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Karl der Große
Ein Mann des Schwertes und der Religion

Vor 1200 Jahren, am 28. Januar 814, starb eine herausragende historische Person Europas: Karl der Große. "Gewalt und Glaube", so hat der Frankfurter Historiker Johannes Fried die aktuelle Biografie über den König und Kaiser des frühen Mittelalters überschrieben.

Von Otto Langels | 27.01.2014
    In seinem Buch über Karl den Großen formuliert der Autor Johannes Fried gleich im ersten Satz ein für Historiker erstaunliches Bekenntnis: Sein Werk sei subjektiv gefärbt, eine objektive Darstellung sei schlechterdings nicht möglich. Zwar habe er keinen Roman verfasst, aber seine Biografie sei dennoch Fiktion. Damit umreißt Fried, emeritierter Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt am Main, die dürftige Quellenlage zu Karl dem Großen.
    "Wenn wir auf seine Persönlichkeit, auf seine eigene Biografie achten, ist sie miserabel. Wenn wir auf bestimmte politische Handlungszüge achten, ist sie etwas besser, es reicht, um ein festes chronologisches Gerüst hinzukriegen. Wir wissen, dass er nacheinander vermutlich zehn Frauen hatte, wir wissen, dass er mehrere Kinder, legitime, illegitime Kinder hatte. Sonst wissen wir nicht viel mehr. Wir wissen, dass er ein Schwimmbad hatte in seiner Aachener Pfalz und gerne planschen ging mit seinem Hofgefolge."
    Trotz oder auch gerade wegen der wenigen Spuren, die Karl der Große in Annalen, Urkunden und zeitgenössischen Aufzeichnungen hinterlassen hat, ist Johannes Fried eine fulminante Biografie gelungen. Die Lücken im Leben des Frankenkönigs füllt er mit großer Erzählkunst, um vor uns das mittelalterliche Panorama des achten und neunten Jahrhunderts zu entfalten, meist mit dem Zusatzverbunden, so könnte es, so muss es aber nicht gewesen sein. Die Welt war ruhig, Zeit war nicht kostbar, abgehetzt war niemand, skizziert der Autor das damalige Lebensgefühl der Europäer. Weite Landstriche sahen auf Wochen oder Jahre hinaus keinen Menschen. Im Jahr 797 schickte Karl eine Gesandtschaft nach Bagdad. Die Antwort war drei Jahre unterwegs.
    "Es gibt Regionen, die sind relativ dicht besiedelt, also die Ile de France ist so dicht besiedelt im Prinzip wie heute auch, im Vergleich jedenfalls zur Gesamtbevölkerung. Und andere Regionen wie die großen Waldgebiete, die Ardennen, der Odenwald usw., das sind Gebiete, in denen man fast keinen Menschen trifft. Im Harz zum Beispiel, da lebte niemand. Und die Entfernungen mussten bewältigt werden durch Fuß beziehungsweise Pferd oder militärisch mit Ochsenkarren."
    Karl der Große war ein Kriegskönig wie alle frühmittelalterlichen Herrscher, aufgewachsen in einer Umwelt, in der militärische Gewalt selbstverständlich war und nicht als verwerflich galt. Bereits im Alter von 13 Jahren zog Karl zum ersten Mal in den Krieg. Jedes Königreich ruhte damals auf der Spitze des Schwertes, meint Johannes Fried.
    "Er hat 46 Jahre etwa regiert, und davon sind zwei Jahre ohne Krieg. Die Kriege dauern nicht wie zu unserer Zeit, es sind keine totalen Kriege, sondern es sind Kriege, die vielleicht ein Vierteljahr ins Land ziehen, schlimm genug für die Betroffenen, und auch für die Belasteten, die mussten zum großen Teil ihre Ausrüstung und ihre Versorgung selbst stellen."
    Zugleich aber war Karl der Große ein gottesfürchtiger Mensch. Und dies war kein Widerspruch. Die Kirche legitimierte seine Kriege, hatten die Eroberungen doch, neben der territorialen Erweiterung des fränkischen Reiches, noch ein höheres Ziel: die Verbreitung des christlichen Glaubens. Karl widmete sich intensiv der christlichen Erziehung des Volkes und der Organisation der Kirche. Bei aller Ausrichtung auf künftiges Heil und ewige Seligkeit war Karl der Große gleichwohl ein wissbegieriger, bildungshungriger Mensch, der als "weiser König" die gängigen Herrschaftsmuster seiner Zeit durchbrach. Er scharte Wissenschaftler und Geistliche um sich, machte die Klöster zu Zentren der Gelehrsamkeit, nahm Verbindungen zur gesamten, damals bekannten Welt auf.
    "Was er über seinen Hof, mit seinen Gelehrten ins Leben gesetzt hat und verwirklicht hat und die Nachwirkungen davon, die reichen bis heute: Das sind etwa die Schrift, die wir noch gebrauchen, das ist der Kalender, das ist die zentrale Organisation der römischen Kirche mit dem Papst an der Spitze, und das Allerwichtigste in meinen Augen ist die Art und Weise, wie wir logisch denken und deren Nachwirkung die Verwissenschaftlichung der europäischen Zivilisation darstellt."
    Wie aber lässt sich das Bild des weisen und gläubigen Herrschers mit anderen Charakterzügen vereinbaren, mit dem Umstand etwa, dass er vermutlich zwei seiner Neffen umbringen ließ, oder dass er, so Johannes Fried, eine "erfrischende Sinnlichkeit" an den Tag legte? Karl begehrte die Frauen, das kirchliche Eherecht kümmerte ihn nur wenig. Er erkor seine Frauen, wenn er "die Lüste der Liebe" suchte, und verstieß sie, wenn es die Umstände zuließen.
    "Er hatte fünf legitime Ehefrauen, die er nacheinander zu sich nahm, er hatte nach dem Tod der letzten vier Friedelfrauen, vier Mätressen, vermutlich nacheinander, aber nachweisen können wir das nicht. Alles andere entzieht sich uns, es kann sehr wohl sein, dass er neben den Ehen auch noch andere Frauen zu sich holte, aber das ist nicht bezeugt."
    Von der Biografie Johannes Frieds darf man nichts grundlegend Neues erwarten, aber der Autor setzt pointiert Akzente. Karl der Große erscheint als ein Mann des Schwertes und der Religion, des Glaubens und der Gier, der Macht und des Wissens. Das verleiht der Herrschergestalt menschliche Züge. Denn die historische Heroisierung als "Karolus Magnus", die um die Jahrtausendwende einsetzte, stilisierte den Frankenkönig zu einer entrückten Persönlichkeit. Viele beriefen sich später auf ihn, von Ludwig dem XIV. über Napoleon bis zu den Initiatoren des Aachener Karlspreises. Und manche, wie die Nazis, missbrauchten seinen Namen, um nationale Interessen zu proklamieren.
    Allen Versuchen, Karl den Großen für sich zu vereinnahmen, entzieht Johannes Fried auf eindrucksvolle Weise den Boden. Ihm gelingt geradezu die Quadratur des Kreises, indem er ein vielschichtiges Bild des Herrschers zeichnet und zugleich gegen Ende seines Buches bekennt, dass Karls Leben mit all seinen Widersprüchen uns letztlich verschlossen bleibt.
    Johannes Fried: "Karl der Große. Gewalt und Glaube"
    C.H.Beck Verlag, 736 Seiten, 29,95 Euro.