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Kalenderwandel
Spannende Geschichte übers Zeitempfinden

Die Vorstellung von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit ist kulturell geprägt. Achim Landwehr, Historiker an der Universität Düsseldorf, beschreibt in seinem Buch "Geburt der Gegenwart", wie sich das Zeitempfinden im 17. Jahrhundert entwickelt hat. Er hat souverän eine Fülle von Material zu knappen und spannenden Kapiteln aufgearbeitet.

Von Christoph Fleischmann | 12.05.2014
    Ein Kalenderblatt liegt am 11.12.2012 in Stuttgart (Baden-Württemberg) so aufgeschlagen, dass man das Blatt vom 21. Dezember sehen kann.
    Die Erwartung eines nahen Weltendes wirkte sich unterschiedlich auf das Zeitempfinden aus. (picture alliance / dpa - Franziska Kraufmann)
    Die Veränderung der Kalender, einem frühneuzeitlichen Massenmedium, ist für Achim Landwehr ein Hinweis: Der Historiker beschreibt, dass die Kalenderseiten bis weit in das 17. Jahrhundert hinein allerlei Informationen enthielten: zum Beispiel Wettervorhersagen oder Hinweise, wann der beste Zeitpunkt kommt für bestimmte landwirtschaftliche oder gesundheitliche Verrichtungen, aber auch astrologische Vorhersagen über politische Ereignisse. Raum für eigene Notizen habe es bis zum späten 17. Jahrhundert nicht gegeben:
    "Auf einmal werden die Seiten leer. Da steht dann eben nichts mehr drin, es gibt nur noch die wichtigsten kalendarischen Informationen, noch ein klein bisschen Astrologie, bisschen meteorologische Informationen, aber das war's dann auch. Ansonsten guckte einen die leere Seite an und sprach zu einem: Füll mich, fülle deine eigene Zeit aus, mach mit dem Jahr, das da vor dir steht, tatsächlich selber was. Das ist eben ein Indiz neben mehreren auch ganz alltagspraktischen Indizien, darauf, dass hier mit der Art und Weise mit der Zeit umzugehen, sich was ganz Entscheidendes getan hat."
    Die Gegenwart sei zu einem Raum geworden, den man nun freier gestalten konnte - mit dem Blick auf eine tendenziell offene Zukunft:
    "Erneuerung gab es vorher auch schon, die findet dann aber in der umgekehrten Richtung statt, das heißt Erneuerung findet dadurch statt, dass man sich immer nach hinten orientiert; also das ist ja der Kniff mit allem was mit Reformation zu tun hat oder Renaissance, also dieses schöne Präfix Re-, das immer zurückwill. Und diese ganzen Bewegungen, die sich dadurch erneuern wollten, dass sie das Alte als ganz Neues wiederbeleben wollten. Und wir machen das normalerweise umgekehrt, das heißt, wenn wir was Neues anfangen wollen, orientieren wir uns eben nicht mehr am Gestern und sehen nicht mehr im Gestern das Ideal, sondern sehen immer Möglichkeiten und Chancen, das in der Zukunft hinzubekommen – und das ist sicherlich ein sehr neuzeitliches, ein sehr modernes Zeitverständnis, das eben noch nicht so alt ist."
    Abgrenzung der Gegenwart von der Vergangenheit
    Das Alte habe die Vorbildfunktion verloren: Landwehr macht das unter anderem an der im 17. Jahrhundert geführten Diskussion fest, ob die Antike oder die damalige Moderne die höherstehende Kultur sei. Zur selben Zeit begründete Jean Mabillon die historische Quellenkritik: Damit sei die Vergangenheit von der Gegenwart fortgerückt worden, so Landwehr. Die Vergangenheit spreche nicht mehr unmittelbar zur Gegenwart, sondern unterscheide sich von ihr und werde von jeder Gegenwart erst rekonstruiert.
    "Im Verlauf des 17. Jahrhunderts gewinnt die Gegenwart einen eigenständigen Stellenwert, eine eigene Identität, die unabhängig von anderen Kategorien wahrgenommen werden kann. Vergangenheit und Zukunft können von der Gegenwart abgekoppelt, ja als im eigentlichen Sinn nicht existent konzipiert werden. Allein die Gegenwart gibt es, und von ihr aus werden die Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft entworfen."
    Geist der Apokalypse
    Damit die Gegenwart zur Geltung komme, habe sich auch die Zukunft verändert: Landwehr stellt auf hochinteressante Weise dar, wie die Erwartung eines nahen Weltendes nach der Reformation wieder aufblühte und sich unterschiedlich auf das Zeitempfinden auswirkte. Einerseits sei dadurch die Zukunft vorherbestimmt gewesen im Sinne des alten Zeitwissens, andererseits aber habe die Hoffnung auf das nahe Ende der Welt und damit auch den Eintritt in das Reich Gottes sehr weltliche Planungen inspiriert:
    "Das war gewissermaßen eine nichtintendierte Folge dieses apokalyptischen Denkens: Man wusste: Das Ende wird kommen. Man sah für sich selbst die Aufgabe, dieses Ende schon hier und heute vorzubereiten und dafür schon konkrete Projekte ins Werk zu setzen. Und wie wir wissen: Im 17. Jahrhundert ist das Ende der Welt dann nicht gekommen, aber die Projekte blieben dann bestehen. Und von daher findet da nun tatsächlich so eine nicht gewollte Geburt von Zukunftsprojektierung statt, die man gar nicht vorhatte, die dann aber die Möglichkeit bot, offene Zukünfte zu modellieren, man musste dann einfach nur noch die Apokalypse gewissermaßen subtrahieren und die Zukunftsprojekte blieben dann tatsächlich übrig."
    Einleuchtend zeigt Landwehr, dass Erziehungsprojekte oder politische Utopien aus dem "Geist der Apokalypse" geboren wurden; auch wenn das Bild vom Subtrahieren offenlässt, ob und wie sich die christliche Endzeiterwartung genau in die Fortschrittshoffnung umgewandelt hat.
    Auf ein anderes Problem weist Landwehr hin: Wenn sich die Hoffnung auf das Reich Gottes verdünnt, wächst die Unsicherheit.
    "In gewisser Weise wusste man bis in das 17. Jahrhundert hinein deutlich mehr von der Zukunft, als dies im frühen 21. Jahrhundert der Fall ist. Denn aufgrund endzeitlicher Erwartungen war der eher wenig erfreuliche weitere Verlauf der Schöpfungsgeschichte vorherbestimmt, mittels Weissagung, Prophetie oder vernünftiger Einsicht konnte es sogar gelingen, Wissen über die zukünftigen Dinge zu erlangen. Diese Situation änderte sich, als 'Zukunft' allmählich zu einem offenen und gestaltbaren Horizont wurde, als aus Gegebenheiten nun Möglichkeiten wurden, als die Gewissheit der Verunsicherung wich. Diese Entwicklung musste keineswegs befreiend wirken, sondern konnte beängstigen, denn nun eröffnete sich ein bedrohlicher Bereich unerforschter Gefahren."
    Unsicherheit und Versicherungsgesellschaften
    Der Unsicherheit versuchten die Menschen mit den nun entstehenden Versicherungsgesellschaften beizukommen. Über dieses Phänomen hinaus beschäftigt sich Landwehr leider nicht weiter mit den neuen Wirtschaftsformen des 17. Jahrhunderts, die unbedingt zum Thema gehören, weil sie mit der Zukunft handeln: Börsen und Aktiengesellschaften, ja, die erste Spekulationsblase und die Einführung des Papiergeldes fallen in diese Zeit:
    "Das ist das eine große Kapitel, was ich noch hätte schreiben wollen, aber was ich dann nicht mehr so richtig gemacht habe, weil: Sonst wär das Ding noch länger geworden, das ist dann hinten runter gefallen, vielleicht mache ich das später noch mal."
    Ja, bitte, das wäre unbedingt zu wünschen: Landwehr hat ein anregendes Werk vorgelegt, er schultert eine beeindruckende Fülle an Material souverän und stilistisch sehr elegant. Die knappen Kapitel decken ein weites Feld ab und sind spannend geschrieben. Eine Darstellung der wirtschaftlichen Kräfte im 17. Jahrhundert, die in die Zukunft und mit der Zukunft handelten, wäre sicher ebenso lesenswert. Vielleicht wird dann auch noch deutlicher, dass der Preis des modernen Zeitwissens nicht nur die Unsicherheit ist, sondern dass auch neue Restriktionen der Freiheit dazu kamen: Denn die Zukunft ist gar nicht nur offen, sondern schon verplant und verkauft.
    Achim Landwehr: "Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert",
    S. Fischer Verlag, 448 Seiten, 24,99 Euro
    ISBN: 978-3-100-44818-7