Donnerstag, 28. März 2024

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Kampf um Kommissionspräsidenten
"Juncker steht für das Europa von gestern"

Großbritannien will nach wie vor einen EU-Kommissionspräsidenten Juncker verhindern. Premier David Cameron stehe für die Haltung der Mehrheit der Briten, sagte Labour-Abgeordnete Gisela Stuart im DLF. Man sei gegen Juncker, weil keiner glaube, dass er der richtige Mann für die Durchsetzung von Reformen sei.

Gisela Stuart im Gespräch mit Peter Kapern | 26.06.2014
    Der britische Premierminister David Cameron wendet Jean-Claude Juncker während einer Sitzung des Europäischen Rats den Rücken zu.
    Zwei, die sich nicht viel zu sagen haben: Der britische Premierminister David Cameron (li.) und Jean-Claude Juncker. (picture alliance / dpa / Olivier Hoslet)
    Die gebürtige Deutsche räumte allerdings auch ein, dass Cameron Fehler begangen habe. "Cameron hätte geschickter handeln können." Er hätte gut daran getan, sich mehr auf den Spieler, als auf den Ball zu konzentrieren. Allerdings sei man sich in der Sache einig: Kaum einer in Großbritannien halte Juncker für den geeigneten Mann.
    Gisela Stuart
    Gisela Stuart (Huw Meredith)
    Durch den Erfolg der EU-feindlichen Ukip (United Kingdom Independence Party) stehee Cameron besonders unter Druck. Er müsse Veränderungen und Erneuerungen in Gang bringen, sonst nehme die Europa-Feindlichkeit weiter zu.
    Klar sei allerdings auch eines, so das Fazit Stuarts: Am Ende gingen sowohl die Europäische Union als auch Cameron geschwächt aus dem Prozess hervor.

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Vielleicht kommt es beim EU-Gipfel, der heute beginnt, zu einer Premiere. Zum ersten Mal könnte es eine Kampfabstimmung geben über den künftigen EU-Kommissionspräsidenten. David Cameron, der britische Regierungschef, will es so, um seinen Widerstand zu dokumentieren.
    Bei uns ist am Telefon nun Gisela Stuart, Abgeordnete der Labour Party im britischen Unterhaus. Guten Morgen, Frau Stuart!
    Gisela Stuart: Guten Morgen.
    Kapern: Frau Stuart, man hat ja den Eindruck, ganz England steht hinter David Cameron, dem konservativen Premier, wenn der heute nach Brüssel fährt und Jean-Claude Juncker als künftigen EU-Kommissionspräsidenten ablehnt. Ist das so?
    Stuart: Cameron hätte "etwas geschickter handeln können"
    Stuart: Es ist so. Die einzigen Unterschiede, die man vielleicht hören könnte, sind, dass einige Leute meinen, um eine Fußball-Analogie zu nehmen, dass in diesen Verhandlungen David Cameron sich auf den Spieler konzentriert hat und er hätte sich eigentlich auf den Ball konzentrieren sollen. Die Art und Weise, wie er jetzt plötzlich hier steht und fast alleine ist, Juncker nicht zu wollen, da glauben einige von uns, dass er etwas geschickter hätte handeln können. Aber die Tatsache, ob Juncker wirklich die richtige Person ist, um die Wiederverhandlungen, um die Erneuerung der EU für das 21. Jahrhundert durchzuführen, da glaubt eigentlich hier keiner, dass er der richtige Mann wäre.
    Kapern: Was ist falsch an oder mit Jean-Claude Juncker, diesem Bilderbucheuropäer?
    Stuart: Britische Wähler fühlen sich betrogen
    Stuart: Ich gehe jetzt wieder zurück auf das Prinzip, das die Briten unwahrscheinlich stört. Hier in diesem Land hat wirklich kein einziger Wähler sich mit dem Konzept der Spitzenkandidaten auseinandergesetzt. Über das hat überhaupt niemand gesprochen. Und wenn man darüber gesprochen hätte, dann hätte man das abgelehnt, weil man aus reinen demokratischen Prinzipien davon überzeugt wäre, dass das Europäische Parlament hier keine Rolle hat und dass es eine Funktion der Staats- und Regierungschefs ist, diese Entscheidungen zu treffen. Deshalb fühlt man sich hier auf zwei Ebenen wirklich für den Wähler fast betrogen, vor allem, weil in diesen Europawahlen diese euroskeptische Partei UKIP die größte Partei am Ende war. Die meinen plötzlich, keiner hat was von den Spitzenkandidaten gesprochen, wir haben Parteien gewählt, die Erneuerungen, Veränderungen wollen, und hier sehen wir plötzlich einen Kommissionspräsidenten, der ganz wenig ändern will.
    Kapern: Das heißt also, das größte Problem hat gar nicht so sehr mit Juncker zu tun, sondern mit der Art und Weise, wie er dann nun mutmaßlich ins Amt kommt?
    Stuart: Die Art und Weise, wie er ins Amt kommen wird, und die Art von Europa und die Vorstellung von Europa, die ein Mann wie Juncker vertritt.
    "Die demokratische Struktur auf nationaler Ebene stimmt ganz einfach nicht"
    Kapern: Frau Stuart, Sie haben eben gesagt, das sei undemokratisch, weil in Großbritannien keine Spitzenkandidaten zur Wahl standen. Das ist ja dann eher ein Problem der britischen Parteien. Was ist demokratischer als eine Europawahl mit Spitzenkandidaten?
    Stuart: Was ist demokratischer? – Wenn Sie sich die gesamte europäische Architektur ansehen, sind es ja drei Elemente. Man hat die Kommission, man hat das Parlament und dann hat man die Staats- und Regierungschefs. Und plötzlich schlägt man hier vor, dass das Europäische Parlament und die politischen Parteien, wo es doch keine paneuropäischen Parteien gibt – es gibt vielleicht Gruppen in Brüssel, die aber ganz wenig Bezug nehmen auf das, was die auf nationaler Ebene machen -, plötzlich geht man in diese Entscheidungsprozesse. Aber die demokratische Struktur auf nationaler Ebene stimmt ganz einfach nicht, nicht nur in England. Das ist auch in anderen Ländern Europas genauso.
    Kapern: Wenn David Cameron dann morgen wirklich auf einer Abstimmung besteht und dann ganz offenbar wird, dass er mit Viktor Orban, dem rechtspopulistischen Ministerpräsidenten von Ungarn, isoliert ist, dient das dann wirklich den Interessen des Vereinigten Königreichs innerhalb der EU?
    Stuart: Wenn es im Interesse des Vereinigten Königreichs ist, dass jemand wie Juncker, der diese Ideen vertritt, und zweitens, der auf diese Art und Weise in diese Position gekommen ist, nicht im nationalen Interesse ist, dann wäre ich der Meinung, dass es den meisten Briten lieber wäre, dass diese Leute Farbe bekennen müssen und man öffentlich weiß, wer dafür gewählt hat. Für Cameron persönlich würde er höheres Ansehen hier haben. Was man aber nicht ableugnen kann ist, dass in diesem Prozess sowohl die ganze Europäische Union als auch das Vereinigte Königreich am Ende geschwächt sind.
    Kapern: Nun ist beispielsweise heute in der weit verbreiteten holländischen Zeitung "NRC Handelsblad" zu lesen, dass David Cameron mit seinem offenen Widerstand gegen Jean-Claude Juncker den Exit-Befürwortern, also denjenigen, die einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union wollen, erst noch die Munition liefert. Kann das klug sein?
    Stuart: Cameron steht "wirklich vor einem ganz großen Dilemma"
    Stuart: Hier steht er wirklich vor einem ganz großen Dilemma, denn David Cameron wollte eigentlich etwa wie Harold Wilson vor 39 Jahren sein. Er wollte sagen, ich gebe euch eine Volksbefragung, ich werde wiederverhandeln und dann zurückkommen, um zu sagen, ich habe zwar nicht alles bekommen, was ich wollte, aber im Großen und Ganzen ist es besser, ich schlage euch vor, dass das Beste fürs Land ist, Ja zur Mitgliedschaft zu sagen. Und im Augenblick mit seinen ganzen taktischen Manövern – deshalb sagte ich ja, dass er sich auf den Spieler konzentriert hat anstatt auf den Ball – befindet er sich jetzt wirklich in einer Situation, wo das, was Sie sagen, ganz recht ist. Er gibt denen, die sagen, ja wenn das so ist, dann verlassen wir den ganzen Verein, denen gibt er jetzt Munition.
    Kapern: Was glauben Sie, wie groß die Chancen der britischen Regierung sind, in den Verhandlungen, die sie verlangt auf EU-Ebene, tatsächlich die tief greifenden EU-Reformen zu bekommen, die Cameron verlangt?
    Stuart: Das hängt natürlich auch von den anderen ab, inwieweit man sich bewusst ist, dass bestimmte Sachen ganz einfach nicht mehr im allgemeinen Interesse sind.
    "Die nächsten Jahre werden unwahrscheinlich schwierig"
    Kapern: Aber wenn die anderen Länder das anders sehen und das durchaus als in ihrem Interesse befindlich sehen, dann ist das doch eine schwierige Ausgangslage für erfolgreiche Verhandlungen.
    Stuart: Es wird eine unwahrscheinlich schwierige Ausgangslage und vor allem eines der größten Probleme, wie es Großbritannien im Augenblick sieht, ist diese freie Bewegung von Arbeitern. Das ist so ein grundsätzliches Prinzip für die meisten anderen Mitgliedsländer, dass das schwierig sein wird. Und das andere Problem ist ja auch, dass wir nicht dem Euro dazugehören und deshalb ganz viele finanzielle Verhandlungen sich abspielen werden, wo die Briten eigentlich, auch wenn sie am Tisch sitzen, weniger zu sagen haben. Die nächsten Jahre werden unwahrscheinlich schwierig sein, sowohl für die Briten als auch für die Union.
    Kapern: Frau Stuart, ist Großbritannien in drei Jahren noch EU-Mitglied?
    "Volksbefragungen sind unberechenbar"
    Stuart: Ich war hier bei der letzten Volksbefragung und da ging das alles am Anfang ganz stark an, dass jeder glaubte, die Briten sagen Nein, wir gehen raus, und am Ende war es so: zwei Drittel sagten Ja und nur ein Drittel sagten Nein. Volksbefragungen sind unberechenbar. Ich würde bloß sagen, dass es ein knappes Ergebnis werden wird und ganz erhitzte Verhandlungen.
    Kapern: Gisela Stuart, Unterhaus-Abgeordnete der Labour Party, heute Morgen im Deutschlandfunk. Frau Stuart, vielen Dank, dass Sie Zeit für uns und unsere Hörer hatten. Danke für Ihre Einschätzungen und für Ihre Informationen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
    Stuart: Danke.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.