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Kampf wider die Diktaturen

Für die Expertin für spanischsprachige Literatur, Michi Strausfeld, war Jorge Semprún der große engagierte Intellektuelle. Erinnerung und Gedächtnisarbeit seien ihm, dem KZ-Überlebenden, für seine Romane immer wichtig gewesen.

Michi Strausfeld im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 08.06.2011
    Stefan Koldehoff: Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún ist tot. Er starb gestern im Alter von 87 Jahren in Paris nach einem Leben, das vielleicht wie kein anderes für die europäische Geschichte im 20. Jahrhundert steht. Als in seiner spanischen Heimat der Bürgerkrieg begann, floh er mit seiner Familie über die Niederlande nach Paris und trat dem kommunistischen Widerstand bei. 1943 verhaftete ihn die Gestapo, Semprún wurde gefoltert und nach Buchenwald deportiert. Er überlebte das Konzentrationslager, kehrte nach Paris zurück und besuchte mehrmals verbotenerweise seine Heimat, um in Spanien unter dem Decknamen Federico Sánchez den Widerstand gegen das faschistische Franco-Regime zu koordinieren. 1964 schloss ihn die spanische KP wegen seiner Stalin-Kritik aus, ein Jahr, nachdem das erste Buch von Jorge Semprún erschienen war.

    In Madrid haben wir Michi Strausfeld erreicht, die über drei Jahrzehnte lang im Suhrkamp-Verlag für die lateinamerikanische, spanische und portugiesische Literatur verantwortlich war und neben Autoren wie Mario Vargas Llosa, Octavio Paz und Isabel Allende auch Jorge Semprún betreut und gekannt hat. An sie ging die Frage, Frau Strausfeld, was war er denn für Sie in erster Linie: ein Freiheitskämpfer, ein Mahner, ein Literat, oder lässt sich das alles vielleicht gar nicht trennen?

    Michi Strausfeld: Es ist sehr schwer zu trennen. Ich würde sagen, er war für mich der große engagierte Intellektuelle, einer der ganz Großen des 20. Jahrhunderts, und das hat mich mit seiner Persönlichkeit eben besonders fasziniert.

    Koldehoff: Sein erstes Werk ist 1963 erschienen, "Die große Reise". Kann man daraus schließen, dass ihm das Schreiben nicht unmittelbar nach dem Krieg ein Bedürfnis war?

    Strausfeld: Für ihn gab es damals die Alternative, entweder ich schreibe, oder ich lebe. Als er aus Buchenwald zurückkam, waren die Erinnerungen einfach zu überwältigend, zu stark, und er hat das alles verdrängt und ist stattdessen politischer Aktivist geworden und hat gegen Franco gekämpft. Ich meine, politischer Aktivist war er ja auch, als er gefasst wurde von der Gestapo und nach Buchenwald deportiert war. Eigentlich hat er dort weitergemacht, wo er vorher aufgehört hatte, nämlich zu kämpfen gegen die Diktaturen, gegen Faschismus in Europa und dann eben in seinem Heimatland Spanien. Und in diesen Jahren der politischen Aktion und des Untergrundes, was ja mehr als gefährlich war, war das Schreiben für ihn kein Thema, das war nicht relevant. Und erst als er aus der KP ausgeschlossen wurde - als europäischer Vordenker hatte er ja den Eurokommunismus schon angedeutet, als das überhaupt noch nicht üblich war, und deshalb wurde er natürlich von Carrillo verbannt, und da hat er dann angefangen zu schreiben. Und zwar war das erste Buch "Die große Reise" dann auch ein Versuch, diese Vergangenheit irgendwie zu bewältigen, vermutlich, und er wohnte einen Monat im klandestinen Untergrund in einer Wohnung in Madrid und hörte immer, wie der Wohnungsbesitzer von seiner Erfahrung im Konzentrationslager - das war allerdings in Österreich - sprach, und er dachte immer für sich, das war doch irgendwie alles ganz anders. Und da hat er angefangen zu schreiben, und so wurde der politische Kämpfer zum intellektuellen Kämpfer und vor allen Dingen zum großen Literaten.

    Koldehoff: Hat er sich selbst eigentlich so auch wahrgenommen als Literaten? War das für ihn Literatur, was er da produziert hat?

    Strausfeld: Ja, unbedingt. Also es ist ja so, dass ganz wichtig für Semprún die Erinnerung und das Gedächtnis ist, die Gedächtnisarbeit, die durch irgendwelche Kleinigkeiten in Gang gesetzt wird, und er hat ja auch gesagt, das kann er nie vorweg sagen, wann es passieren wird, aber es ist ihm immer widerfahren. Aber es ist ja nicht dann einfach, dass er dann aufschreibt einfach so, was es war, sondern das ist ja eine literarische Verarbeitung, da kommen ja auch seine ganzen Assoziationen hinzu, die er aus der Literatur, die er aus der Musik, die er von überall hernimmt, vor allen Dingen von den großen Essayisten auch. Er ist ja eigentlich ein Philosoph unter anderem auch gewesen. Wenn man die Bücher einfach analysiert so als Literaturstudent, dann merkt man ja, wie sorgfältig sie gebaut sind. Nein, das ist große Literatur und subtil gestaltete Romane.

    Koldehoff: Wie schnell war denn klar, dass diese Bücher auch auf Deutsch erscheinen müssen, erscheinen sollen?

    Strausfeld: Nun ja, "Die große Reise" ist 1963 sofort erschienen. Das nächste Buch von ihm, "Die Ohnmacht", wurde dann kurioserweise nicht übersetzt und irgendwie schien es mit Deutschland und Semprún nicht so recht zu klappen. Dann bekam er einen Preis für "Das zweite Leben des Ramón Mercader", das war der Preis Femina, und da entdeckte man ihn wieder. Dann kam die Autobiografie von Federico Sánchez, das war also dann ein politisches Buch auch, was eben nicht in das Reich der Literatur fiel, so dass man sagen kann, erst mit dem Roman "Was für ein schöner Sonntag", der 1980 erschien, hat Deutschland dann Semprún als Literaten entdeckt.

    Koldehoff: Und man hat ihn nicht nur als Literaten entdeckt, sondern beispielsweise auch eingeladen, vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen. Wie hat er sich in dieser Rolle verstanden, als politischer Aktivist auch nachdem die Diktaturen zu Ende waren?

    Strausfeld: Ja! Er ist zum ersten Mal zu den Römerberg-Gesprächen eingeladen worden, und das war drei oder vier Jahre, bevor die Mauer fiel, und da hat er schon von der Wiedervereinigung von Deutschland gesprochen, als das ein Thema war, was in den Köpfen der Politiker überhaupt nicht existierte, oder jedenfalls nicht diskutiert wurde. Er war eben der intellektuelle Vordenker in diesen Reden. Also die Römerberg-Rede, die Bundestagsreden, die Reden in Weimar, die Friedenspreisrede, das ist immer seine intellektuelle Auseinandersetzung gewesen, wo auch die politische Erfahrung reingekommen ist. Er hat ja dann immer gesagt, Deutschland gehört zu Europa und muss in Europa verankert werden und wir müssen das gemeinsame Europa schaffen. Ich glaube, das war dann sein Hauptanliegen als engagierter Intellektueller mit großer politischer Erfahrung, denn er war ja auch drei Jahre lang Kulturminister unter Felipe Gonzales. Also in seiner Person sind so viele Dinge zusammengekommen, dass es reichte für ganz, ganz viele Leben, aber ich glaube, was ihm wichtig ist, ist zum einen, dass man sein Legat aufnimmt, also das Gedächtnis an Buchenwald, an die Konzentrationslager, und zum anderen das große Engagement für die Konstruktion eines großen vereinigten Europas, weil das alleine seiner Meinung nach die Zukunft dieses Europas garantieren kann.