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Kampf gegen die Brüsseler Bürokratie
Eine Brotzeit mit Edmund Stoiber

2007 wurde der ehemaliger bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber als Leiter einer Arbeitsgruppe eingesetzt, die Vorschläge erarbeiten sollte, wie die Europäische Union weniger bürokratisch werden kann. Der Vorwurf, ein Bürokratiemonster zu sein, ist unzertrennlich mit Brüssel verbunden. Doch wie steht es heute um das Bild der regelwütigen EU?

Von Benjamin Dierks | 19.08.2016
    "Heimatverbunden zu sein und ein großer Europäer, ist kein Widerspruch."
    Edmund Stoiber holt mit dem Arm weit aus und weist mit großzügiger Geste hinab ins Isar-Loisachtal. Er blickt auf die Wiesen und Wälder hier im Münchner Oberland. Sein Wohnort Wolfratshausen liegt ihm zu Füßen, am Horizont ragen schneebedeckte Gipfel empor.
    "Das ist Oberbayern pur, das ist Bayern pur. Man sieht auf die Alpen, man hat diese wunderbare Kulturlandschaft vor sich."
    Auf dem Schlossberg von Wolfratshausen siedelten schon die Kelten, die Römer, die Andechser und die Wittelsbacher. Stoiber geht an einem alten Bauernhof vorbei, weiß getüncht und zur Hälfte mit dunklem Holz getäfelt. Über Jahrhunderte wurden hier zwei Gutshöfe betrieben, heute residiert auf dem Grundstück ein Golfclub, der Bergkramerhof:
    "Das sind natürlich alles wunderbare landwirtschaftliche Flächen gewesen, und ich geh dann praktisch mit meiner Frau oder mit meinen Freunden, aber meistens mit meiner Frau oder mit dem einen oder anderen Kind, wenn man was Gutes zu besprechen hat, dann gehe ich über den Bergwald da die paar Kilometer da rauf."
    "Cutting red tape oder Abbau der Bürokratie"
    Stoiber läuft auf einem Schotterweg oberhalb eines Golffelds entlang. Er hat sich eine rot gestreifte Krawatte umgebunden und trägt ein beiges Jackett. Er hat sein Oberbayern vor sich und will über Europa sprechen. Der ehemalige Ministerpräsident sucht nach den richtigen Worten. Schließlich kommt Stoiber auf den Satz, der all das zusammenfasst, was ihn in den vergangenen Jahren umgetrieben hat:
    "Bigger on the big things, smaller on the small things."
    Stoiber verfällt ins Englische, um seinen Gedanken auf den Punkt zu bringen. Nach einem politischen Leben im Dienste Bayerns und der CSU hat der heute 74-Jährige sich auch um Europa verdient gemacht. Er hat sich in die Niederungen Brüssels begeben, um sich mit Verordnungen und Richtlinien herumzuärgern:
    "Sieben Jahre in Brüssel, acht Jahre praktisch, weil ich das letzte Jahr noch Special Adviser, also Sonderberater, von Jean-Claude Juncker und Frans Timmermans war im Zusammenhang mit – wie sagt man in Brüssel – cutting red tape oder Abbau der Bürokratie."
    "Bürokratie schmälert die europäische Idee"
    Und so geht Stoiber heute auch ein Zitat des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso leicht von den Lippen. Der verabschiedete sich 2014 mit den von Stoiber wiedergegebenen Worten aus dem Amt. Auf Deutsch fasst Stoiber sie so zusammen:
    "In den großen Dingen, da müssen wir besser werden, in den kleinen Dingen müssen wir abbauen. Und das in die Köpfe hineinzubekommen, dass Bürokratie und Übermaß an Bürokratie die europäische Idee schmälert, verdunkelt. Denn viele derer, die diese Gesetze machen, glauben ja, sie tun was Gutes."

    Dieses Credo, dass die EU die großen Linien verfolgen solle, aber nicht jede Kleinigkeit regeln müsse, hat sich die amtierende Kommission besonders groß auf die Fahnen geschrieben. Ihr Präsident Jean-Claude Juncker hat die Worte in sein Programm übernommen. Und er hat ihnen ein bis dahin ungekanntes politisches Gewicht verliehen.
    EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker während seiner Rede zur Lage der Europäischen Union.
    Die EU soll die großen Linien verfolgen, aber nicht jede Kleinigkeit regeln müssen: Ein Credo der amtierenden Eu-Kommission unter Präsident Jean-Claude Juncker. (picture alliance / EPA / Patrick Steeger)
    Sein erster Vizepräsident, Frans Timmermans, der ehemalige Außenminister der Niederlande, wacht heute darüber, dass die anderen Kommissare nicht zu viele neue Gesetze schaffen und dass die bestehenden Regeln darauf abgeklopft werden, ob sie womöglich überholt oder zu aufgebläht sind. Stoiber sieht das auch als sein Verdienst an.
    "Ich meine, das, was ich gefordert habe, hat Jean-Claude Juncker umgesetzt. Er hat einen Kommissar für die Gesetzgebung bestimmt, nämlich den wichtigsten, Frans Timmermans, seinen ersten Stellvertreter."
    Im vergangenen Dezember kehrte Stoiber Brüssel den Rücken. 2007 – kurz nach seinem Abgang als bayerischer Ministerpräsident - war er von Barroso als Leiter einer hochrangigen Arbeitsgruppe eingesetzt worden, die Vorschläge dafür erarbeiten sollte, wie die Europäische Union weniger bürokratisch werden kann.
    EU-Richtlinien belasten die europäischen Unternehmen
    Stoiber war für die Kommission auch deshalb ein geeigneter Kandidat, weil er als bayrischer Landespolitiker selbst gern ausgeteilt hatte gegen die EU und ihre Bürokratie. "Kompetenzanmaßungen" warf der langjährige CSU-Vorsitzende Brüssel vor und einen "ungeheuren Zentralismus". Nun sollte so einer selbst einmal sehen, wie es ist, wenn man in den Brüsseler Strukturen etwas erreichen will.
    "Kam Barroso zu mir und sagte, du bist jetzt lange Ministerpräsident und jemand, der auch manchmal die europäische Entwicklung skeptisch verfolgt, würdest du denn nicht dieses … – ehrenamtlich natürlich, nicht bezahltes – Amt; ja gut, und dann hat man das gemacht und dann ist da doch sehr dicht geworden und mein erstes Ziel war eigentlich, den Beamten, auch den Generaldirektoren klar zu machen: Weniger ist mehr."
    Die Kommission hatte damals ausgerechnet, dass die Verordnungen und Richtlinien der EU die europäischen Unternehmen mit rund 125 Milliarden Euro belasteten würden. Und Barroso gab das Ziel vor, dass Brüssel ein Viertel dieser Kosten zusammenstreichen solle. Die Belastung durch die EU-Gesetzgebung sollte für europäische Unternehmen deutlich sinken.
    "Das war meine Motivation, nicht nur zu reden und zu schimpfen und immer zu kritisieren, sondern einen konkreten Beitrag zu leisten, ok, fangen wir an."
    Maßnahmenkatalog sollte die EU schlanker machen
    2012 erklärte die Kommission das Reduktionsziel für erreicht. Stoiber und seine Mitstreiter legten zwei Jahre später in ihrem Abschlussbericht einen Maßnahmenkatalog vor, der die EU schlanker machen sollte. Über 33 Milliarden Euro wollte Stoiber damit eingespart haben. Als wichtigste Errungenschaft nannte er, dass Finanzämter von Unternehmen, die die Umsatzsteuer abrechnen, nun auch digitale Belege akzeptierten, nicht wie bis dahin nur schriftliche Rechnungen.
    Auch anfängliche Skeptiker zollten dem ehemaligen Ministerpräsidenten am Ende Respekt für seine Arbeit. Vielleicht ebenso wichtig: Stoiber ist seither auch einer geworden, der die EU verteidigt, der bisweilen in den wärmsten Tönen von Europa spricht:
    "Es hat mich bestärkt in meinem Eintreten für Europa. Heute sage ich, dieser Kontinent kann nicht alleine begründet und erläutert werden mit ökonomischen tollen Gründen, Binnenmarkt, was wir davon profitieren, Arbeitsplätze, wirtschaftlicher Wohlstand. Wir brauchen ein Stück Faszinosum für Europa."

    Aber kann auch im Großen glücken, was bei Stoiber im Kleinen gelungen ist? Lassen sich Menschen von Europa überzeugen, wenn Brüssel weniger regelt, weniger ins Leben der Menschen eingreift? Der Vorwurf, ein Bürokratiemonster zu sein, ist unzertrennlich mit Brüssel verbunden. Aufregung gab es gerade wieder, weil die EU angeblich selbstgehäkelte Topflappen verbieten wollte. Die Kommission stellte aber klar, dass ein Gesetz sichere Schutzhandschuhe in der Küche keine Gefahr für den guten alten Topflappen sei.
    Vor dem Gebäude der EU-Kommission wehen blaue Europa-Flaggen.
    Weniger Bürokratie: Die Belastung durch die EU-Gesetzgebung sollte für europäische Unternehmen deutlich sinken. (Emmanuel Dunand / AFP)
    Brexit-Debatte bestärkte das Bild der regelwütigen EU
    Die hitzige Debatte um das EU-Referendum in Großbritannien bestärkte das Bild der regelwütigen EU. Die Vertreter des Brexit-Lagers wollten den Wählern weiß machen, dass ihr Land nahezu jede gesetzgeberische Initiative an Brüssel abgegeben habe. Dem konnte auch der ambitionierte Bürokratieabbau in Brüssel nichts entgegensetzen:
    "Ein Faktor war dieses Gefühl, die Kontrolle nicht zu haben über die Gesetze, die unser Leben steuern. Das ist sicherlich ein Argument, das verfangen hat", sagt Richard Kühnel. Er ist der Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland und bekommt mehr als seine Kollegen in Brüssel mit, was die Menschen im Land bewegt. Und er glaubt, dass die Sorgen, die die Mehrheit der Wähler in Großbritannien umgetrieben haben, als sie für den Brexit stimmten, auch in Deutschland und im Rest Europas existieren:
    "Es ist sicherlich so, dass die Frage, wer bestimmt die Regeln, die unser tägliches Leben ausmachen, eine in ganz Europa wichtige ist. Und da glaube ich, müssen wir stärker immer wieder gemeinsam daran erinnern, dass die europäische Gesetzgebungsebene ja nur eine weitere Gesetzgebungsebene ist."
    Und anders als von den Brexit-Befürwortern in Großbritannien propagiert, sei die Europäische Kommission sehr wohl legitimiert*, weil sie vom direkt gewählten Europaparlament eingesetzt werde:
    "Und daher ist das, was wir als Europa gemeinsam beschließen, die europäischen Institutionen und die Mitgliedsstaaten, etwas Demokratisches, etwas Legitimes und im Endeffekt immer auf den Nutzen des Bürgers in Europa Ausgerichtetes."
    Better Regulation: Kosten senken, die Unternehmen durch die europäische Bürokratie entstehen
    Die Legitimität europäischer Entscheidungen ist nicht das einzige Problem, denn auch das mit dem Nutzen für den Bürger ist so eine Sache. Längst nicht alle sind davon überzeugt, dass es in erster Linie den einfachen Bürgerinnen und Bürgern zugutekommt, wenn die EU fortan die kleinen Dinge beiseitelässt und sich stattdessen auf die großen Dinge, aufs vermeintlich Wesentliche konzentriert:
    "Da ist natürlich die Frage, was ist wesentlich? Sind denn Arbeitnehmerrechte, Verbraucherschutzregeln und Umweltschutzregeln wesentlich in der europäischen Politik? Und den Eindruck haben wir in der aktuellen Politik eben nicht."
    Alexandra Kramer ist beim Deutschen Gewerkschaftsbund für Europäische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zuständig. Sie befürchtet, dass Soziales und Umweltschutz zu kurz kommen, wenn die EU-Kommission ihre Schwerpunkte verfolgt und Regulierungen kappt oder verschlankt. Junckers Kommission will vor allem Wachstum und Beschäftigung fördern. Ein wesentlicher Aspekt davon ist, die Kosten zu senken, die Unternehmen durch europäische Bürokratie entstehen. Better Regulation – oder auf Deutsch Bessere Rechtsetzung - nennt das die Kommission.
    "Natürlich spricht auch aus gewerkschaftlicher Sicht nichts dagegen, europäisches Recht einfacher und effizienter zu gestalten. Was wir als DGB jedoch an dem Programm für bessere Rechtsetzung kritisieren, ist vor allem, dass es sehr einseitig zielt auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und auf die Kosten, die Regelungen verursachen für Unternehmen."

    Den Widerspruch zwischen den Interessen von Unternehmen auf der einen und den Vorstellungen von Verbraucher-, Arbeitnehmer- und Umweltverbänden auf der anderen Seite konnte schon Edmund Stoiber damals nicht auflösen in seiner hochrangigen Arbeitsgruppe.
    "Der Grundwiderspruch ist, auf der einen Seite klagen die Menschen, wenn sie etwas wollen und dann müssen sie irgendwelche Genehmigungen oder irgendwelche Dinge beachten, über das Übermaß der Bürokratie. Auf der anderen Seite wollen die Menschen einen optimalen Schutz."
    Bundespräsident Joachim Gauck spricht am 11.05.2014 zu Beginn des Bundeskongresses des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) in Berlin zu den Delegierten und Gästen.
    Der Deutsche Gewerkschaftsbund befürchtet, dass Soziales und Umweltschutz zu kurz kommen, wenn die EU-Kommission Regulierungen kappt oder verschlankt (picture-alliance/ dpa / Rainer Jensen)
    Notwendige Gesetzgebung oder unnötige Bürokratie?
    Vier Mitglieder der Stoiber-Kommission - Vertreter von Gewerkschaften und Verbänden - veröffentlichten 2014 eine abweichende Meinung zum Abschlussbericht der Gruppe. Sie befürchteten, dass die Empfehlungen des Gremiums der Deregulierung in Europa das Feld bereiten würden.
    "Da haben Sie dann natürlich Grundsatzdebatten. Und jetzt müssen Sie sozusagen das miteinander verbinden. Also keine substanziellen Rechte abbauen, auf der anderen Seite halt aber auch ein Stück Entlastung zu bringen."
    In der Juncker-Kommission haben es neue Gesetze heute schwerer als noch unter Barroso. Statt wie damals durchschnittlich 130 macht sie 23 Gesetzesvorschläge pro Jahr. Jeder Vorschlag eines Fachkommissars muss zunächst die Zustimmung des ersten Vizepräsidenten Frans Timmermans erhalten. Er allein hat nun also bereits die Macht festzulegen, was notwendige Gesetzgebung und was unnötige Bürokratie ist.
    Nach Timmermans prüft zusätzlich ein neuer Ausschuss für Regulierungskontrolle das jeweilige Vorhaben darauf, ob der erwartete Nutzen im Verhältnis zu den Kosten steht. Das Gremium ist mit vier Kommissionsmitarbeitern und drei externen Experten besetzt und kann jedes Gesetz stoppen. Erst wenn der Gesetzesvorschlag diese Folgenabschätzung besteht, kann er wie gehabt dem Kollegium der Kommissare, dem EU-Parlament und dem Rat der Mitgliedsstaaten vorgelegt werden.
    Fitnesscheck für Gesetze
    Über diese gesamte Zeit können Unternehmen, Verbände und Bürger Stellung beziehen zum Vorhaben. Auch das ist neu und soll Transparenz schaffen. Außerdem prüft die Kommission nicht nur neue Gesetzesvorschläge, sondern klopft auch bestehende ab. Refit heißt das entsprechende Programm, ein Akronym, das aus den englischen Begriffen für Effizienz, Leistungsfähigkeit und Rechtsetzung besteht. "Refit" bedeutet ausbessern oder anpassen.
    "Wir wollen schauen, wie fit ist die Gesetzgebung auf europäischer Ebene. Ist das, was wir geschaffen haben an Gesetzgebung, an Politik, auch wirklich noch zeitgemäß?", sagt Kommissionsvertreter Richard Kühnel. Wie einen in die Jahre gekommenen Anzug, den man irgendwann mal wieder aus dem Schrank nimmt, will die Kommission jährlich prüfen, ob ihre Gesetze noch den Anforderungen entsprechen und – auch hier – ob sie die Unternehmen womöglich zu viel kosten.

    Darüber hinaus werden einzelne Gesetze sogenannten Fitnesschecks unterzogen – mit ähnlichem Ziel. Juncker hat für das Refit-Programm ein eigenes Gremium geschaffen, darin sitzen Regierungsvertreter der Mitgliedsstaaten sowie Repräsentanten von Unternehmen, Sozialpartnern und Zivilgesellschaft. Bisher hat die Juncker-Kommission unter Refit rund 100 Gesetzesvorschläge zurückgezogen.
    "Das sind manchmal kleine Sachen, das sind manchmal Sachen, die sich technisch schon als überholt erwiesen haben oder durch andere Gesetzgebung abgelöst worden sind. Aber das sind auch einige Akte, wo wir das Gefühl hatten, entweder sie entsprechen nicht mehr der Zeit oder sie sind nicht gut genug in der Diskussion."
    Der stellvertretende Vorsitzende der EU-Kommission, Frans Timmermans, redet im Europäischen Parlament in Brüssel.
    Der stellvertretende Vorsitzende der EU-Kommission, Frans Timmermans, hat die Macht festzulegen, was notwendige Gesetzgebung und was unnötige Bürokratie ist. (dpa / Laurent Dubrule)
    Kritik von Gewerkschaften und Verbänden am Refit-Programm
    Nicht gut genug in der Diskussion, das ist ein Euphemismus für Gesetze, die jahrelang im Europäischen Rat festhingen, ohne dass eine Einigung in Aussicht stand. Die Bodenschutzrichtlinie ist so ein Beispiel. Die Richtlinie sollte verhindern, dass die Qualität der europäischen Böden sich weiter verschlechtert. Vor zehn Jahren hatte die Kommission einen entsprechenden Vorschlag gemacht. Vor zwei Jahren zog Timmermans ihn zurück. Hier aber von einer bürokratischen Erleichterung zu sprechen, sei fehl am Platz, sagt Bjela Vossen:
    "Weil Deutschland zum Beispiel hat eine sehr strenge Bodenschutzgesetzgebung. Und das heißt, irgendwo in Deutschland gelten andere Bestimmungen als in Italien, die keine Bodenschutzgesetzgebung haben, sodass gerade auch Unternehmen in Deutschland benachteiligt sind."
    Vossen ist die Vizepräsidentin des Europäischen Umweltbüros, des größten Umweltdachverbands in Europa. Sie kritisiert, dass Kosten durch Umweltschäden in den Berechnungen der Kommission nicht ausreichend berücksichtigt würden. Frans Timmermans bestreitet, dass Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards und Verbraucherschutz in Mitleidenschaft gezogen würden. Es gehe nicht um weniger Regeln, sondern um bessere.
    Gewerkschaften und Verbände kritisieren aber auch, dass es auf diesen Gebieten unter der Maßgabe, unternehmerfreundlich und kosteneffizient zu sein, keine Fortschritte gebe. Die Arbeit des Umweltkommissars etwa sieht Bjela Vossen durch die amtierende Kommission behindert. Die Konzentration aufs Refit-Programm, so glaubt sie, untergrabe dessen Arbeit:
    "Juncker hat seinem Umweltkommissar mitgeteilt, dass er als einziges Umweltthema den Fitnesscheck der Naturschutzrichtlinien bearbeiten soll."
    Konkurrenz zwischen wenig Regulierung und Umwelt-, Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz
    Auch Arbeitsmarktexpertin Alexandra Kramer vom DGB hat die Befürchtung, dass die Kommission Verordnungen und Richtlinien nicht unbedingt nur effizienter machen. Gesetze oder deren Verbesserung werden ihrer Ansicht nach auch gestoppt, wenn sie nicht zu den Prioritäten der Kommission gehörten:
    "Uns geht es eben nicht nur darum, dass man Standards bewahrt, also nicht angreift, was an sozialem Besitzstand vorhanden ist, sondern dass es auch um eine Weiterentwicklung geht. Und das blockiert dieses Programm, Refit und Better Regulation eben auch ganz stark."
    Die Konkurrenz zwischen einer wirtschaftsfreundlichen Politik mit möglichst wenig Regulierung auf der einen Seite und Umwelt-, Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz auf der anderen Seite ist ein ständiger Konflikt - auch innerhalb der Europäischen Kommission.
    "Und da ist Bürokratieabbau ein Narrativ, das gut funktioniert, um bestimmte höhere Standards zu verhindern", sagt Christian Rauh. Der Politologe forscht am Wissenschaftszentrum Berlin. Er hat untersucht, wie die EU-Kommission Gesetze macht und welche Rolle die öffentliche Meinung dabei spielt – zum Beispiel, wenn viele Menschen die Brüsseler Bürokratie negativ sehen.

    Rauh hat beobachtet, dass etwa die für Unternehmen und Industrie zuständige Abteilung der Kommission sich diese Stimmung zunutze macht. Sie warne vor zu viel Bürokratie, wenn etwa die für Verbraucherschutz zuständigen Beamten strenge Schutzwerte durchsetzen wollen:
    "Und hier kommt dieser Bürokratieabbau-Diskurs dann ins Spiel, der wird nämlich angeführt von den Vertretern eher wirtschaftsliberalerer Positionen, auch innerhalb der Kommission, zum Beispiel die Generaldirektion Unternehmen und Industrie. Die sagen dann, nee, das geht zu weit, da schreiben wir den europäischen Unternehmen zu viel vor, was dann bestimmten Verbraucherschützern die Butter vom Brot nehmen soll."
    Regulierung: Nützliches Werkzeug oder Bürde?
    Der Politik-Forscher Rauh weist darauf hin, dass die Schaffung des Binnenmarktes insgesamt dem Bürokratieabbau diene. Denn wenn die Regeln der bislang noch 28 Mitgliedsstaaten vereinheitlicht würden, vereinfache dies das grenzübergreifende Geschäft für Unternehmen. Die strittige Frage sei dann, wie viel Schutz für Bürger und Umwelt vorgeschrieben wird:
    "Man sollte nicht so herangehen, dass man Bürokratieabbau als etwas völlig Apolitisches sieht: Der Diskurs suggeriert oft, dass es ein richtiges Regulierungsniveau gibt. Aber es dient oft der einen Seite mehr als der anderen. Und festzuhalten ist, dass das Bürokratieabbauargument nur der einen Seite dient und nicht der anderen."
    Edmund Stoiber war ein Pionier des Bürokratieabbaus. Daran hegt heute kaum jemand einen Zweifel. Er erhält viel Lob dafür. Aber Kritiker einer vor allem wirtschaftsorientierten Politik beschreiben Stoibers Amtszeit auch als Periode eines grundlegenden Wandels in der EU: Regulierung werde seitdem nicht mehr in erster Linie als nützliches Werkzeug wahrgenommen, sondern als Bürde. Ein Vorwurf, den Stoiber nicht stehen lässt. Er habe nie die Bürokratie selbst angreifen wollen, sagt er:
    "Bürokratie ist ein wesentliches Element eines Rechtsstaates. Bürokratie ist ja etwas Gutes. Sie regelt, das heißt, du bist nicht der Willkür von irgendjemand ausgesetzt, sondern es ist geregelt."
    Einem solchen Bekenntnis folgt bei Stoiber allerdings stets ein Aber: Wer Regeln schafft, müsse sich der Kosten bewusst sein, die er damit verursacht. Und um die zu bekämpfen, könnte die EU-Kommission nach Stoibers Geschmack noch ein wenig strenger sein:
    "Dynamik in den Prozess hineinbekommen. Das, was die Kommission damals gemacht hat, Aktionsprogramm, 125 Milliarden, davon 25 Prozent kürzen - das sollte sie wiederholen."

    *Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle stand ursprünglich "bürokratisch legitimiert". Gemeint war eigentlich "demokratisch legitimiert". Wir haben das im Audio und im Text nachträglich korrigiert und das Wort "bürokratisch" gestrichen.