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Karibische Realität

Derek Walcott, Nobelpreisträger, 1930 in Castries auf der Karibikinsel St. Lucia geboren, zählt zu den herausragenden Dichtern des 20. Jahrhunderts. Sein neues Werk heißt "Der verlorene Sohn".

Von Margrit Klingler-Clavijo | 19.09.2007
    In seiner Nobelpreisrede vor der Schwedischen Akademie erklärte er:

    "Die Lyrik ist eine Insel, die sich vom Festland ablöst. Die Dialekte meines Archipels erscheinen mir so frisch, wie jene Regentropfen auf der Stirn der Statue, nicht der Schweiß aus der klassischen Anstrengung stirnrunzelnden Marmors, sondern die Kondensate eines erfrischenden Elments, Regen und Salz.”"

    Derek Walcott ist nicht nur als Dichter, sondern auch als Dramaturg mit Theaterstücken wie der.Haitian Trilogy, Dream on a monkey mountain, etc hervorgetreten; außerdem hat er jahrelang gemalt und gezeichnet und seinen Gedichtband Tiepolos Hound (2000) mit eigenen Aquarellen illustriert. In den USA unterrichtet er seit Jahren Literatur an den Universitäten von Boston und New York.

    ""Wie du's auch drehst, es ist das Buch eines Alten,
    Egal, wann du`s schreibst, egal, wann's erscheint,
    das Alter der Achselhöhlen, der faltigen Lenden,
    das verwehte Parfüm wertvoller Gespräche,
    die Toilette gurgelt ihre Eklogen, ihr Echo
    erweckt mit heißerem Wirbeln die Namen zum Leben.
    Das ist die Musik der Erinnerung: Wasser."

    So beschreibt Derek Walcott den Tenor seines Gedichtbandes "Der verlorene Sohn". In Anbetracht der rings um ihn herum sterbenden Freunde hatte er sich damit von der Kunst verabschieden wollen. Das war jedoch nicht so einfach, und da dichtete und malte er weiter und hat bereits den nächsten Gedichtband fertiggestellt. Wie schon in seinem Versepos "Omeros" greift Walcott auch bei der Rückschau auf sein Leben wieder auf Homers Odyssee zurück.

    "Es ist das uralte Thema der Heimkehr und wenn man nach Hause kommt, kehrt man reuig zurück, wie der Verlorene Sohn wegen der Dinge, die man dort vielleicht getan hat , Fehler, Fehlurteile, Abenteuer, keine Abenteuer, vielmehr Begegnungen, die oft nicht so gut verlaufen sind, so dass man, wenn man nach Hause zurückkehrt und sich neu orientieren muss, der Verlorene Sohn ist, der sich von seiner Quelle entfernt hat.”"

    Derek Walcott denkt nicht in Kategorien wie das "Eigene und das Fremde". Er ist ein Dichter und Maler, dessen Augen von den Naturschönheiten der Karibik, ihrer üppigen Vegetation, dem unendlichen Ozean und den bezaubernden Lichtverhältnissen verwöhnt sind. Seine Ohren sind mit dem "karibischen Chaosgesumm” vertraut und eine Vielzahl von Sprachen gewohnt, die mit den imperialen Eroberungszügen der Europäer in die Karibik gelangten.

    ""Die Karibik besteht aus einer Menge Inseln, die eine gemeinsame Geschichte haben. Die kann mehrsprachig sein. In Martinique ist es die Geschichte von Frankreich und Guadeloupe. Die Geschichte des holländischen Imperiums könnte man mit Curacao, Aruba verbinden. Die verschiedenen Empires sind auf unterschiedlichen Inseln vertreten. Spanien und so weiter. Außerdem ist da noch die gemeinsame Geschichte der Sklaverei auf den Plantagen [...] All dies ist hochkomplex und für einen Schriftsteller ist es wunderbar; all diese Kulturen um sich herum zu haben, denn das heißt, dass man all diese Kulturen erben kann: ich kann eine holländische, spanische, französische, englische, arabische, jüdische Kultur erben, die allesamt Teil meiner karibischen Realität sind, was für einen Schriftsteller geradezu phantastisch ist."

    Denunzierte Walcott in seinen früheren Werken wiederholt die Arroganz des British Empire, das auf die ungewohnten Zungenschläge aus der Karibik stirnrunzelnd herabsah, so bekennt er sich heute stolz "zur "Quelle geistiger Bastardschaft” der karibischen Archipele. Seines Erachtens haben sich die dort ansässigen Künstler längst von den Kulturmetropolen Europas emanzipiert und müssen nicht mehr dorthin pilgern, um anerkannt zu werden. Auf seinen in diesem Gedichtband geschilderten Reisen durch Europa - Schweiz, Italien, Deutschland – wird Walcotts ambivalentes Verhältnis zu Europa spürbar. Einerseits lässt er seine umfassenden Kenntnisse der europäischen Literatur, Malerei und Musik in seine Beobachtungen miteinfließen, andererseits reibt er sich an der Geschichte Europas, an Kolonialismus und Kriegslüsternheit.

    "Ich war zwar nicht im Krieg, doch ist meine Generation Teil des Krieges von 1939-1945, etwa zeitgleich mit Günther Grass, ein bißchen älter. Man kann nicht loswerden, was sich da abgelagert und was deine Jugend und deine ersten Mannesjahre prägte, uns wurde Propaganda beigebracht, Hass, wir hatten nichts zu tun mit dem Krieg, waren jedoch britisch und deshalb hat man uns beigebracht, die Deutschen zu hassen. Wir sind die Opfer der europäischen Geschichte, denn Deutschland dreht sich herum und verträgt sich wieder mit England und dann bekämpfen sie sich wieder und vertragen sich wieder und das ist die europäische Geschichte, und wir an ihren Rändern wissen nicht, was wir tun sollen, wußten nicht, wem wir glauben sollten, so dass der Fluch meines Kolonialismus darauf beruht, dass ich einen residuale Erinnerung meines Hasses an die Deutschen habe und auf die Japaner, weil mir das so beigebracht wurde. Wo stehe ich, nun, da sie Verbündete sind? [...] Ich fühle mich verraten von dem, was mir beigebracht wurde."

    Nach seinen Streifzügen durch das wiedervereinigte Berlin, dichtete Walcott:

    "Nach Deutschland gehen, wegen der schönen Wendung
    Unter den Linden, die, wie ein Ast in der Sonne,
    meint: "ohne Historie, unter den Lindenbäumen”,
    ohne die zerbrochenen Kruzifixe der Hakenkreuze,
    nur die Schneise des Sommers, grüne Hügel und rote Dächer,
    hinter brandigen Kiefern das Dorf ihrer Jugend,
    Schokolade und Zöpfe, und doch ist da Schuld
    in all diesem Grün. Immerhin, die Historie verheilt,
    und ihr Schorf, ihr Schild ist die Nächstenliebe."
    Derek Walcott hat sich nicht nur in Europa umgetan, sondern auch die USA, Mexiko und Kolumbien bereist:

    "Ich war in Bogotá und das war gut. Ich wurde nach Medellín eingeladen und vielleicht fahre ich auch noch hin. Ich habe gehört, dass das Lyrikfestival sehr groß ist und mit großer Ernsthaftigkeit betrieben wird.. Ich habe eine offene Einladung und vielleicht reise ich wieder nach Kolumbien. [...] Das Land ist noch sehr gewalttätig: Drogenkartelle und ähnliche Dinge und ich hatte Bodygards, als ich in Kolumbien war, das heißt die Spannung ist vorhanden."

    Die kolumbianische Karibik wird von Walcott als Teil der karibischen Archipele identifiziert, allerdings mit einem leichten Befremden wie auf der Fahrt von Bogotá nach Cartagena de Indias:

    "Welcher Greifzirkel mass das irdische Paradies?
    Ich ging, ein schwankender Kompass, an ihnen und an
    Den Ständen mit Obst vorbei. Die alte Welt
    war mir bekannter. Scham über Vererbung.
    Drake. Nombre de Dios. Schullektüre.
    Die Dämmerung hämmerte goldene, neue Münzen
    aus alten Sagen. Doch die da erschoss man in Medellín,
    und die Tochter von der da, eine Schönheit,
    hielt man für anderthalb Jahre gefangen, noch immer
    stotterte die Familie das Lösegeld ab,
    und dann, das war vertrauter,
    auf der goldenen Strasse zur sagenumwobenen Stadt
    die Slums, die Hütten, ein verstopfter Fluss, El Dorados aus Müll,
    Sandwege und Kanus, die Pforten zum Paradies,
    Zur ummauerten Stadt; die war unser Rom.
    Unbewacht von Soldaten. Nicht fremde Küste, doch Heimat.
    Die Stacheln der Agave: Angst. Eine Angst vor Flaggen.
    Und was, wenn die Leiche daliegt, wie üblich gekrümmt
    in der gerinnenden Gosse, und der Umriss der blutigen Lache
    die Präzision einer Karte bekommt
    und die Reifen an der Straßenkurve noch qualmen
    nicht weit von der blutkranken Bougainvillea."

    Obwohl Walcotts Rückschau ährend einer Zugfahrt durch das herbstliche Pennsylvanien ihren Anfang nimmt, streift er die USA nur kurz und schweift sogleich gedanklich nach Europa ab zu den Romanciers und Dichtern des 19. Jahrhunderts, denen er sich weitaus mehr verpflichtet fühlt als den heutigen. In Anbetracht seiner exakten, vielschichtigen Bilder, seines am klassischen Versmass geschulten Gespürs für Klang und Rhythmus, den geradezu hymnischen Lobpreisungen der Natur, ist das die erfrischende Selbstironie eines jung gebliebenen Dichters, der auf Handwerk pocht, schwer zu blenden ist, die Welt unvoreingenommen erkundet und sich auf all seinen Reisen unbeirrt vom "unverseuchten Licht” der Karibik leiten lässt.


    Derek Walcott: Der verlorene Sohn
    Zweisprachige Ausgabe
    Deutsch von Daniel Göske
    Edition Lyrikkabinett
    Hanser, München 2007, 17,90 Euro