollte daher nicht auf Fragen antworten. Also, schweige ich jetzt."