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Kanzlerin Merkel will für HRE nur "marktübliche" Preise bezahlen

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in der Debatte über eine Verstaatlichung der angeschlagenen Immobilienbank Hypo Real Estate Erwartungen des Großaktionärs Flowers gedämpft. Die Kanzlerin sagte, die Regierung müsse darauf achten, wie sie mit dem Geld des Steuerzahlers umgehe.

Bundeskanzlerin Angela Merkel im Gespräch mit Sabine Adler | 15.03.2009
    Sabine Adler: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, nach dieser Woche ist für die Familien, für die Angehörigen von 15 Todesopfern, ganz genau genommen von 16 Todesopfern, nichts mehr so wie es war. Ist das ein Punkt, wo Sie sagen: Sie als Regierungschefin, als Parteivorsitzende oder einfach als Frau Merkel – da sind Sie machtlos?

    Angela Merkel: Es waren furchtbare Empfindungen, es war Fassungslosigkeit bei mir, und ich glaube, bei vielen, vielen Menschen. Es ist ein Stück Erlebnis, wo einem die Worte auch fehlen und wo es sehr, sehr schwer ist, sofort mit einem Maßnahmenkatalog zu antworten. Wir müssen aufmerksam sein, das ist die Lehre, auf alle jungen Menschen – das gilt für Eltern, das gilt für Erzieher. Wir müssen alles tun, um zu schauen, dass Kinder nicht an Waffen kommen, dass ihnen auch sicherlich nicht zu viel Gewalt zugemutet wird in den verschiedenen Stellen. Aber ein Stück weit ist es so, dass es einfach nur ohne Worte Trost und Hilfe hervorruft für Menschen, die von einer Sekunde auf die andere mit ihren Lebensträumen irgendwo in eine ganz schwierige Situation gekommen sind.

    Adler: Sie werden in der nächsten Woche bei der zentralen Trauerfeier mit dabei sein in Winnenden. Nicht nur bis dahin, überhaupt, überlegen die Menschen: Wie kann man solche Tragödien verhindern? Alles wird durchgespielt. Verantwortung wird natürlich überlegt, gesucht, gesehen. In der Politik wird diskutiert, da gibt es verschiedene Ansätze, unter anderem, Waffen besser zu verwahren oder auch Gewaltvideos weiter zu verbieten oder auch Schulen besser auszustatten mit Psychologen. Was ist Ihr Ansatz, wo haben Sie das Gefühl: Vielleicht sollten wir in diese Richtung denken?

    Merkel: Also was die Aufbewahrung von Waffen anbelangt und auch Munition, das ist sicherlich etwas, wo man sehr stark darauf achten muss, dass das kontrolliert wird, dass das entsprechend den Regeln stattfindet. Und hier werden die Experten sicherlich auch noch mal überlegen: Kann man vielleicht durch unangemeldete Kontrollen oder ähnliches vielleicht noch stärker hinterher schauen, dass das so passiert. Zweitens: Was den Zugang zu Gewaltvideos anbelangt, so ist es ja immer wieder eine permanente Diskussion. Die Jugendministerin hat ja vieles auch versucht – jetzt gerade in letzter Zeit in Blick auf Kinderpornografie, auf Sperrung von Seiten. Ich gehöre, ehrlich gesagt, zu denen – ich hab das auch mit dem französischen Staatspräsidenten besprochen, die immer wieder überlegen: Kann man nicht doch etwas tun? Einfach nur mit der Freiheit des Internets zu argumentieren, wird uns letztlich auch nicht weiterhelfen. Was Psychologen anbelangt: Sicherlich. Auf der anderen Seite: Der Amokläufer war nicht aus der Schule. Das heißt also, man wird auch hier überlegen müssen, und das tun die Länder auch in Verantwortung. Ganz verhindern wird man es wahrscheinlich leider nie können, aber wachsam sein ist mit Sicherheit hier eine Lehre aus dem schrecklichen Ereignis.

    Adler: Ein ausgesprochen schwieriges Problem, keinesfalls eine Tragödie, ist die Finanzkrise, ist die Wirtschaftskrise. An diesem Wochenende treffen sich die Eigner von der Hypo Real Estate – Christopher Flowers – mit Vertretern der Bundesregierung, um unter anderem an dieser wirklichen Großbaustelle, wenn man so möchte, zu beraten, ob es eine Möglichkeit gibt, dass der Bund die Anteile von Flowers bei der Real Estate übernimmt. Wie nahe ist die Bundesregierung an diesem Kauf?

    Merkel: Ich glaube, wir sollten erst einmal noch mal zu einem etwas allgemeineren Punkt kommen. Es gab eine internationale Finanzmarktkrise, die ist nicht überwunden. Da haben wir uns international verpflichtet, abweichend von den normalen Regeln der sozialen Marktwirtschaft, dass keine Bank insolvent sein darf, weil wir nicht wissen, wie viele andere sie dann mit sich in den Abgrund zieht. Wir haben das bei Lehman Brothers gesehen. Aus diesem Grund heraus haben wir Banken auch – wie die Hypo Real Estate – gerettet, ihnen mehrfach unter die Arme gegriffen. Und jetzt ist natürlich die Frage: Wie können wir mit dem Geld des Steuerzahlers, das wir ja bei diesen Rettungsaktionen einsetzen, jeweils so sorgsam umgehen, dass der Allgemeinheit möglichst wenig Kosten entstehen. Wenn wir als letzte Möglichkeit zum Beispiel eine Enteignung ins Auge fassen – als Ultima Ratio –, dann aus dem Gefühl heraus, dass ja eigentlich dort gar nichts zu enteignen ist, denn normalerweise wäre diese Bank pleite. Und in diesem Geist müssen natürlich auch die Gespräche mit den Eignern – in diesem Falle mit einem der Haupteigner, Flowers –, geführt werden. Was wir nicht können ist, jetzt Preise zu bezahlen, die nicht den marktüblichen Werten entsprechen, weil auch hier wir natürlich wieder schauen müssen: Wie gehen wir mit dem Geld des Steuerzahlers um. Kein Mensch sehnt sich oder hat sich vorgestellt, auch ich mir nicht – vor einigen Jahren, dass wir jetzt im Bereich der Banken retten und als Ultima Ratio auch enteignen müssen. Aber wir haben Exzesse der Märkte gehabt, die wir durch staatliche Eingriffe nur stoppen können, um wieder die Selbstheilungskräfte der Märkte überhaupt zur Entwicklung und Entfaltung zu bringen.

    Adler: Lassen sie uns noch bei der Hypo Real Estate bleiben. Da geht es um ungefähr 17 Prozent, die Flowers in Besitz hat. Die Bundesregierung möchte gern 100 Prozent der Aktien haben, um natürlich auch sicherzustellen, dass das Geld, das geflossen ist, für den Verwendungszweck zur Verfügung steht und nicht etwa abfließt, also dass Hypo Real Estate wirklich gerettet wird. Denken Sie, dass eine Einigung tatsächlich möglich ist, oder ist der amerikanische Anteilseigner so hartleibig, dass man da nicht weiterkommt?

    Merkel: Wir sind der Meinung, dass wir als Bundesregierung – als Bund – eine Kontrollmehrheit brauchen. Das ist deutlich mehr als die Anteile von Flowers, und insofern ist Flowers nur ein Teilnehmer in dem gesamten Aktionärspool von der Hypo Real Estate. Und wir müssen uns vergegenwärtigen: Es gibt mehr als 200 Millionen Aktien, und natürlich kann man nicht mit jedem Aktienbesitzer alleine sprechen. Um diese Kontrollmehrheit zu bekommen, gibt es die Möglichkeit, entweder durch freiwillige Übernahmeangebote als Staat in den Besitz zu kommen, oder aber die Möglichkeit, über Kapitalschnitt und Kapitalerhöhung dieses zu erreichen, und als letzte Möglichkeit dann eben erst die Frage der Enteignung. Wie diese Gespräche ablaufen, das kann ich nicht sagen. Sicherlich ist klar, dass für den Eigner Flowers durch die Tatsache, dass wir nächste Woche Gesetzesberatungen haben mit der Ultima Ratio der Enteignung, die Bereitwilligkeit, sich auf bestimmte Übernahmen zu einigen und da auch positiv zu reagieren, größer geworden ist, als wenn wir nur im luftleeren Raum solche Gespräche führen würden.

    Adler: Das heißt, der Druck auf Flowers wird größer?

    Merkel: Das, glaube ich, kann man schon sagen. Unser Gesetzgebungsverfahren tritt jetzt in die entscheidende Runde ein. In der nächsten Woche werden Anhörungen stattfinden und dann auch die abschließenden Lesungen, dann wird der Bundesrat beraten. Und das ist dann natürlich schon ein Faktum, was – glaube ich – die Aktionäre auch vielleicht noch einmal zum Nachdenken bringt. Wichtig ist: Wir können jetzt nicht mit immer mehr Steuergeldern die Aktionäre sozusagen wieder aufbauen, damit sie zum Schluss wieder ein Geschäft machen mit dem Geld der Allgemeinheit, sondern wir müssen gucken, dass wir diese Bank so behandeln, dass sie für den Steuerzahler möglichst wenig Kosten verursacht.

    Adler: Ein ähnliches Ungleichgewicht fürchten zum Beispiel Vertreter der Wirtschaftsverbände, was die Firmenrettung von Opel angeht, von Schaeffler oder Conti. Bundeswirtschaftsminister zu Guttenberg ist in den USA, muss auch mit der US-Regierung reden in Sachen Opel, die ja auch über Bürgschaften zum Beispiel mit beteiligt ist an Opel beziehungsweise in der Verantwortung steht. Nach welchen Kriterien entscheiden Sie eigentlich bei diesen drei Firmen, ob tatsächlich die Bundesregierung einsteigt mit staatlichen Hilfen, mit Bürgschaften – in welcher Form auch immer. Was sind die Kriterien dafür?

    Merkel: Es ist unstrittig, dass die Automobilindustrie in Deutschland eine besondere Bedeutung hat. Nichtsdestotrotz muss jedes Werk natürlich für sich auch eine positive Zukunftsprognose haben. Um diese wird jetzt gerungen. Und bei Opel ist der Fall deshalb so kompliziert, weil Opel ja nicht selbständig ist, sondern eine Tochter von General Motors, und General Motors in sehr starkem Maße – wie Sie es in Ihrer Frage schon gesagt haben – ja unter dem Einfluss der amerikanischen Regierung steht, weil diese schon sehr viele Bürgschaften gegeben hat. Deshalb ist es richtig, dass der Bundeswirtschaftsminister mit der amerikanischen Regierung und mit General Motors spricht. Deshalb muss geklärt werden, in welcher Art und Weise General Motors sich ein Stück zurückziehen kann, Opel mehr Freiheiten geben kann. Und wenn es uns dann gelingt, einen Investor zu finden, der zum Ausdruck bringt, dass er eine positive Prognose für Opel sieht im europäischen Verbund, dann wird man auch mit den normalen Instrumenten, die wir seitens der Bundesregierung haben, zum Beispiel den Bürgschaftsrahmen, schauen können, ob wir da helfen können.

    Adler: Wie verlockend ist das eigentlich, gerade im Hinblick auf die Wahlen, sich hinzustellen und zu sagen: Wir retten Opel?

    Merkel: Schauen Sie, wir haben bei Holzmann erlebt, dass so etwas manchmal nur eine sehr kurze Zeit dauert. Dort sind zigtausende Arbeitsplätze zum Schluss verloren gegangen. Und was noch schlimmer war: Uns erzählen Unternehmen, die heute noch überlebt haben, dass sie auch Arbeitsplätze verloren haben, weil eben Wettbewerbsverzerrung stattgefunden hat.

    Adler: Den Bürgern wird ja schon angst und bange beim Ausmaß der Wirtschaftskrise, der Finanzkrise. Und das, was die Bundesregierung – in Ihrer Gestalt oder auch in Gestalt von Bundesfinanzminister Steinbrück – gesagt haben, war: Wir müssen schauen, wo Fehler gemacht worden sind, gerade im Finanz- und Bankenmanagement, wo Verdienstanreize gegeben worden sind, bestanden haben, Produkte so undurchschaubar waren, dass es niemand mehr nachvollziehen konnte. Kurzum: Eine bessere Finanzkontrolle sollte her. Das, was bei dem G-20-Gipfel in London in gut zwei Wochen beraten und beschlossen werden soll, klingt heute zumindest im Vorfeld ein bisschen anders als das, was man sich erhofft hat: Dass man tatsächlich zu einer besseren Kontrolle kommt. Da ist die Rede aus dem angelsächsischen Raum, aus zum Beispiel Großbritannien oder den Vereinigten Staaten, dass es um mehr Konjunkturhilfe, um größere Konjunkturpakete gehen soll. Wie geht die Bundesregierung in diese Gespräche?

    Merkel: Die Bundesrepublik Deutschland hat eine solche Wirtschaftskrise in ihren 60 Jahren, seitdem sie besteht, noch nicht erlebt. Sie ist eine internationale Krise, das heißt, wir müssen auch international gemeinschaftlich reagieren. Einmal, um die Krise gestalten und wieder zum Aufschwung zu kommen, und zum Zweiten, um zu verhindern, dass es eine solche Krise wieder gibt, dass sich so etwas wiederholt. Das eine sind also die Maßnahmepakete, die wir jetzt auf den Weg bringen, um auch stärker aus der Krise herauszukommen, als wir in sie hineingegangen sind – Innovation zu fördern, neue Produkte zu fördern, an die Zukunft zu denken. Das Zweite ist – damit haben wir begonnen in Washington auf dem ersten G-20-Gipfel, die Finanzmärkte transparenter zu machen mit drei Aussagen, die wir jetzt auch in London umsetzen wollen. Erstens: Kein Produkt, kein Akteur und kein Ort auf der Welt dürfen ohne Transparenz und Regulierung davonkommen.

    Wir haben jetzt erlebt in diesen Tagen, dass Länder wie Liechtenstein, Schweiz, Österreich, Luxemburg, Belgien plötzlich die OECD-Standards anerkennen. Also der Druck baut sich auf – hin zu London. Ich sehe das als einen großen Erfolg unserer Bemühungen an. Zweitens: Die Finanzminister werden an diesem Wochenende jetzt genau darüber beraten, wie die Transparenzregeln zu fassen sind. Ich bin der Meinung, dass wir sehr gute Resultate entsprechend des Aktionsplans auf dem Gipfel am 2. April bekommen werden. Und wir haben auch deutlich gemacht: Wir haben als Bundesrepublik ein Maßnahmepaket jetzt auf den Weg gebracht – zusammen mit dem ersten –, was für zwei Jahre 4,7 Prozent Stimulierung unseres Wachstums in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt bedeutet. Das heißt also, wir stehen in Europa in der Spitzengruppe derer, die etwas gemacht haben. Und ich glaube, dass das ausreichend ist, dass das richtig ist. Und ich habe auch klare Signale aus den Vereinigten Staaten von Amerika, aus der Regierung von Barack Obama, dass man dies anerkennt und dass hier auch keine weiteren Forderungen erhoben werden.
    Adler: Nun kommen die Vergleichszahlen. Dort gibt man 5,6 Prozent aus an Konjunkturhilfe, natürlich vor einem anderen Hintergrund. Das heißt also, diese Sorge, die jetzt geäußert wird von den Wirtschaftsexperten, dass es also nichts mit der Finanzmarktkontrolle wird, statt dessen über vielleicht in Deutschland ein drittes Konjunkturpaket geredet werden soll, die teilen Sie nicht?

    Merkel: Nein. Also erstens glaube ich, dass die Situation zwischen Amerika und Deutschland in der Tat nicht vergleichbar ist, weil wir zum Beispiel nicht diese Häusermarktkrise haben, also diese hohe Verschuldung auch großer Teile der Bevölkerung im Blick auf den Hausbesitz. Wir haben keine Lücken bei den Kreditkarten, dass also die Kreditkartenbesitzer in hohem Maße verschuldet sind. Das alles muss in den Vereinigten Staaten ja abgearbeitet werden. Und das bringt mich auch zu dem Punkt: Es reicht auch nicht, nur Finanzprodukte zu regulieren und mehr Transparenz herzustellen. Das ist unbedingt notwendig, aber nicht ausreichend. Denn was dahinter lag, war, dass man schon über die Verhältnisse gelebt hat, zu viel Geld im Umlauf war, dadurch die Risiken eingegangen wurden. Und deshalb sage ich, wir brauchen auch eine internationale Charta des nachhaltigen Wirtschaftens, wo wir weltweit vereinbaren, dass wir im Grundsatz nicht mehr ausgeben als wir einnehmen.

    Und wir haben deshalb auch zwischen Bund und Ländern verabredet – ein sensationeller Schritt, ohne Krise wäre es vielleicht gar nicht möglich gewesen – eine Schuldenbremse im Grundgesetz zu verabreden. Und so müssen wir auch das Wirtschaften lernen. Ich glaube nicht, dass wir jetzt darüber reden sollten, ein weiteres Maßnahmepaket zu machen. Wir sollen überlegen, ob wir Faktoren haben, die prozyklisch wirken, wie man das nennt, also krisenverstärkend. Deshalb möchte ich nächste Woche auf dem EU-Rat darüber sprechen, ob wir die Basel-II-Kreditvergabebedingungen noch einmal lockern, weil wir ja sonst in eine Situation hineinlaufen, wo das Rating, also die Bewertung von bestimmten Industriezweigen, immer schlechter wird, damit die Banken gezwungen werden, diesen Industriezweigen immer mehr Zinsen abzuverlangen für einen Kredit und wir damit die Abwärtsentwicklung bestimmter Branchen verstärken. Das müssen wir durchbrechen. Aber ansonsten ist unser Instrumentenkasten mit dem zweiten Maßnahmepaket perfekt. Und das muss jetzt erst mal wirken. An den meisten Stellen ist ja noch nicht mal ein Grundstein gelegt für die Bauarbeiten.

    Adler: Bundeskanzlerin Angela Merkel im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Wie kommt es bei Ihnen eigentlich an, wenn Sie ausgerechnet in solchen ganz schwierigen Zeiten mit einer nie da gewesenen Wirtschafts- und Finanzkrise erleben, dass in einer solchen Zeit, wo man nun wirklich genug zu regeln und zu überlegen hat, massive Kritik aus den eigenen Reihen kommt, wenn jeder, so wie früher, auf Ihnen rumhacken darf? Ist das ein Déjà-vu-Erlebnis, das Sie da haben?

    Merkel: Nein. Die Zeiten sind ja in der Tat extrem schwierig. Und ich glaube, es ist auch verständlich, dass zum Teil auch sehr emotional jetzt überlegt wird: Was ist der richtige Kurs. So etwas hatten wir noch nicht. Und da gibt es auch jetzt gar kein Drehbuch, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Und insgesamt finde ich, dass die Menschen in Deutschland unglaublich vernünftig und auch abgewogen mit dieser Krise umgehen, dass die Wirtschaft versucht, auch ihren Beitrag zu leisten, die Arbeitnehmer versuchen, ihren Beitrag zu leisten, und dass dann natürlich in meiner eigenen Partei, auch in anderen Parteien, aber auch in meiner eigenen Partei Diskussionen sind, ist das jetzt noch im Sinne der sozialen Marktwirtschaft oder nicht, ist das vernünftig oder nicht, dass man versucht, Haltepunkte zu finden, was ändert sich nun bestimmt nicht, das kann ich alles verstehen. Ich sage, wenn wir mit dieser außergewöhnlichen Situation nicht auch in Form von außergewöhnlichen Maßnahmen umgehen, dann werden wir nicht stärker aus der Krise hervorgehen als wir hinein gekommen sind.

    Adler: Haben Sie das Gefühl, dass die bayerische Schwester da so hilfreich unter die Arme greift dabei?

    Merkel: Im Grundsatz schon. Es ist eine lange Tradition, dass sich die CDU und CSU auch immer wieder aneinander reiben. Ich gehe allerdings davon aus, dass unser Erfolg nur ein Erfolg sein kann, auch in Bezug auf die anstehenden Wahlen, wenn wir in den entscheidenden Punkten dann auch gemeinsam voran gehen. Und das ist auch die Abmachung zwischen Horst Seehofer und mir.

    Adler: Jetzt gibt es eine Erklärung, warum Horst Seehofer so sehr viel erfolgreicher als Sie angeblich das Profil der CSU stärken kann, nämlich weil er nicht Teil der Bundesregierung ist. Was diese Kritik meint, ist die Ämtertrennung. War es eigentlich wirklich klug und bedauern Sie es möglicherweise im Nachhinein, dass Sie nicht getrennt haben den Parteivorsitz vom Amt der Regierungschefin?

    Merkel: Wenn ich als Parteivorsitzende agiere, lege ich ja meine staatliche Verantwortung nicht ab. Wenn ich meine staatliche Verantwortung wahrnehme, bin ich auch CDU-Vorsitzende. Das gemeinsam zu gestalten und auch immer in der einen Person und in den Aktionen zu vereinen, das halte ich für das Erfolgsrezept der Union, im übrigen nicht erst, seitdem ich Bundeskanzlerin bin, sondern schon weit vorher.

    Adler: Nun sagt der Ex-CDU-Generalsekretär Geißler, dass es eigentlich Aufgabe des Generalsekretärs wäre, für die Profilschärfung zu sorgen. Mit anderen Worten gefragt: Macht Ronald Pofalla seinen Job nicht richtig?

    Merkel: Ronald Pofalla macht seinen Job ganz hervorragend. Ich glaube, dass wir auch unser Profil sehr klar gezeigt haben, auch in dieser Krise. Was wäre denn gewesen, wenn es die Union nicht gegeben hätte? Dann hätten wir diese Schuldenbremse zum Beispiel nicht, dann hätten wir die Haushaltsdisziplin bis zu dem Beginn der Krise überhaupt nicht gehabt. Wir haben Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent. Das ist sozusagen Ergebnis auch ganz wesentlich der Unionspolitik in der Bundesregierung. Das heißt, wir haben viele Dinge erreicht, die ohne Union gar nicht denkbar gewesen wären. Und manchmal ist es natürlich auch so, dass es unter den Flügeln in der Union auch unterschiedliche Meinungen über bestimmte Themen gibt. Es gibt Menschen, die sagen, wir müssen vorsichtig sein bei dem Anbau von gentechnikmodifizierten Pflanzen, und es gibt Menschen, die sagen, für die Forschung ist das unbedingt nötig, dass wir das auch pragmatisch und praktisch realisieren. Also was genau immer die Unionsmeinung ist, muss sich in einer Volkspartei auch durch Diskussion herausbilden. Manchmal gibt es auch Bund-Länder-Konflikte. Und wir sind eine lebendige Partei, das spricht für uns. Und zum Wahlprogramm für Europa und die Bundestagswahl werden wir diese Dinge zusammenführen im Sinne einer Volkspartei.

    Adler: Und Sie sind auch eine lebendige Fraktion, denn in der Fraktion gibt es unter anderem auch die Stimmung oder die Meinung, die vertreten wird, dass Sie möglicherweise mitunter zu schnell auf Einigung drängen, wo man vielleicht an anderen Punkten hart bleiben sollte, ruhig die SPD mehr auf die Union zukommen lassen sollte. Nehmen Sie solche Kritik an?

    Merkel: Ich bin ja jeden Tag mit Anregungen und Hinweisen reichlich versehen. Und die einen sagen, es dauert alles zu lange und wir kommen nicht zu Ergebnissen. Die anderen sagen, es geht manches zu schnell. Ich glaube, dass wir gezeigt haben, jetzt gerade in der Krise, dass wir, wenn es Not tut, zum schnellen Handeln in der Lage sind, obwohl wir dann auch diskutieren. Ich bin jemand, der sehr diskussionsfreudig ist. Nein, das eigene Profil ist immer auch natürlich die Summe von vielen unterschiedlichen Meinungen in der eigenen Truppe. Und das zweite ist, dass man, wenn man in einer Regierung ist, natürlich auch Kompromisse machen muss und trotzdem sich darin das eigene Profil zeigt. Also, Kompromisssuche ist Teil der Politik. Und ich habe immer gesagt, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen, dann ist ein Kompromiss vertretbar und dann wird er auch gemacht.

    Adler: Angela Merkel im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Ein ganz wichtiger Teil der Kritik jetzt aus den eigenen Reihen ist entsprungen Ihrer Kritik wiederum gegenüber dem Papst. Die wurde als nicht durchgängig als falsch empfunden, sondern als undiplomatisch. Tut Ihnen das Leid im Nachhinein?

    Merkel: Ich glaube, dass ich als deutsche Regierungschefin im Bezug auf die Schoah deutlich machen musste, unbeschadet der eindeutigen Haltung des Papstes selber, dass Leugnung des Holocaust keinen Raum haben darf in der Öffentlichkeit. Ich bin sehr froh gewesen über die Erklärung dann des Vatikan am 4. Februar. Die war wichtig, und ich glaube, durch den sehr persönlichen Brief, den der Papst jetzt noch einmal geschrieben hat, den ich für sehr mutig halte, ist ja auch noch einmal ein wichtiger Beitrag geleistet worden.

    Adler: Hat Sie diese Selbstkritik, die der Papst in dem Brief an alle Bischöfe formuliert hat, hat Sie diese Selbstkritik, eben einen Fehler eingestanden zu haben, zum Beispiel das Internet nicht hinreichend genutzt zu haben für Informationen, hat Sie das beeindruckt?

    Merkel: Ich habe nicht von ungefähr gesagt, dass ich es für mutig und auch für sehr, sehr wichtig gehalten habe. Es ist ein ungewöhnlicher, sehr persönlicher Schritt, den ich – wie gesagt – als mutig bezeichnen würde.

    Adler: Der Papst beschreibt in diesem Brief auch, dass ihn umtreibt die Einheit der Kirche. Man hat so ein bisschen das Gefühl, das ist auch ein Brief, der könnte vielleicht auf den Zustand der CDU hin geschrieben sein. Wie einig ist die Partei eigentlich? Steht das ‚C’ wirklich immer für das C, oder müsste da eigentlich ein ‚K’ für katholisch stehen?

    Merkel: Also, ich möchte wirklich die Dokumente des Papstes nicht mit den Debatten in der CDU vergleichen. Das sind zwei Dinge, die völlig unabhängig voneinander stehen. Das ‚C’ in der CDU ist mir wichtig als evangelischer Christin, und das ist wichtig für die katholischen Christen, und es deutet darauf hin, aus welcher Quelle wir unser Bild vom Menschen speisen. Und aus diesem Bild vom Menschen, aus der Unteilbarkeit der Würde des Menschen, entfaltet sich auch die gesamte politische Stellungnahme, die wir in unseren Grundsatzprogrammen entwickeln. Die CDU war immer – genauso wie die CSU – eine Lehre aus der Trennung auch der Konfessionen, wie man sie im Parteienspektrum gehabt hat in früheren Zeiten. Sie war ganz bewusst gewählt, und so möchte ich es als Vorsitzende auch weiter halten.

    Adler: Sie finden also den Einfluss der Katholiken nicht übermäßig in dieser Partei?

    Merkel: Ich finde, dass das alles wunderbar ist und dass wir uns gemeinsam bemühen müssen, auch im 21. Jahrhundert möglichst viele Mitglieder zu haben.

    Adler: Sie werden am Mittwoch sprechen vor dem Bund der Vertriebenen, werden da auch Erika Steinbach treffen. Werden Sie den Mitgliedern erklären, warum Sie sich so spät solidarisiert haben mit Erika Steinbach?

    Merkel: Erstens: Ich bin seit Jahr und Tag solidarisch mit Erika Steinbach, insbesondere auf das zentrale Projekt für sie, das auch ein wichtiges Projekt für mich ist, nämlich die Stiftung "Flucht, Vertreibung und Versöhnung". Wir haben daran gearbeitet, dass wir so weit gekommen sind, einen Gesetzentwurf zu haben. Das hat mit Erika Steinbach, mit dem BdV zu tun, das hat aber auch mit Mitgliedern der Bundesregierung und mit mir zu tun. Und auf den letzten Millimetern oder Metern, um das ganze Projekt durchzusetzen, haben wir jetzt noch einmal eine schwierige Phase gehabt. Ich habe immer deutlich gemacht, dass die Angriffe zum Teil gegen Erika Steinbach nicht akzeptabel sind. Auf der anderen Seite sage ich auch mit Hochachtung, es war ein wichtiges Signal, dass der BdV jetzt die Durchsetzung dieser Stiftung und auch die Besetzung des Stiftungsrats möglich gemacht hat. Denn worum geht es? Und das ist mir das Wichtige: Dass wir diese Stiftung haben und damit in einer Zeit, wo die Erlebnisgeneration ja immer älter wird und auch zum Teil nicht mehr unter uns sein wird, dass in einer solchen Zeit das Gedenken an das Unrecht der Vertreibung Eingang in die gesamtgesellschaftliche Erinnerung findet, dass das nicht in Vergessenheit gerät. Und diesen Punkt, den werden wir miteinander schaffen. Und ich glaube, das ist zum Schluss das, was zählt.

    Adler: Frau Bundeskanzlerin, in danke Ihnen für das Gespräch.