Vor 100 Jahren

"Warum haben sie Jaurès getötet?"

Undatiertes Porträt des französischen Sozialisten Jean Jaurès (1859-1914)
Der französische Sozialist Jean Jaurès (1859-1914) © picture-alliance / dpa
Von Ruth Jung · 31.07.2014
Jean Jaurès hatte immer wieder vor dem Ersten Weltkrieg gewarnt - und sich damit mächtige Feinde gemacht. Am 31. Juli 1914 wurde der französische Politiker und Pazifist in Paris erschossen.
"Es ist totenstill. Unter dem grau verhangenen Winterhimmel warten die Tausende. (...) Niemand spricht, ein einziges Herz schlägt. Und mahnt. Ein zweiter großer Katafalk, wie ein Tank anzusehen und von sechzig Arbeitern getragen, nimmt die Asche dessen auf, der noch zuallerletzt gemahnt und gewarnt und für das zu bewahrende Leben der andern sein Leben hingegeben hat. (...)"
Der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky in der "Weltbühne" im Dezember 1924 über Jean Jaurès Überführung ins Panthéon.
"Am 31. Juli 1914 hat ein Leser der französischen Lokalanzeiger im Café du Croissant der Rue Montmartre den großen Sozialisten Jean Jaurès ermordet. Der war noch am Morgen dieses Tages ins Parlament gestürzt, die Nachricht von der Verkündigung des 'Kriegsgefahrzustands' in der Tasche, hatte die genaue Bedeutung des Wortes im Lexikon nachgeschlagen und in unverwüstlichem Glauben ausgerufen ‚ Ce n'est pas encore la guerre!' Das ist noch nicht der Krieg!"
Zwischen Völkerbund und Grande Nation
In der Tageszeitung L'Humanité, die Jean Jaurès 1904 gegründet hatte, hatte der unbeugsame Pazifist immer wieder Militarismus und Nationalismus angeprangert und für einen Völkerbund plädiert.
"Bricht der Krieg aus, dann wird er sich gleich einer Seuche verbreiten und zum schrecklichsten Völkermord seit dem Dreißigjährigen Krieg führen."
Der am 3. September 1859 in Castres im Südwesten Frankreichs geborene Sohn einer alteingesessenen Bürgerfamilie war ein hochbegabter Redner: Schlagfertigkeit, umfassende Bildung, gepaart mit Einfachheit und Freundlichkeit kennzeichneten ihn. Mit 26 Jahren zog der Philosophieprofessor als jüngster Abgeordneter der republikanischen Partei in die Nationalversammlung der Dritten Republik ein. Überzeugt, dass es möglich sei, eine gerechte Sozialordnung herzustellen, kämpfte Jaurès für die Einheit der europäischen Arbeiter.
Eine Demütigung für die Revanchisten
"Pourquoi ont-ils tué Jaurès?" - "Warum haben sie Jaurès getötet?", heißt es im Chanson von Jacques Brel.
Mit seiner Haltung hatte sich Jaurès mächtige Feinde im nationalistischen Lager gemacht. Mutig verteidigte er im Parlament den jüdischen Hauptmann Dreyfus, der 1894 Opfer einer beispiellosen Verleumdungskampagne geworden war: im Auftrag Deutschlands soll Dreyfus spioniert haben, hieß es. Zwischen den beiden Ländern verschärfte sich der Ton. Jaurès erkannte, dass aus einem lokalen Konflikt leicht ein europäischer Krieg werden könnte. 1908 erschien seine Studie über die Ursachen des deutsch-französischen Krieges 1870/71 und die folgende Revanche-Politik:
"An dem Konflikt, der zwei mächtige Nationen gegeneinander aufgebracht hat, trägt Frankreich eine tiefe Mitschuld. Frankreich war es, die ihn seit langem vorbereitet und fast unvermeidbar gemacht hat, indem es die Lebensbedingungen Deutschlands verkannt hat und der notwendigen und legitimen deutschen Einheit mit stiller Feindschaft entgegengetreten ist. (...) Wie schwer tat sich Frankreich, eine gleiche unter gleichen Nationen zu werden! Wie schmerzhaft war es, nicht länger die große Nation, sondern nur eine große Nation zu sein!"
Das war zuviel für die Revanchisten, die Demütigung der Niederlage mit der Annexion von Elsaß-Lothringen saß tief. Nach dem Mord an Jean Jaurès gab es manch hämische Reaktion, sein Mörder wurde gar freigesprochen. Daher sei es mehr als eine Geste, dass die nachfolgende Regierung die Beisetzung von Jean Jaurès im Panthéon veranlasst habe, resümiert Kurt Tucholsky 1924:
"Sie ist die Offenbarung des festen Willens einer Regierung und breiter französischer Schichten, im Frieden mit Europa zu leben, im Frieden mit den Nachbarn auszukommen (...) Diese Überführung ist eine Ehrung, eine Mahnung und ein Bekenntnis."
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