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Kalter Krieg
Bundeswehr plante Chemiewaffeneinsatz

Die Bundeswehr soll in den 1960er-Jahren die Beschaffung und den Einsatz von Chemiewaffen geplant haben. Das belegen Akten der Bundeswehr und der US-Regierung, die streng geheim waren und jetzt erstmals ausgewertet wurden.

Von Christoph Heinzle, Gabor Halasz und Lena Gürtler | 03.05.2018
    Fässer mit Gasgranaten aus dem Ersten Weltkrieg werden im März 1962 in Monzingen vor ihrer Verladung auf Eisenbahnwaggons von Bundeswehrsoldaten bewacht.
    Die deutschen Giftgas-Bestände aus dem Ersten Weltkrieg wurden 1962 durch ein Sonderkommando der Bundeswehr im Atlantik versenkt. Ein Jahr später Bundesverteidigungsminister um eine Belieferung mit chemischen Waffen. (dpa)
    Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Chemiewaffen: Das hatte die junge Bundesrepublik nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges geschworen. Doch keine 20 Jahre später plante sie den Tabubruch.
    Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel bat 1963 die US-Regierung geheim um die Belieferung mit chemischer Munition. Das belegen die jetzt von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung ausgewerteten Dokumente. Das Pentagon war zunächst bereit, dem nachzukommen.
    US-Militärhistoriker Reid Kirby: "In seiner ersten Reaktion war das US-Militär empfänglich für die Idee. Überraschenderweise haben sie es nicht verstanden, dass das ein sensibles Thema war. Für sie ging es nur um irgendein Waffensystem. Erst das US-Außenministerium äußerte Bedenken mit Blick auf die Außenwirkung, es könnte politisch heikel sein."
    Die US-Regierung diskutierte auf Wunsch des Weißen Hauses zunächst einmal grundsätzlich. Jahre später entschieden sie gegen eine Weitergabe von Chemiewaffen an Westdeutschland.
    "Chemische Sprengmunition in Höhe von ca. 14.000 Tonnen"
    Doch parallel dazu plante die Bundeswehr auf Weisung des Generalinspekteurs 1962 bis mindestens 1968 detailliert einen möglichen Einsatz chemischer Munition. Als Vergeltung eines möglichen C-Waffen-Angriffs des Ostens hielt man das für rechtmäßig.
    In einem damals streng geheimen Papier des stellvertretenden Inspekteurs des Heeres heißt es: "Der Friedensvorrat des Feldheeres an Chemischer Sprengmunition wird eine Höhe von ca. 14.000 Tonnen erreichen. "
    1966 geht die Bundeswehrspitze noch weiter und setzt die geheime "Studiengruppe ABC-Wesen" ein. Die führt die Planübung "Damokles" durch, ein Manöver am Tisch. Die Region um Braunschweig wird in dem Kriegsspiel zum Schauplatz eines Gefechts, in dem erst der Warschauer Pakt und dann die Bundeswehr Chemiewaffen einsetzen. Die Auswirkungen seien erschreckend, notiert der anwesende Generalinspekteur.
    Hans Georg Wieck war in den 60er Jahren Büroleiter des Verteidigungsministers. Von den Plänen habe er zwar nichts gewusst. Aber: "Sie waren richtig. Sie waren nicht nur plausibel, sie waren richtig, wenn ich die Bedrohung annehme."
    "Überrascht, mit welcher Intensität Dinge weiter verfolgt wurden"
    Für den früheren Generalinspekteur Wolfgang Altenburg spricht aus den Dokumenten die Vorstellung, ein Krieg mit konventionellen und chemischen Waffen könnte führbar und kontrollierbar sein.
    "Ich stelle fest und bin hier in einigen Dingen sehr überrascht, mit welcher Intensität und mit welcher Zeitdauer diese Dinge noch weiter verfolgt wurden, wo wir in der Allianz schon längst erkannt hatten, dass die Mittel, die Krieg abschrecken, politische Mittel sind und nicht die beste Waffe auf dem Gefechtsfeld."
    1968 entscheidet Verteidigungsminister Schröder, eine aktive Verwendung von chemischen Waffen durch die Bundeswehr "zunächst" nicht vorzubereiten. Mitentscheidend ist wohl, dass die USA die Munition dafür nicht liefern wollten.
    Heute habe das Bundesverteidigungsministerium dazu keine Informationen mehr, teilt ein Sprecher mit, der Vorgang liege zu weit zurück.