Dienstag, 23. April 2024

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Kammermusik von Edward Elgar
Wehmut und Widerständigkeit

"Eingefangenen Sonnenschein" hörte Edward Elgars Frau in seinem Streichquartett. Das Brodsky Quartet hat das Werk nun auf CD eingespielt, hingebungsvoll und edel, jedoch ohne in bloßer Schönheit zu verharren, findet unser Rezensent.

Am Mikrofon: Johannes Jansen | 12.05.2019
    Die Mitglieder des Brodsky Quartets stehen mit ihrem jeweiligen Instrument vor einer Glaswand
    Das Brodsky Quartet, zum letzten Mal in dieser Besetzung zu hören: v.l. Paul Cassidy (Viola), Ian Belton (Violine), Jacqueline Thomas (Violoncello) und Daniel Rowland (Violine) (Martina Simkovicova)
    Musik: Edward Elgar, String Quartet, 1. Satz
    Wer im Herbst des Lebens angekommen ist, tröstet sich gern mit der trotzigen Behauptung: Das Beste kommt noch! Auch Edward Elgar mag so gedacht haben, als er die Sechzig überschritten hatte und ein Kammermusikprojekt in die Tat umsetzte, dem eine lange Reifezeit vorausgegangen war. Häufig schon hatte er den Gedanken in seinem Kopf bewegt, sogar erste Skizzen zu Papier gebracht und das fertige Werk bereits einem Mitglied des Brodsky Quartets versprochen. Doch bis zur Vollendung sollten fast zwei Jahrzehnte vergehen, überschattet von gesundheitlichen Attacken und der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, die Elgar als freiwilliger Hilfspolizist an der Heimatfront verbrachte.
    Musik: Edward Elgar, String Quartet, 1. Satz
    Inzwischen war er mit seiner bereits kränkelnden Frau aufs Land gezogen, um Abkehr vom Lärm der Welt zu suchen. Er ahnte wohl, dass die bedeutendste Schaffensanstrengung seines Lebens vor ihm lag. Es war ein kreativer Doppelschlag mit dem Streichquartett op. 83 und dem Klavierquintett op. 84. Und danach der späte Triumph des Cellokonzerts op. 85, sein populärstes Werk nach jenen Pomp-and-Circumstance-Märschen, die englische Herzen – nicht nur der "Brexiteers" – bis heute höherschlagen lassen.
    Geheimnisvolle Anziehungskraft
    Im denkbar größten Gegensatz zu den teilweise kriegsverherrlichenden, auf Breitenwirkung bedachten Märschen im imperialen Gestus steht der nervöse, in Tempo und Metrum unbestimmt wirkende Quartett-Beginn. Und doch lockt er das Ohr, den verschlungenen Pfaden der Musik zu folgen, immer weiter hinein nicht nur in dieses Werk, sondern in eine geheimnisvolle Klangwelt in e-Moll, Elgars Lieblingstonart, die auch das Cellokonzert und die kurz zuvor vollendete Violinsonate prägt.
    Musik: Edward Elgar, String Quartet, 1. Satz
    Klangsinn und Hingabe an die Melodie kennzeichnen das Spiel der Brodskys, ohne jedoch in Schönheit zu erstarren, zumal nicht bei den vielen scharfen Tönen in den bewegteren Abschnitten des Eingangsatzes: eine das rhythmische Feingefühl beständig herausfordernde Metamorphose der vorgezeichneten Zwölfachtel in einen triolisierten Vierertakt.
    Abschied für den ersten Geiger des Brodsky Quartets
    Da wühlt sich das Quartett buchstäblich in die Partitur hinein, angetrieben von Daniel Rowland, der hier, wie er vor wenigen Wochen selbst verkündet hat, nach zwölf glücklichen Jahren beim Brodsky Quartet seine Abschiedsvorstellung als Primarius gibt; ab diesem Monat wird Gina McCormack seinen Platz einnehmen. Natürlich handelt es sich nicht um jene alten Brodskys, denen Elgar einst das Werk gewidmet hat, sondern um das Nachfolge-Ensemble von 1972, dem mit Cellistin Jacqueline Thomas und dem zweiten Geiger Ian Belton heute noch zwei Gründungsmitglieder angehören.
    Ungewöhnliche Diskografie
    Eine Einspielung des Elgar-Quartetts eröffnete 1982 den bemerkenswert bunten Reigen teilweise preisgekrönter CD-Veröffentlichungen der vier Streicher aus Manchester, die nicht nur das klassisch-romantisches Repertoire bedienen. Auch ein Schostakowitsch-Zyklus, die Zemlinsky-Quartette und die Juliet Letters" von 1993, ein bahnbrechendes Cross-over-Album mit Elvis Costello gehören dazu.
    Verneigung vor der eigenen Geschichte
    Mit der frisch veröffentlichten Elgar-Neuaufnahme – hundert Jahre nach der Erstaufführung des Quartetts – schließt sich ein Kreis. Es ist auch eine Verneigung des Ensembles vor der eigenen Geschichte. Vor wenigen Tagen erst bei einem Konzert im von Elgar gegründeten Malvern Concert Club wurde sie nochmals lebendig. In Malvern nämlich, an einem Oktobertag des Jahres 1907, als die Original-Brodskys dort gastierten, die Ur-Idee des Werks entstand.
    Der englische Komponist Edward Elgar an seinem Schreibtisch in Malvern Wells. 
    Der englische Komponist Edward Elgar an seinem Schreibtisch in Malvern Wells. (picture-alliance/ dpa)
    So viel Geschichtsbeladenheit macht ein gewisses Tremolo verständlich. Bei Rowland allerdings geht es in Richtung Selbstergriffenheit. Sein edler Geigenton hat das Extra-Vibrato eigentlich nicht nötig. Dass weniger mehr gewesen wäre, zeigt sich im zweiten Satz – dort hat die erste Geige bis Takt 22 Pause –, wenn sich der Charakter vom vorgeschriebenen "piacevole", also "angenehm", ins unangenehm Süßliche verändert, so betörend die Spitzentöne und angebundenen Flageoletts auch gelingen mögen.
    Musik: Edward Elgar, String Quartet, 2. Satz
    Auch dieser zweite Satz hat seine Geschichte. "Eingefangenen Sonnenschein" erblickte Elgars Frau darin. Sie liebte dieses Stück. 1920 wurde es zu ihrer Beerdigung gespielt. Mit ihrem Tod schien auch aus Elgar selbst jegliche Energie gewichen. In den ihm verbliebenen 14 Jahren Lebenszeit brachte er musikalisch kaum noch etwas zustande. Schon im Kriegsjahr 1917 hatte er geschrieben, unwiederbringlich verloren sei alles, was einmal schön und gut und süß und sauber war. Aber auch aus den Scherben ließ sich etwas Neues schaffen, ein letztes Mal. Die Zeitgenossen freilich zeigten sich für solch gebrochene Schönheit weniger empfänglich. Manches Elgar-Konzert fand vor halbleeren Sälen statt, was die Verbitterung vergrößerte, ungeachtet der Anflüge von Optimismus im dritten und letzten Satz seines Quartetts, vollendet am Weihnachtsabend des Jahres 1918.
    Geisterhafter Beginn
    Auch das gleichzeitig entstandene und mit ihm zusammen uraufgeführte a-Moll-Klavierquintett vereint in sich beide Pole: Wehmut und Widerständigkeit. Vorherrschend im ersten Satz jedoch ist eine Art Gespensterstimmung. Das um den Pianisten Martin Roscoe erweiterte Brodsky Quartet weiß sie natürlich auszukosten, ebenso wie die merkwürdig "spanisch" anmutende Episode nach dem unverkennbar "brahmsischen" Fugato.
    Musik: Edward Elgar, Piano Quintet, 1. Satz
    Die Neigung des ersten Geigers, sich über Gebühr in den Vordergrund zu spielen, fällt beim Quintett weniger ins Gewicht, weil der Pianist mit starker Pranke dagegenhält. Auch die Cellistin weiß das Klanggeschehen mit unsichtbarer dritter Hand zu steuern und jene "aufgewühlt-komplexen Strukturen", die sie in ihrem Booklet-Kommentar als nachklingende Kriegserschütterungen deutet, im Griff zu behalten. So gelingen trotz aller Kraftentfaltung feinste Nuancierungen und Tempo-Rückungen auf engstem Raum, die keinen Zweifel an der Vertrautheit aller Beteiligten mit dem Werk und miteinander lassen.
    Elgar als genialer Grübler
    Die souveräne Interpretation ist eine Einladung an alle "Elgerians", die sich vom affirmativen Geist der pompösen Märsche abgewendet haben, den Komponisten als genialen Grübler wiederzuentdecken. Auch in der Verzweiflung kam ihm der Sinn für Schönheit nicht abhanden. Für einen Moment zumindest, als das Kriegsende in greifbare Nähe rückte, blühte sie wieder auf – im beinahe überirdisch leuchtenden Mittelsatz des Quintetts. Nun ist es E-Dur und die Bratsche tritt "espressivo" hervor. Elgar wusste einfach, wie man Streicher glücklich macht. Hier ist es Paul Cassidy, der sich freut, inmitten eines Ensembles, das vor dem Weggang seines ersten Geigers noch einmal das Zusammensein genießt.
    Musik: Edward Elgar, Piano Quintet, 2. Satz
    Elgar: String Quartet / Piano Quintet
    Martin Roscoe, Klaver
    Brodsky Quartet
    Label: Chandos