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Kampf gegen Arbeitslosigkeit
Digitale Nachhilfe für Frankreichs Norden

Fourmies war einmal Industriezentrum für Wollspinnerei, doch heute ist die nordfranzösische Stadt von vielem abgehängt, die Arbeitslosigkeit ist enorm. Jetzt hat das Rathaus die Digitalisierung entdeckt: Junge Experten sollen den Bürgern mit digitaler Technik neue Perspektiven bieten.

Von Bettina Kaps | 13.03.2020
Die Computerexperten Dylan und Malcolm im "Lab" von Fourmies
Malcolm und Dylan bilden die Einwohner von Fourmies digital und technisch weiter (Deutschlandradio/ Bettina Kaps)
Auf einem Parkplatz zwischen Frittenbude, Stadttheater und Mediathek steht ein Fertigbau aus grauem Holz. "Le Labo" verkündet das Schild neben dem Eingang, "das Labor – digitales Herz von Fourmies". Die Fenster sind eng vergittert, aber die Tür ist tagsüber und auch an manchen Abenden einladend geöffnet. Innen sind etwa 20 Hightech-Maschinen aufgestellt: 3D-Drucker, 3D-Scanner, digitale Stickmaschinen, Fräsen.
Dylan, ein junger Mann mit Haartolle und Nickelbrille, sitzt neben einer älteren Frau und erklärt ihr den Laser-Schnitt. Sein Kollege Malcolm – er trägt Piercing und einen Pulli im Gothik-Stil – hilft einem Schüler beim 3D-Drucken. Das Rathaus hat die Anfang-20-Jährigen als Begleiter für digitale Technik angestellt.
"Wir wollen Hürden beseitigen und die Leute hereinlocken, egal welches Niveau sie haben", sagt Dylan. "Das 'Labo' steht Anfängern, die keine Maus bedienen können, genauso offen wie Profis. Wir helfen den Leuten, Schritt für Schritt voranzukommen."
"Sogar eine Firma hat die 3D-Technik bei uns entdeckt, ein Hersteller von Zahnprothesen. Er hat sich inzwischen selbst ausgerüstet. Sich fortbilden und eine zeitgemäße Arbeit finden: Das ist jetzt auch hier, auf dem Land möglich", sagt Malcolm.
Reparatur-Café lockt die Leute aus dem Haus
Einmal pro Monat veranstalten Dylan und Malcolm ein Reparatur-Café. Dabei lernen die Teilnehmer, ihre defekten Mikrowellen, Bügeleisen oder Rasenmäher zu reparieren.
"Letztes Jahr haben wir den Leuten geholfen, rund 15.000 Euro einzusparen und 500 Kilo Müll zu vermeiden. Unser Atelier ist immer voll, wir haben nur zehn Plätze. Interessenten müssen sich deshalb frühzeitig einschreiben. Bei drei von vier Objekten bekommen wir es hin."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Adieu Tristesse - Frankreichs Norden versucht den Aufbruch.
Eine Frau blickt vom Computer auf und nickt: Sylvie erzählt, dass sie hier kürzlich ihren Elektrokocher reparieren konnte. Jetzt übt sie Programmieren und 3D-Zeichnen. Die ehemalige Sekretärin ist seit mehreren Jahren arbeitslos. So wie jeder dritte Einwohner von Fourmies. Die Arbeitslosenrate beträgt 31 Prozent. Von den jungen Menschen unter 24 ist sogar jeder Zweite ohne Job.
"Um ehrlich zu sein: Im Moment suche ich nicht richtig nach Arbeit. Ich habe eine schwere Zeit hinter mir. Deshalb ist dieser Ort hier so gut für mich. Er lockt mich aus dem Haus. Ich mag die Atmosphäre. Hier kann ich Fragen stellen, wir unterhalten uns."
Viele Haushalte leiden unter "Energiearmut"
An diesem Vormittag gab es im "Labo" auch ein kleines Bürgertreffen. Eine Spezialistin für Solidarwirtschaft hat über die Energiewende gesprochen. Sie heißt Marie Henneron und arbeitet für das Rathaus der Stadt.
"Wir drücken auf einen Knopf, und der Strom ist da. Aber um unabhängig zu sein, sollten wir unsere Energie demnächst selbst produzieren. Ich habe die Leute gefragt: Wie und wo wollt ihr Strom einsparen? Sollen wir Strom produzieren? Wollt ihr euch daran beteiligen?"
Die kleine Stadt und ihre Bewohner geben jährlich 23 Millionen Euro für Energie aus. Mehr als jeder dritte Haushalt leidet unter "Energiearmut": Die Betroffenen können Strom und Heizung nicht mehr bezahlen. Um das und vieles mehr zu ändern, ist Henneron von der Regionalhauptstadt Lille in das abgeschiedene Fourmies gezogen. Sie wolle ihr Leben einer Sache widmen, die ihr am Herzen liegt, sagt die 40-Jährige.
Die Stadt setzt auf kollektive Intelligenz ihrer Bewohner
Marie Henneron hat früher als Bankerin gearbeitet, aber der Beruf füllte sie nicht aus. Sie studierte nochmal, spezialisierte sich auf Digitalisierung im Lokalen. Vor vier Jahren hat der konservative Bürgermeister von Fourmies die energische Frau als Projektleiterin ins Rathaus geholt.
"Wir hier in Fourmies sind die erste Stadt mit einer Abteilung speziell für die dritte industrielle Revolution. Wir stützen uns auf die Forschungen von Jeremy Rifkin. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler ist sogar in unsere Stadt gekommen. Wir fördern alternative Energien und digitale Technik. Dabei versuchen wir, horizontal mit der Bevölkerung zu arbeiten. Wir wollen uns auf die kollektive Intelligenz stützen."
Schon jetzt bietet das Rathaus Beratungen zum Energiesparen an. Auf zwei Schuldächern werden dieser Tage Sonnenkollektoren installiert, 67 Bürger haben sich an der Finanzierung beteiligt, und auf einer Industriebrache ist der Bau eines Ökoviertels geplant.
"Unsere Projekte haben das Image der Stadt verbessert"
Das "Labo", die Nutzung der Hightech-Maschinen, und das Reparatur-Café – all das ist gratis, finanziert von Stadt, Staat und Region. "Oh ja, das ist ein großes Budget. Die Betriebskosten betragen 100.000 Euro pro Jahr, wir haben 250.000 Euro investiert, und dieses Jahr müssen wir wahrscheinlich weitere 80.000 Euro beisteuern. Das ist wirklich eine Kraftanstrengung."
Aber Marie Henneron ist überzeugt: All dies diene als Initialzündung für den Aufschwung der Stadt: "Fourmies war lange Zeit wie gelähmt. Die Medien sprachen nur von der hohen Arbeitslosigkeit oder dass hier Minderjährige oft schon Mütter werden. Unsere Projekte haben das Image der Stadt verbessert. Bei den Einwohnern selbst und nach außen. Wir haben etwas angestoßen und stellen fest: Die Leute machen mit."
Der Fertigbau neben der Frittenbude ist nur als Provisorium gedacht. Das "Labo" soll sich demnächst in einem neuen Gebäude auf einer Fläche von 2.000 Quadratmetern ausbreiten. Das Rathaus hat gerade die Baugenehmigung beantragt.