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Kampf gegen das Vergessen

Die Albanerinnen Saranda und Jehona überlebten als junge Mädchen 1999 das serbische Massaker an ihren Familien. Sie waren die ersten Kinder, die in einem Kriegsverbrecherprozess in Belgrad ausgesagt haben. Nach mehr als zehn Jahren kehrten sie für eine Ausstellung gegen das Vergessen nach Serbien zurück.

Von Karla Engelhard | 14.02.2012
    Ein Wohnzimmer mit Anbauwand, Sitzecke, Couchtisch, im Fernseher läuft ein blaustichiges Video von einem Kindergeburtstag, wohl aus den 1980er-Jahren.
    Kinder spielen, die Großeltern schauen zu und die Eltern kümmern sich um die Kaffeetafel. Eine albanische Familie. Der Beginn einer Ausstellung in Pristina, durch die Saranda und Jehona führen.

    "Das ist unser Wohnzimmer, sind unsere Möbel, die auch damals im Haus standen, als es passierte. Die Videos, die im Fernseher laufen, sind unsere Familienvideos aus unserer Kindheit, als wir klein waren. Wir waren eine ganz normale Familie."

    Doch dann passierte es: Am 28. März 1999 stürmten Serben der Spezialeinheit Skorpione das Haus der Familie Bogujevci im Kosovo. Saranda war damals 13 und Jehona 11 Jahre alt.

    "Unsere Väter waren nicht zu Hause, als die Familie erschossen wurde. Die Männer haben sich versteckt, um nicht von serbischen Soldaten getötet zu werden. Niemand hat gedacht, dass die Serben auch Frauen und Kinder erschießen werden."

    19 Frauen und Kinder waren im Haus und im Garten. Eine befreundete Familie hatte sich bei den Bogujevci in Sicherheit gebracht. Das jüngste Kind war 21 Monate, die Großmutter 69. Die Soldaten schossen auf alle. Fünf überlebten das Blutbad, darunter Saranda, Jehona und Genzi.

    In einer Glasvitrine liegt ein blutiger Kinderpulli, mit lustigem Motiv auf dem Bauch – und einem blutverkrusteten Durchschussloch in Brusthöhe.

    "Das ist der Pullover von Genzi, der kleine Bruder von Jehona, da kann man sehen, wo der Schuss rein ging. Er hat überlebt. Damals war Genzi sechs. In diesem Jahr wurde Genzi nochmals operiert, diesmal konnte die Kugel entfernt werden, fast zwölf Jahre danach."

    Sie liegt nun neben dem Kinderpulli. Saranda und Jehona kamen damals schwer verletzt ins Krankenhaus von Pristina. Saranda hatte 16 Kugeln abbekommen, Jehona 11. Dass sie überlebten grenzt an ein Wunder. Ihre Väter wussten es lange nicht, denn die Mädchen redeten kaum.

    "Ich lag nur da meist mit geschlossenen Augen und träumte meine Mutter bereitet das Essen für uns. Als ich dann aufgewacht bin, hatte ich keinen Hunger mehr."

    In der Ausstellung sind die Originalbetten aus dem Krankenhaus zu sehen. Daneben stehen Fernseher mit Videos, auf denen Saranda und Jehona ihre Geschichte erzählen. Nach dem Krieg sind die beiden Mädchen nach England geholt worden, zu notwendigen Operationen und zur Erholung, Spendengelder machten es möglich. Doch der Albtraum ließ sie nicht los. Saranda und Jehona kämpften gegen die Mörder ihrer Familie.

    "Vor Gericht müssen zwei Personen stehen, Sascha Cvjetan und Dejan Demirovic. Doch er ist geflohen nach Kanada, wo seine Familie schon war. Wir haben gekämpft, dass er ausgeliefert werden soll."

    Der serbische Polizist der Spezialeinheit Skorpione, Sascha Cvjetan, wurde 2004 vor einem Belgrader Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt. Zum ersten Mal sagten Kinder in einem Kriegsverbrecherprozess aus, Saranda und Jehona.

    Dejan Demirovic wurde 2006 ausgeliefert. Saranda und Jehona wollen keine Rache, sie wollen Gerechtigkeit und dass ihre Familie Saranda und Jehona nicht vergessen wird. Deshalb diese Ausstellung, die auch bei ihnen immer wieder alte Wunden aufbrechen lässt. In ihrem Heimatland Kosovo ist die Resonanz auf die Ausstellung eher verhalten. Eine Frau um die 40 spricht aus was wohl viele Albaner und Serben, die den Krieg in den 1990er-Jahren und die NATO-Bombardierung gegen Serbien erlebt haben, bewegt.

    "Man denkt immer seltener dran. Dennoch, wenn man dran denkt, ist es genauso intensiv, man ist wütend, verletzt, es ist unverständlich, denn dieses Schicksal ist leider nicht einmalig, was dieser Familie passiert ist."

    Einmalig ist der Kampf von Saranda und Jehona. Gegen ihre Albträume und gegen das Vergessen.