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Kanzlerin in der Kritik
Alle gegen Merkel?

Angela Merkel gerät zunehmend unter Druck. Der Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin wächst, offene Kritik kommt inzwischen auch aus den eigenen Reihen. Wer positioniert sich gegen Merkel, wer stützt ihren Kurs. Eine Analyse.

Von Michael Borgers | 18.01.2016
    Bundeskanzlerin Angela Merkel fährt in Berlin vor
    Bundeskanzlerin Angela Merkel will an ihrer Politik festhalten (picture alliance/dpa/Kay Nietfeld)
    "Der Ton verschärft sich", "Das Klima wird rauer" oder, wie der Autor dieser Zeilen selbst einleitet, "Merkel zunehmend unter Druck". Es scheint, als verlöre die Kanzlerin gerade täglich weiter an Rückhalt. Aktuelle und ehemalige Vorsitzende der Schwesterpartei CSU stellen Ultimaten, führende Politiker vom Regierungspartner SPD sehen sich im Stich gelassen und selbst führende CDU-Politiker werfen ihrer Vorsitzenden mehr oder weniger offen falsche Politik vor. Ein Blick auf die verschiedenen Fronten:
    Die eigene Partei
    Werden innerhalb von CDU und CSU gerade Unterschriften gegen den Kurs der Kanzlerin gesammelt? Dem widersprach Ende vergangener Woche noch im Deutschlandfunk Stephan Mayer von der CSU. Nun wurde bekannt: Offenbar wurde einer solcher Brief sehr wohl geschrieben - und seine Verfasser von führenden CDU-Politikern deshalb zurechtgewiesen. Laut Medienberichten nahmen sich Unionsfraktionschef Volker Kauder und die rheinland-pfälzische Spitzenkandidatin Julia Klöckner im CDU-Vorstand unter anderem die Initiatoren der Unterschriftenaktion vor. Klöckner war es auch, die die Wogen glättete, nachdem Wolfgang Schäuble die Idee einer EU-weiten Benzinsteuer zur Bewältigung der Flüchtlingskrise ins Spiel gebracht hatte.
    Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sitzt in Karlsruhe (Baden-Württemberg) beim Bundesparteitag neben der CDU-Bundesvorsitzenden und Bundeskanzlerin Angela Merkel.
    Was will Schäuble? Genau weiß er das wohl nur selbst. (picture alliance / dpa / Uwe Anspach)
    Auch andere stellen sich hinter Merkel, Berliner Vertraute wie Kanzleramtschef Peter Altmaier oder Generalsekretär Peter Tauber. Allerdings sind sie Politiker ohne die berühmten Truppen, ohne die Landesverbände, wie sie die Verantwortlichen in Baden-Württemberg haben, von wo aus jüngst Kritik in Richtung Berlin schallte. Oder in Bayern, wo sich von Beginn der Flüchtlingskrise an immer wieder die Schwesterpartei der CDU, die CSU, zu Wort meldet. Die Christsozialen, die immer wieder drohen, Ultimaten stellen. Aktuell der ehemalige Parteivorsitzende, Edmund Stoiber, zuvor - zum wiederholten Mal - der amtierende, Horst Seehofer. Wie eine Schwester fühlt sich die CSU schon lange nicht mehr, nur noch wie die böse Stiefschwester.
    Die eigene Regierung
    Die Genossen gehen immer mehr auf Distanz. Zum Abschluss einer Klausur der Parteispitze warf SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel der Union vor, die Sozialdemokraten bei der Integration von über einer Million Flüchtlingen alleinzulassen. Er erwarte von Merkel baldige Ergebnisse in den Verhandlungen mit Europa und der Türkei. Vor allem die EU-Außengrenzen müssten besser gesichert werden. Parteivize Ralf Stegner betont: Die SPD will mit ihrer Kritik Alarm schlagen, der Kanzlerin aber nicht in den Rücken fallen. Den Rücken stärken ist aber auch etwas anderes.
    Die Oppositionsparteien
    Vielleicht einmalig in der Geschichte der Bundespolitik: Die Oppositionsparteien scheinen gerade die Letzten zu sein, die den grundsätzlichen Flüchtlingskurs Merkels vorbehaltlos stützen. Kritik von Linkspartei und Grünen wird vor allem dann laut, wenn die Koalition - wieder einmal - untereinander streitet. "Alles in allem kann ich ihr keine schlechten Noten geben", sagte jüngst Joschka Fischer - und meinte Merkel. Bislang galt der ehemalige Grünen-Vorsitzende und Außenminister nicht gerade als erklärter Fan der Kanzlerin.
    Die Alternative für Deutschland (AfD) ist keine Oppositionspartei, noch nicht. Denn politisch sind die Rechtspopulisten der größte Profiteur der Flüchtlingskrise, so werden sie laut aktuellen Umfragen klar in den nächsten Landtag von Sachsen-Anhalt einziehen.
    Die europäischen Partner
    Der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mahnt und mahnt: Die EU-Partner müssten ihren Verpflichtungen nachkommen und, wie vereinbart, Flüchtlinge bei sich aufnehmen. Doch niemand scheint den Luxemburger zu hören. Die Verteilung von 160.000 Menschen verläuft nach wie vor, gelinde gesagt, schleppend. Praktisch funktioniert sie gar nicht. Längst macht nicht mehr nur Ungarn die Grenzen dicht. Auch andere verlassen sich auf Deutschland und verweisen auf Merkels nicht mit ihnen abgesprochene Einladung. Vielleicht das größte Problem der Deutschen, auch mit Blick auf die Situation daheim.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
    Merkel und Juncker: Rufe nach mehr Solidarität innerhalb der EU bleiben ungehört. (picture alliance / dpa / Olivier Hoslet)
    Die Wirtschaft
    Seit Beginn der Flüchtlingskrise betonen Ökonomen und Verbandsvertreter die Chancen der Zuwanderung - und die Langfristigkeit ihrer Prognose. Bis auf Weiteres bleibt die deutsche Wirtschaft auf Wachstumskurs, die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht. Einige Volkswirte werten die Zuwanderung Hunderttausender Menschen als kleines Konjunkturprogramm - unter anderem, weil der Staat für die Unterbringung und Versorgung der Menschen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak viel Geld in die Hand nehmen muss. Andere, wie Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut, tun sich schwer, im Zuzug der Flüchtlinge einen wirtschaftlichen Nutzen zu erkennen. Für Sinn ist und bleibt es eine humanitäre Aufgabe.
    Die Bürger
    Die Zeiten, in denen Merkel die besten persönlichen Umfragewerte einheimste, sind vorerst vorbei. Die Union kam aber immer noch zuletzt auf 37 Prozent der Stimmen, wenngleich laut dem ARD-Deutschlandtrend nur 44 Prozent wie die CDU-Vorsitzende daran glauben, dass Deutschland die Probleme der Flüchtlingssituation lösen kann. Für zwei von drei Bürgern zeigen die Ereignisse in Köln der Silvesternacht das Versagen der Integrationsbemühungen der letzten Jahrzehnte.
    Fest steht: Merkel ist weit entfernt davon, die unangefochtene Vorsitzende zu sein, zu der sie ihre Partei noch Ende 2014 machte. Fast 97 Prozent Zustimmung gab es damals für sie.
    Die vom Time-Magazin im vergangenen Jahr noch als Person des Jahres Ausgezeichnete wirkt angezählt von ihren Gegnern, wie eine Parteichefin und Kanzlerin auf Abruf.
    Davon beeindrucken lässt sie sich aber nicht: Über ihren Regierungssprecher ließ sie mitteilen, sie wolle an ihrer Politik festhalten und ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik nicht beenden.
    Und: Wer sollte ihr folgen? Sigmar Gabriel? Ursula von der Leyen? Wolfgang Schäuble?
    Kaum vorstellbar aktuell. Aber das war Merkels Machtabsturz vor einem Jahr auch noch nicht.