Freitag, 29. März 2024

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Kammermusik von Mieczysław Weinberg
"Universum aus Licht und Schatten"

"Diese Musik erfordert keinen vorbereiteten, sondern einen aufmerksamen Zuhörer", schreibt Viacheslav Dinerchtein zu seiner neuen CD mit Violasonaten von Mieczysław Weinberg. Viele Werke des sowjetischen Komponisten belohnen eine Auseinandersetzung, wie auch Olga Scheps mit einer Einspielung mit dem Kuss Quartett beweist.

Am Mikrofon: Klaus Gehrke | 10.04.2020
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    War jahrzehntelang nur in der Sowjetunion bekannt: der 1996 verstorbene Komponist Mieczysław Weinberg (http://www.weinbergsociety.com)
    Jahrzehnte lang war der russische Komponist Mieczysław Weinberg nur in seiner Heimat, der Sowjetunion, bekannt. Internationales Aufsehen blieb ihm bis zu seinem Tode 1996 verwehrt. Das änderte sich schlagartig, als seine Oper "Die Passagierin" 2010 bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt und von vielen Kritikern als "Wiederentdeckung des Jahres" gefeiert wurde. Weinbergs 100. Geburtstag am 8. Dezember 2019 war für mehrere Interpreten ein willkommener Anlass zu einer Auseinandersetzung mit dem noch weitgehend unbekannten Werk des Komponisten. So spielte der Bratscher Viacheslav Dinerchtein beim Label Solo Musica sämtliche Sonaten für Viola solo ein. Und das Kuss Quartett nahm zusammen mit der Pianistin Olga Scheps Weinbergs frühes Klavierquintett für Sony Music auf. Zur heutigen Sendung begrüßt Sie am Mikrofon Klaus Gehrke.
    Musik: Mieczysław Weinberg, Sonate für Viola solo Nr. 4, op. 136, 1. Satz
    Zwar hatte Mieczysław Weinberg sowohl in seiner Geburtsstadt Warschau als auch im weißrussischen Minsk Klavier studiert und trat später in der UdSSR unter anderem als Pianist auf, so spielte er beispielsweise zusammen mit seinem Freund und Mentor Dmitri Schostakowitsch einige von dessen Sinfonien in einer Klaviertranskription. Einen besonderen Niederschlag hat das Klavier in Weinbergs umfangreichem Kammermusik-Oeuvre jedoch nicht gefunden. Der Komponist schien sich weit mehr für die Streichinstrumente zu interessieren und schrieb unter anderem 17 Streichquartette. Besonders bemerkenswert sind seine insgesamt zwölf Solosonaten für Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass. Sie entstanden zwischen 1960 und 1983. In letzteres Jahr fiel auch die Komposition seiner vierten Bratschensonate op. 136.
    Musik: Mieczysław Weinberg, Sonate für Viola solo Nr. 4, op. 136, 1. Satz
    Ähnlich wie bei den vier Sonaten für Violoncello, die der berühmte Mstislav Rostropowitsch bei ihm in Auftrag gab, schrieb Weinberg auch die Viola-Sonaten für die besten Bratscher in der Sowjetunion. Die vierte Sonate, aus der Viacheslav Dinerchtein gerade einen Ausschnitt aus dem ersten Satz spielte, ist Mikhail Tolpigo gewidmet. Der war Solobratscher beim damaligen Staatlichen Symphonieorchester der UdSSR.
    Anspruchsvoll und virtuos
    Im Juli 1971 komponierte Weinberg die erste Sonate op. 107 für Fjodor Druschinin, den Bratscher des Moskauer Beethoven-Quartetts. Das Werk hat vier Sätze. Es gipfelt in einem hoch anspruchsvollen Finale, in dem Weinberg ein schlichtes motorisches Thema in immer kunstvolleren Variationen verarbeitet. Hier hat der Interpret nicht nur virtuose Verzierungen, Flageoletts und Doppelgriffe zu bewältigen, sondern muss überdies noch zart schwebende Obertöne zum Klingen bringen. Beides bewältigt Viacheslav Dinerchtein mit beeindruckender Meisterschaft.
    Musik: Mieczysław Weinberg, Sonate für Viola solo Nr. 1, , op. 107, 4. Satz - Allegro
    "Ich lade Sie ein, ermutige Sie und wage es, diese einzigartige und fragile Gelegenheit zu ergreifen, Ihre Ohren und Ihr Herz dieser neuen exotischen Welt zu öffnen. Ich bitte Sie, zuzuhören, ohne Vorurteile, Vergleiche und andere Störgeräusche des Alltags. Diese Musik erfordert keinen vorbereiteten, sondern einen aufmerksamen Zuhörer. Und wenn Sie sich gestatten, mit dem Kopf in sie einzutauchen, bin ich mir sicher, dass Sie dieses kleine Stück von Weinbergs Universum wahrnehmen werden: ein Universum aus Licht und Schatten, Konflikten und Empfindungen." So ermutigt Viacheslav Dinerchtein im Booklet der CD die Hörer zur Auseinandersetzung mit den Bratschen-Sonaten von Weinberg. Tatsächlich sind sie alles andere als leichte Kost. Zwar erhielt Weinberg 1971, als er an der ersten Sonate arbeitete, die Auszeichnung "verdienter Künstler der Russischen Republik" - seine Kammermusik schien jedoch von staatlicher Seite niemanden zu interessieren.
    Große Phrasierungskunst
    Keine der vier Sonaten für Bratsche wurde zu Weinbergs Lebzeiten in der Sowjetunion offiziell uraufgeführt. Die Enttäuschung des Komponisten darüber scheint gerade in den letzten beiden Sonaten hin und wieder aufzublitzen: Sie wirken thematisch mitunter schroff, abweisend und introvertiert. Daneben gibt es aber auch sehr innige und elegische Momente. Solche finden sich beispielsweise im vierten Satz der dritten Sonate op. 135, die Weinberg im August 1982 komponierte. Hier arbeitet Viacheslav Dinerchtein die zarten Lyrismen sensibel, mit weiten Bögen und großer Phrasierungskunst heraus.
    Musik: Mieczysław Weinberg, Sonate für Viola solo Nr. 3, op. 135, 4. Satz
    Weinbergs dritte Sonate, aus der Viacheslav Dinerchtein einen Ausschnitt spielte, ist mit 30 Minuten Spieldauer die längste seiner Bratschen-Sonaten. Die zweite dagegen umfasst nur die Hälfte der Zeit. Sie wirkt etwas heiterer und gelöster als die anderen – was aber nicht bedeutet, dass es hier weniger virtuos zugeht. In den fünf eher kurzen Sätzen fordert Weinberg vom Interpreten die ganze Bandbreite an technischen Fertigkeiten, gepaart mit kraftvoller Ausdauer und sensiblem Einfühlungsvermögen. Beides beherrscht Dinerchtein souverän: mit Kraft, Elan und Leidenschaft, aber auch mit Respekt und großer Zartheit spielt er die schwierigen Sonaten. Darüber hinaus ist deutlich spürbar, wie sehr dem Bratscher die Musik Weinbergs am Herzen liegt.
    Musik: Mieczysław Weinberg, Sonate für Viola solo Nr. 2, op. 123, 5. Satz
    Die Sonaten für Bratsche solo zählen zu Weinbergs Spätwerk. Das Quintett für Klavier und Streichquartett in f-Moll op. 18 dagegen stammt aus der Frühzeit des Komponisten. Weinberg schrieb es im Zweiten Weltkrieg Anfang 1944 in Moskau. Zu diesem Zeitpunkt war der gebürtige Warschauer schon zweimal vor der deutschen Wehrmacht geflohen und hatte in Dmitri Schostakowitsch einen Mentor gefunden, der ihn Ende 1943 in die sowjetische Hauptstadt holen ließ. Diese Ereignisse flossen auch in die Komposition des Klavierquintetts ein. Das Stück präsentiert sich mal düster melancholisch, mal trotzig energisch oder zuversichtlich vorwärts gewandt. Den ersten Satz bestimmt ein wehmütiges lyrisches Thema, das immer wieder durch ein zweites mit marschartigem Charakter unterbrochen wird. Die eher dunkle Stimmung unterstreicht zudem eine unruhig wirkende, weiter drängende Begleitfigur in den Streichern.
    Musik: Mieczysław Weinberg, Klavierquintett op. 18, 1. Satz - Moderato con moto
    Das war ein Ausschnitt aus dem ersten Satz des Klavierquintetts op. 18 von Mieczysław Weinberg mit Olga Scheps und dem Kuss Quartett. Die Pianistin und das sie begleitende Streichensemble loten die tiefgründige Musik sensibel und nuanciert aus. Mal behutsam und mal kraftvoll werden die Melodiebögen und Phrasierungen herausgearbeitet. Die fünf Interpreten machen die Abgründe, Brüche und sarkastischen Heiterkeiten, wie beispielsweise im dritten Satz, deutlich hörbar. In ihm lässt Weinberg sowohl einen aus dem Rhythmus geratenen Tango sowie einen fast hysterisch überdrehten Walzer anklingen.
    Musik: Mieczysław Weinberg, Klavierquintett op. 18, 3. Satz - Presto
    Weinbergs Klavierquintett zeigt nicht nur hier interessante Parallelen zu Schostakowitschs Klavierquintett op. 57, das vier Jahre zuvor entstanden war. Auch beim anschließenden Largo, einem erschütternden groß angelegten Klagegesang, griff der junge Komponist musikalische Elemente seines älteren Freundes und Kollegen auf, wie beispielsweise dramatische Unisono-Passagen. Das im März 1945 in Moskau uraufgeführte Werk wurde für Weinberg ein großer Erfolg und begründete dessen Ruhm in der Sowjetunion. Gleichzeitig gehörte es zu seinen wenigen Kompositionen, die noch zu Lebzeiten den Weg in den Westen fanden. Die Einspielung des Klavierquintetts mit Olga Scheps und dem Kuss Quartett überzeugt durch Frische und virtuose Spielfreudigkeit, aber auch durch Nachdenklichkeit und Tiefe. Und sie macht Lust darauf, mehr Werke vom immer noch relativ unbekannten Komponisten Weinberg kennenzulernen.
    Musik: Mieczysław Weinberg, Klavierquintett op. 18, 5. Satz - Allegro agitato
    Mieczysław Weinberg: Complete Sonatas for Solo Viola
    Viacheslav Dinerchtein, Viola
    Label: Solo Musica / EAN: 4260123643102

    Mieczysław Weinberg: Piano Quintet
    Klavierquintett f-Moll, op. 18
    Olga Scheps, Klavier
    Kuss Quartett
    Label: Sony Music / EAN: 19075937527