Mittwoch, 24. April 2024

Kapitel 4
Der Stabschef und der Fähnrich

Schützengilde Schwedt: Ich habe mich hier mit einem Mann verabredet, der sich gut an das ehemalige Straflager erinnert. Hans-Jörg Nagel war acht Jahre lang Stellvertreter des Kommandanten. Vom Horrorgefängnis in Schwedt will er nichts wissen.

Von Benjamin Hammer | 29.09.2014
    Porträtfoto von Hans-Jörg Nagel
    Hans-Jörg Nagel (Deutschlandradio/Benjamin Hammer)
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    Benjamin Hammer: ein Papierfuchs als Zielscheibe. Ein Seilzug fährt den Fuchs von der Schießanlage auf eine Distanz von 100 Metern, mitten in den brandenburgischen Wald hinein. Die Schützengilde Schwedt befindet sich nur wenige hundert Meter vom Gelände des ehemaligen NVA-Gefängnisses entfernt. Bei der Schießrichtung – exakt auf das ehemalige Straflager gerichtet – könnte man auf böse Gedanken kommen.
    Die Schützen winken aber ab: Hier wurde schon unter dem Alten Fritz geschossen, sagen sie. Die Schützen winken aber ab: Hier wurde schon unter dem alten Fritz geschossen, sagen sie. Ich habe mich hier mit einem Mann verabredet, der sich gut an das ehemalige Straflager erinnert. Hans-Jörg Nagel war acht Jahre lang Stellvertreter des Kommandanten. Vom Horrorgefängnis in Schwedt will er nichts wissen.
    Hans-Jörg Nagel, ehemaliger Stabschef des Gefängnisses: Und ich als ehemaliger Stabschef kann hier hundert Prozent sagen, dass es viele disziplinarisch Bestrafte und auch Militärstrafgefangene gab, die gesagt haben, wir würden lieber herzlich gern unseren Dienst hier in der Disziplinareinheit als draußen in der Truppe ableisten - waren nicht alle, aber viele -, weil hier spricht man mit uns. Und es war ein Erziehungsstrafvollzug. Das mag heute keiner mehr so richtig glauben und so richtig verstehen. Aber da muss man hier gelebt haben, um das zu begreifen. Erziehungsstrafvollzug! Und ich denke, wenn die Strafgefangenen, mit denen Sie sich unterhalten haben, ehrlich sind, werden sie sagen, es war schweinehart, aber irgendwo auch gerecht. Irgendwas ausgefressen hatte ja jeder, ja.
    Hammer: Wie schauen Sie heute auf diese Zeit zurück? War es richtig, dass es diese Einrichtung gab?
    Nagel: Sie dürfen diese Härte, die man da hineininterpretiert, nicht mit der Definition von Härte der ehemaligen alten Bundesrepublik auf ein Level heben. Wir hatten in der NVA ein ganz anderes Level an Disziplin und Gefechtsbereitschaft, ja. Der Blickwinkel auf die DDR ist mit dem Wissen von heute, was uns ja bis _90, bis zur Wende verschlossen war, natürlich ein anderer als damals. Aber ich bin Kind dieser Republik, ich bin auf dieser Seite aufgewachsen, und ich habe bis dato, selbst wenn ich es gewollt hätte, gar nicht die Möglichkeit gehabt, darüber nachzudenken, was ist richtig, was ist falsch, weil wir hatten zwei Weltsysteme und ich war in der Armee des einen Weltsystems und stand an der Linie zum anderen Weltsystem.
    Hammer: Es kam vor, dass Soldaten sich in der Armee gegen das System gestellt haben, "Scheiß DDR", "Ich will rüber", und dafür nach Schwedt kamen, und die standen dann unter Ihrem Kommando. Wie sind Sie damit umgegangen?
    Nagel: Wir haben keinen Gefangenen aufgrund seines Deliktes in irgendeine Kategorie eingeordnet. Die wegen sogenannten politischen Straftaten bei uns eingesessen haben, von denen hatten wir keine Urteilsbegründung. Da hatten wir nur das Urteil: "Im Namen des Volkes wird verurteilt Herr Soundso zu meinetwegen sechs Monaten Strafarrest." Da hatten wir keine Möglichkeit. Auch der Soldat selber hat nicht darüber gesprochen, weil er nicht darüber sprechen durfte, und wir durften nicht fragen. So war halt das Geschäft.
    Hammer: Die Gefangenen mussten vor der Entlassung ein Dokument unterschreiben, in dem sie sich verpflichtet haben zu schweigen über das, was sie in Schwedt erlebt haben. Warum hat man das gemacht?
    Nagel: Da habe ich ehrlich gesagt noch nicht drüber nachgedacht. Wir waren ja in der NVA alle sowieso verpflichtet, über alles und jedweden zu schweigen. Jeder hat nur seine Sache gemacht. Wenn einer jetzt versetzt wurde, hat er eigentlich - - Da muss ich passen, da habe ich nie drüber nachgedacht. Aber Sie werden sich ja vorstellen können, dass sie in der Stube im kleinen Kreise sich ohnehin unterhalten haben. Sonst wäre ja nicht so ein Mythos entstanden, ja.
    Hammer: Die ehemaligen Gefangenen berichten, dass die Pflicht zu schweigen über Jahre eine große Schwierigkeit dargestellt hat bei der Verarbeitung ihrer Erfahrungen.
    Nagel: Ja welche Erfahrungen hatten die denn zu verarbeiten? Welche schlimmen Dinge sind denen denn passiert? Wer hat denn zum Beispiel verarbeitet, wenn sie im Suff mit einem Auto einen Menschen so geschädigt haben, dass er ein Leben lang geschädigt war? Es sind ja nicht nur Leute hier in Schwedt gewesen, die gesagt haben, die DDR ist scheiße; es waren ja Leute in Schwedt wegen Klauen und wegen Schlägereien und so. Es war ja nicht nur der politische Aspekt der Inhaftierung, der zweifelsfrei da war, ja. Aber ich sagte ja: Aus heutiger Sicht sehe ich auch einiges anders als aus damaliger Sicht.
    Hammer: Es gibt nur Schätzungen, wie hoch der Anteil an politischen Gefangenen im NVA-Gefängnis war. Der NVA-Forscher Rüdiger Wenzke geht von rund 20 Prozent aus.
    Vor dem Vereinsheim sitzen vier ältere Männer im Schatten unter einer Laube. Bei ihrer Bewertung der Geschichte der DDR – das kann man durchaus so sagen, gibt es große Unterschiede im Vergleich zu den ehemaligen Häftlingen Welz und Fahle.
    Siegfried Seehagen zum Beispiel, Mitglied des Schützenvereins und früher Fähnrich bei der NVA. Sein Einsatzort: das Militärgefängnis.
    Siegfried Seehagen, ehemaliger Fähnrich im Stab des Gefängnisses: Wir haben uns nach der Wende als Verein gegründet.
    Hammer: Stimmt mein Eindruck, dass man hier durchaus auch positive Erinnerungen noch an damals hat in diesen Kreisen?
    Seehagen: immer! Sehr gute! Ich würde es wieder machen. Den gleichen Weg würde ich noch mal gehen.
    Hammer: Auch das System DDR?
    Seehagen: auch das System DDR. Ich bin da groß geworden, es war unser Leben, da bin ich geformt worden, geschult worden, wie jeder andere Mensch, oder. Das war das.
    Hammer: Es gibt eine Geschichte von einem ehemaligen Bausoldaten. Der ist heute Pfarrer und der sollte einen Schießstand mithelfen zu errichten - wir befinden uns jetzt gerade auf einem Schießstand – für die NVA. Das, hat er gesagt, kann er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, weil es eben dann doch zum Waffentraining genutzt wird, und er ist in Schwedt gelandet. Zu Recht?
    Seehagen: Zu Recht – ich meine, Befehlsverweigerung. Jeder Staat schützt sein System und so hat die DDR auch hier das System geschützt. So sehe ich das, nicht anders.
    Hammer: Aber Sie würden sagen, im damaligen System war diese Härte notwendig?
    Seehagen: Wenn ich jemandem einen Befehl erteile, den er machen muss, den muss er ausführen. Beschweren kann er sich dann hinterher immer noch. Aber Befehlsverweigerung ist strafbar.