Freitag, 19. April 2024

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Kammermusik für Violine und Klavier
Exzentrik und rhapsodische Freiheit

Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja und die Pianistin Polina Leschenko haben auf ihrer neuen CD "Deux" Werke von Francis Poulenc, Béla Bartók und Maurice Ravel eingespielt - auf hemmungslos persönliche Weise. So wie hier hat man diese Werke noch nicht gehört.

Am Mikrofon: Mascha Drost | 18.03.2018
    Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja
    Patricia Kopatchinskaja (Julia Wesely)
    Zwischen Budapest und Paris, zwischen Salon und Volksfest, zwischen echter und künstlicher Folklore bewegt sich die neue CD der Geigerin Patricia Kopatchinskaja.
    Mit Violinsonaten von Bartók und Poulenc sowie Ravels "Tzigane" hat sie drei Werke von überbordendem Charakter und greller Farbigkeit ausgewählt; ungezähmt reizen sie die spielerischen Möglichkeiten der Geige bis in die Extreme aus, und die vorliegende Interpretation setzt alles daran, diesen Wesenszug noch zu verstärken.
    Musik: Poulenc, Violinsonate, 1. Satz
    Die erste und einzige Violinsonate von Francis Poulenc changiert zwischen ruppiger Vehemenz und Salonseligkeit, wobei die dunkleren Töne überwiegen. Kein Wunder, ist sie doch dem im Spanischen Bürgerkrieg ermordeten Schriftsteller Federico Garcia Lorca gewidmet. Nicht umsonst schreibt Poulenc gleich zu Beginn die Vortragsbezeichnung "très violent", und die Wucht, das Gewalttätige, hört man bei Patricia Kopatchinskaja in seltener Eindrücklichkeit. Bloß keine Halbherzigkeiten! Aber: so sehr sie die klanglichen und dynamischen Möglichkeiten auch ausschöpft, anders als bei so manchem Repertoirestück wirkt ihre Interpretation hier an keiner Stelle forciert, überspannt oder willkürlich.
    Seltene Eindrücklichkeit
    Musik: Poulenc, Violinsonate, 1. Satz
    Francis Poulenc gestand ganz offen, die Geige nicht sonderlich zu mögen, und vielleicht deshalb haben die Geiger ihm und seiner Sonate ihrerseits die kalte Schulter gezeigt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass das Werk so "ungeigerisch", also unbequem wie nur möglich komponiert ist - umso bewundernswerter die mühelose Selbstverständlichkeit, mit der Patricia Kopatchinskaja in den virtuosen Passagen agiert. Nicht weniger eindrucksvoll aber sind auch die klanglichen Nuancen, die die Geigerin und ihre Pianistin etwa im lyrischen zweiten Satz finden. Polina Leschenko ist überhaupt eine ideale Klavierpartnerin - sensibel, feinfühlig, aber selbstbewusst genug, sich von der Präsenz und Spontaneität Kopatchinskajas nicht unterbuttern zu lassen.
    Musik: Poulenc, Violinsonate, 2. Satz
    Auch wenn die Violinsonate düsterer, weniger verspielt wirkt als andere Kammermusikwerke Francis Poulencs, so entfernt sie sich doch nie allzu weit von Debussys Postulat, dass die französische Musik vor allem erfreuen will. Für Béla Bartók galt das nicht - nicht, dass er mit seinen Kompositionen bewusst verstören wollte, aber gerade seine zweite Violinsonate duldet in ihrer Strenge, ihrer expressionistischen Ausdruckskraft keinerlei Konzessionen an den Geschmack des Publikums. Es sei "keine Frage des Verständnisses, sondern des Gefühls", ob man diesen Stil akzeptieren könne, so das Urteil eines Zeitgenossen.
    Mühelose Selbstverständlichkeit
    Musik: Bartók, Violinsonate Nr.2, 1. Satz
    Für diese zweite Violinsonate Bartóks braucht es echtes Virtuosentum - und am besten eines, dass das Idiom ungarischer Volksmusik in sich trägt. Eines, wie es die Geigerin Jelly d'Aranyi verkörperte, die Widmungsträgerin dieses Werkes - und ihre Nachfolgerin im Geiste, Patricia Kopatchinskaja. Auch hier - keine falsche Zurückhaltung, aber auch keine vordergründige Exzentrik, und die rhapsodische Freiheit mancher Passagen verleitet beide Musikerinnen nicht dazu, die strenge Struktur der Sonate aufzuweichen; ein Werk, dass Bartók selbst besonders schätzte.
    Musik: Bartók, Violinsonate Nr. 2, 2. Satz
    Die schon erwähnte Geigerin Jelly d'Aranyi bildet eine Art interpretatorisches Bindeglied zwischen Bartóks zweiter Violinsonate und Ravels "Tzigane", dem Schlussstück dieser neuen CD. Möglicherweise war es sogar eine kleine Provokation, dieses salonhaft folkloristische, künstlich ungarisierte Werk Ravels ausgerechnet Bartóks "Hausgeigerin" zu widmen, wo der sich doch gegenüber solcher Musik, sei sie nun von Liszt, Brahms oder eben Ravel, ausdrücklich verwahrte. Und vielleicht ist diese Einspielung als eine Art Revanche zu verstehen - Patricia Kopatchinskaja zerrt die "Tzigane" geradezu aus dem Konzertsaal, aus den zivilisierten Salons, hinein ins Ungezähmte.
    Hinein ins Ungezähmte
    Musik: Ravel, Tzigane
    Man hört diesen Anfang und ist - ja was? Verblüfft? Verstört? Verärgert? Man schwankt zwischen Faszination und Fassungslosigkeit - über so viel Mut zu interpretatorischer Freiheit, über so viel Selbstbewusstsein, sich ein Stück derart einzuverleiben. Aber - wann sitzt man schon in mal banger, mal spannungsvoller Erwartung auf das Unerwartete vor dem Lautsprecher, wann hört man ein so bekanntes Repertoirestück wie die Tzigane tatsächlich neu? Patricia Kopatchinskaja nähert sich diesem Werk wie ein Kind - neugierig, ohne Vorurteile, ohne festgefahrene Denk - und Spielmuster. Sie erkundet und erschließt sich diese Musik mit allen Sinnen, und wenn sie übers Ziel "hinausspielt" - was soll's. Es ist eine Interpretation, die ebenso aus dem Bauch wie aus dem Moment heraus entsteht - verrückte Eingebungen kann man nachträglich zurechtstutzen und zivilisieren, oder man kann sie, wie Patricia Kopatchinskaja, in ihrer Einzigartigkeit herausstellen.
    Musik: Ravel, Tzigane
    Nichts für Puristen - Maurice Ravels "Tzigane" in der überbordenden und hemmungslos persönlichen Einspielung von Patricia Kopatchinskaja und Polina Leschenko. Außerdem finden sich auf dieser neuen Platte auch die eindrucksvoll gespielten Violinsonaten von Francis Poulenc und Bela Bartók.
    DEUX - Bartók, Poulenc, Ravel
    Patricia Kopatchinskaja, Violine
    Polina Leschenko, Klavier
    Label: Alpha, LC: 00516, Bestellnr. ALPHA 387