Donnerstag, 25. April 2024

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Kardinal Woelki und das Erzbistum Köln
"Die juristische Verteidigungslinie gehört niedergerissen"

Thomas Quast ist Richter in Köln, Musiker der Band "Ruhama" - und engagierter Katholik. Im Gutachten des Strafrechtlers Björn Gercke fehle Entscheidendes, sagt er: die Moral und die Kategorie des "Organisationsverschuldens". Bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt brauche es Veränderung und Offenheit.

Thomas Quast im Gespräch mit Christiane Florin | 02.06.2021
Thomas Quast ist Jurist und Sänger der Band Ruhama
Thomas Quast sagt, Kardinal Woelki kann auf die Art und Weise wie bisher der Verantwortung nicht gerecht werden (privat)
Nachdem das Erzbistum Köln immer wieder im Fokus der Öffentlichkeit stand, schickt Papst Franziskus nun zwei Visitatoren nach Köln: Sie sollen die "komplexe pastorale Situation" im Erzbistum und eventuelle Fehler Woelkis und anderer bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt untersuchen. Kardinal Woelki erklärte in einer Video-Botschaft, er freue sich, dass der Papst sich ein eigenes Bild über Untersuchung und Konsequenzen im Erzbistum verschaffen wolle. Er werde die Visitatoren in ihrer Arbeit unterstützen.
Kardinal Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, geht nach einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines Gutachtens zum Umgang des Erzbistums Köln mit sexuellem Missbrauch
Sexualisierte Gewalt im Erzbistum Köln
Zum Umgang mit sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln wurden zwei Gutachten erstellt. Das erste wurde zunächst zurückgehaltene – wahrscheinlich nicht grundlos. Das Vertrauen der Gläubigen in Kardinal Woelki ist tief erschüttert, und nun sendet auch der Vatikan eine Abordnung nach Köln. Ein Überblick.
Christiane Florin: Sie sind Jurist, Musiker und Katholik im Erzbistum Köln. Angesichts der aktuellen Situation: Was sieht der Katholik und was sieht der Jurist?
Thomas Quast: Der Katholik sieht und spürt vor allem eine tiefe Betroffenheit und Traurigkeit. Ich sehe Ratlosigkeit und Hilflosigkeit. Ich sehe vor allem auch viel Angst - Angst bei den Verantwortlichen im Bistum, auch wie es weitergehen kann. Als Jurist - und ich sage dazu weltlicher Jurist, gerade auch im Bereich Strafrecht unterwegs - habe ich mir das sogenannte Gercke-Gutachten natürlich angeguckt und habe da Dinge gesehen, die mich haben erschrecken lassen, was die Fälle angeht, die sogenannten Aktenvorgänge. Zugleich war ich nicht wirklich verwundert.

"Moralisch-ethische Anforderungen zu wenig berücksichtigt"

Florin: Dieses Gutachten, das vom Erzbistum gelobt wird als "unabhängige Aufarbeitung", hat auch Stärken, zum Beispiel diese klare Definition von fünf Pflichtkreisen: Aufklärung, Information, Sanktionierung, Verhinderung, Opferfürsorge. Das schafft doch erstmal Übersichtlichkeit. Oder ist es keine Stärke dieses Gutachtens?
Quast: Das ist so. Ich finde die Bildung dieser fünf Pflichtenkreise auch verdienstvoll. Mir stellt sich zugleich die Frage, ob diese genannten Pflichtenkreise tatsächlich genügen, um das Verhalten beziehungsweise vor allem auch das Nicht-Verhalten der Verantwortlichen in der gesamten Breite und Tiefe ihrer Verantwortung zu reflektieren.
Ich habe den Eindruck, dass das in der Öffentlichkeit wahrnehmbare Unbehagen und die deutliche Kritik, dass moralische, ethische Anforderungen viel zu wenig berücksichtigt sind, dass das sehr gut nachvollziehbar ist. Also gerade diese Dinge, die sich aus dem spezifischen Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche ergeben, die tauchen in dem Gutachten letztlich gar nicht auf, sondern allenfalls reflektiert auf Normen des kirchlichen Rechts. Das ist ein großer Mangel aus meiner Sicht.
Aus juristischer Sicht fehlt mindestens ein Pflichtenkreis, der mit dieser vorgenannten Kritik in Teilen korrespondieren könnte, nämlich das zum Beispiel in beruflichen Verantwortungsbereichen anerkannte Organisationsverschulden.

"Es gibt eine Pflicht, bestmögliche Personen an der jeweiligen Stelle einzusetzen"

Florin: Was ist damit gemeint?
Quast: Das meint den Verstoß gegen die Pflicht, bestmöglich geeignete Personen an der jeweiligen Stelle einzusetzen. Das heißt: Wen setze ich in einem konkreten Verantwortungsbereich ein? Und wenn ich weiß, dass er da eine - ich nenne es mal - Schwäche haben könnte, weil ich zum Beispiel einen nicht erwiesenen Tatverdacht habe, dann hab ich ja die Sorge, es könnte etwas dran sein. Wenn ich einen zweiten Hinweis bekomme, dass zum Beispiel ein Priester mit deutlich jüngeren, ihm anvertrauten Menschen in Situationen sexuell konnotierter Nähe gekommen sein könnte, selbst wenn es nicht erwiesen ist, dann muss ich alles tun, um zukünftig, selbst wenn es nicht erwiesen ist, dafür Sorge zu tragen, dass es nicht dazu kommen kann.
Ich möchte das vergleichen mit der Pflicht des Chefarztes, der einen Operateur hat, bei dem es immer wieder zu Fehlern gekommen ist. Dann darf der zumindest nicht unter den Umständen wie bisher weiter operieren. Sonst ist der Chefarzt mit dran.
Austritte und verschleppte Aufarbeitung: Die katholische Kirche in der Krise
Jahrelang wurden in der katholischen Kirche Fälle von sexueller Gewalt nur zögerlich aufgearbeitet. Dabei besonders im Fokus: das Erzbistum Köln. Das will jetzt aufklären. Vielen Gläubigen reicht das nicht. Die Zahl der Kirchenaustritte steigt.
Florin: Aber das öffnet doch Tür und Tor für Gerüchte, wenn es nicht erwiesen ist.
Quast: Ich spreche hier nicht davon, dass man den sofort für fünf Jahre ins Gefängnis schicken muss. Zugleich habe ich die Möglichkeit, wenn Gerüchte an mich herangetragen werden, den Gerüchten nachzugehen - über die Dinge hinaus, die im Gercke-Gutachten zugrunde gelegt worden sind, um zu einer Erkenntnis zu kommen: Die Möglichkeiten, die sich bieten, sind lange nicht ausgeschöpft. Ich sehe das auch als eines der maßgeblichen Versäumnisse in der Vergangenheit an, dass man einen Beschuldigten befragt hat auf einen Verdacht hin. Dann hat der das abgestritten. Das ist das, was Verdächtige häufig tun. Dann hat man gedacht, "okay, dann ist es so", und ist dem nicht weiter nachgegangen.
Beim bloßen Verdacht als solchen - ich bin Strafrichter - gilt die Unschuldsvermutung, völlig klar. Der bloße Verdacht hilft nicht. Aber zumindest alles, was ich hier im Gutachten in den Aktenvorgängen lesen konnte, schildert ganz viele Fälle, in den man diesen Ansätzen aufzuklären gar nicht nachgegangen ist.

Zweite Chance? "Ich halte das nicht für vertretbar"

Florin: In einem Fall, der in jüngerer Zeit von vielen Medien aufgegriffen wurde, geht es um einen Geistlichen, der vor 20 Jahren die Dienste eines minderjährigen Prostituierten in Anspruch genommen haben soll. Dann kam dieser Geistliche vor einigen Jahren in eine Führungsposition. In einem Fernsehinterview zu dieser Personalentscheidung – es war eine Entscheidung des amtierenden Erzbischofs Woelki - sagt der Generalvikar: Das mit dem Prostituierten sei damals nicht strafbar gewesen. Was ja auch stimmt nach weltlichem Recht. Wie bewerten Sie eine solche Verteidigungslinie: "Das war damals nicht strafbar"? Ergänzt wurde das um die moralische Komponente: Jeder hat doch eine weitere Chance verdient. Wie bewerten Sie das?
Quast: Das eine ist: Wenn etwas nicht strafbar ist, dann ist es nicht strafbar. Das andere: Jeder verdient eine zweite Chance. Ja, damit habe ich sehr viel zu tun. Ich bin für Haft-Entlassungen aus der JVA Köln zuständig. Natürlich haben die immer eine zweite Chance verdient. Jeder hat die verdient.
Ob das aber für eine Institution wie die römisch-katholische Kirche die ausschlaggebenden Kriterien sein dürfen, auf diesen Fall bezogen? Da habe ich nicht nur meine Zweifel, sondern sage als Katholik des Erzbistums Köln: Ich fühle mich durch eine solche Handhabung nicht vertreten. Ich halte es auch nicht für vertretbar, um eine klare Antwort auf die Frage zu geben. Denn außen vor bleibt: Ja, eine zweite Chance, aber die Frage ist: wann, wo und wie? Deswegen muss ich nicht jemanden zum stellvertretenden Stadtdechanten machen.
Apostolische Visitation im Erzbistum Köln: "Grund zur Freude hat Kardinal Woelki nicht"
Zwei Bischöfe untersuchen im Auftrag des Papstes, was in Köln los ist. Er sei froh darüber, bekundet Erzbischof Rainer Maria Woelki. Der Kirchenrechtler Bernard Sven Anuth sagt: "Alles ist möglich". Woelki könne gestärkt werden, er könne aber auch sein Amt verlieren. Nun komme es auf den Papst an.
Florin: Sie haben am Anfang des Gesprächs gesagt, das Gutachten bringt die strafrechtliche Sicht, die juristische Sicht. Sie vermissen aber die moralische Bewertung. Wie könnte eine moralische Bewertung aussehen? Und wer sollte sie vornehmen?
Quast: Ich bin der Meinung, dass ein solches Gutachten, das auf diese Weise juristische Kriterien im Sinne der Pflichtenkreise erstellt und sie anwendet, nicht in der ganzen Breite das reflektieren kann, was zu reflektieren ist, um dem Erzbistum Köln ganz praktisch das zu geben, was das Erzbistum dringend braucht.
Um das jetzt mal als Katholik zu sagen: Wir haben unsere sieben Werke der Barmherzigkeit und für mich gäbe es und gibt es ein achtes Werk der Barmherzigkeit, das derzeit Not tut: nämlich Betroffene aufsuchen und ihnen zuhören. Für mich ist es zu wenig zu sagen: Ihr dürft bei mir einen Termin vereinbaren.

"Das persönliche Leid Betroffener, Geschändeter, Verletzter an sich heranlassen"

Florin: Wer soll hingehen und zuhören?
Quast: Der Erzbischof zum Beispiel ganz konkret.
Florin: Was erfahre ich aus Gesprächen mit Betroffenen, was nicht eigentlich eine Frage der elementaren Moral ist? Um zu wissen, dass elementare Gebote der Menschlichkeit missachtet worden sind im Umgang mit Betroffenen, brauche ich da wirklich noch das Gespräch, bei dem ich zuhören soll? Muss man das aus dem persönlichen Gespräch lernen? Oder sagt es nicht eine allgemeine moralische Erziehung, Schulung, Gewissensbildung?
Quast: Ja, ganz spannende Frage. Für mich sind das zwei Dinge, die einander, wenn nicht bedingen, so doch bereichern könnten. Ich glaube, dass die persönliche Konfrontation, und zwar die im Hingehen, einen noch mal anders berühren kann als denjenigen, der nachher schwierige Entscheidungen zu treffen hat. Natürlich kann das auch wiederum bisher gegebene Vorstellungen - nennen wir sie moralische Vorstellungen - auch beeinflussen und in einen Wandlungsprozess ziehen.
Ja, auch das weltliche Strafrecht hat sich in den letzten 20, 25 Jahren, seitdem ich im Richterdienst bin, weiterentwickelt gerade was den Umgang mit sexuellem Missbrauch angeht. Das hat auch damit zu tun, dass Richter, aber auch Leute, die im politischen Raum Verantwortung tragen, das persönliche Leid Betroffener, Geschändeter, Verletzter anders an sich herangelassen haben. Deswegen glaube ich, ist dieses sehr persönliche An-sich-Heranlassen ganz wichtig.

"Sich hinter ein solches Gutachten zurückziehen - das hat nicht funktioniert"

Florin: Eines der bekanntesten Lieder Ihrer Band Ruhama heißt "Da berühren sich Himmel und Erde". Das wird auf vielen Katholikentagen gesungen, zuletzt auch noch beim Ökumenischen Kirchentag. In diesem Lied heißt es: "Wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen und neu beginnen, ganz neu, da berühren sich Himmel und Erde." Was wäre ein Neuanfang für das Erzbistum Köln?
Proteste gegen Woelki in Düsseldorf: Der Bischof soll nicht firmen
Der Druck auf Kardinal Woelki wächst. Dechanten seines Erzbistums fordern "persönliche Konsequenzen". Auch an der Basis rumort es: In Düsseldorf war Woelki zu einem Gespräch über Missbrauchsfälle in der Gemeinde eingeladen. Einige Gemeindemitglieder protestierten.
Quast: Dieses Lied ist damals entstanden, 1989. Wir hatten noch vor dem Mauerfall in Berlin beim Evangelischen Kirchentag eine Beat-Messe zur Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion. Das war Zeitansage. Die Mauer stand noch.
Auf die Situation 2021 bezogen, auf das Erzbistum Köln: Ja, die Mauer steht noch, die Mauer, die mit dem Gercke-Gutachten als juristische Verteidigungslinie errichtet wurde, die gehört niedergerissen. Nötig ist das offene Gespräch. Es wäre am Kardinal zu erklären: Ja, ich habe verstanden, dass die Art und Weise, so vorzugehen, mit diesem Gutachten und zu sagen, "jetzt ist die Sache beendet" – das hat nicht funktioniert.
Florin: Das ginge mit diesem Kardinal?
Quast: Na ja, dieser Kardinal ist eine konkrete Person, und diese konkrete Person kann, das ist meine Einschätzung, auf die Art und Weise wie bisher der Verantwortung nicht gerecht werden. Es braucht eine Veränderung. Es braucht Umkehr und vor allem - das sage ich noch mal als Jurist - sich hinter ein solches Gutachten zurückzuziehen, das hat nicht funktioniert, bis jetzt schon nicht. Und es wird zukünftig noch viel weniger funktionieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.